Urteil des BVerwG vom 20.02.2003

Politische Verfolgung, Organisation, Hauptsache, Eigenschaft

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 171.02
VGH 12 UE 2545/00.A
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Februar 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und H u n d
beschlossen:
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Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichts-
hofs vom 4. März 2002 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof
zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Haupt-
sache bleibt der Schlussentscheidung vorbehal-
ten. Die Entscheidung über die Kosten des Be-
schwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kos-
tenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Kläger rügt zu
Recht, dass das Berufungsgericht seinen Anspruch auf Gewährung
rechtlichen Gehörs verletzt hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO
i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO). Denn es hat
entscheidungserhebliches Vorbringen des Klägers nicht in der
gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts
ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das
Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in
Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen nicht jedes
Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu
bescheiden; nur wenn sich aus den besonderen Umständen des
Falles deutlich ergibt, dass ein Gericht seine Pflicht zur
Kenntnisnahme und Erwägung entscheidungserheblichen
Tatsachenstoffs verletzt hat, kann ein Verstoß gegen Art. 103
Abs. 1 GG im Einzelfall festgestellt werden (vgl. etwa BVerfGE
96, 205, 216 f., m.w.N.). So liegt der Fall hier.
Der Kläger hat im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom
28. Februar 2002 - die Beschwerde verweist auf einen gleich
lautenden Schriftsatz vom 1. März 2003 - auf einen (näher be-
zeichneten) in Kopie vorgelegten Zeitungsartikel Bezug genom-
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men. Aus diesem ergebe sich, dass es sich bei dem vom Kläger
trainierten Fußballverein "Serheldan" - was wörtlich mit "Auf-
stand" zu übersetzen sei - um eine der verbotenen PKK-Jugend-
organisationen YCK nahe stehende, möglicherweise auch von der
YCK gesteuerte Organisation handele. U.a. der Umstand, dass
die Fußballturniere, über die berichtet werde, "zum Gedenken
der Mai-Märtyrer" durchgeführt würden, lasse die prokurdische
und PKK-nahe Ausrichtung der Veranstaltung und der teilnehmen-
den Vereine erkennen. Wenn ein kurdischer Fußballverein, der
sich Serheldan nenne, in kurdischen Farben und in Trikots, auf
denen die graphische Darstellung eines Sterns mit einem Buch
und einer Schusswaffe zu sehen sei, antrete und zum Gedenken
an die Mai-Märtyrer spiele, dann reihten sich die Sportler mit
ihrem Tun "erkennbar und in herausgehobener Position in die
von der PKK geführte Front des kurdischen Freiheitskampfes
ein".
Das Berufungsgericht hat den erwähnten Schriftsatz weder im
Tatbestand noch in den Gründen des Berufungsurteils (vgl. na-
mentlich die Tatsachen- und Beweiswürdigung, UA S. 77)
erwähnt. Es hat zwar dargelegt, auch wenn die vom Kläger in
seiner Eigenschaft als Jugendtrainer oder -betreuer von ihm
besuchten Fußballturniere im Fernsehsender Med-TV übertragen
worden seien, sei aufgrund der nach Angaben des Klägers
jeweils größeren Zahl der im Bild sichtbaren Personen kaum
auszumachen, dass gerade er außerordentlich hervorgetreten und
aufgefallen sei. Hieraus ergibt sich, dass das
Berufungsgericht den Vortrag des Klägers im Anhörungstermin
vor der (früheren) Berichterstatterin am 11. Oktober 2001
berücksichtigt hat. Das Berufungsgericht hat aber den
Schriftsatz des Klägers vom 28. Februar/
1. März 2002 nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in
Erwägung gezogen. So hat das Berufungsgericht ausgeführt (UA
S. 77), der Kläger schließe aus, dass es sich bei der
"Jugendunion Kurdistan" um eine verbotene Organisation
handelt, ohne zu berücksichtigen, dass der Kläger in dem
genannten Schriftsatz - anders als noch im Anhörungstermin vom
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11. Oktober 2001 - dargelegt hat, die in Rede stehende
Jugendunion (YCK) sei verboten worden. Unabhängig davon, ob
ein Verbot der "Jugendunion Kurdistan" in Deutschland - in
diesem Sinne ist der Vortrag des Klägers zu verstehen -
entscheidungserheblich wäre, kann aufgrund der weiteren im
Schriftsatz vom 28. Februar/1. März 2002 dargelegten Umstände
nicht ausgeschlossen werden, dass dem Kläger im Falle einer
Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
politische Verfolgung droht.
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von
der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6
VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das Berufungs-
gericht wird zu prüfen und zu entscheiden haben, ob das in
Rede stehende Vorbringen des Klägers zu einer anderen
rechtlichen Beurteilung des Falles führt.
Unter diesen Umständen bedarf die vom Kläger weiterhin
erhobene - offensichtlich nicht den gesetzlichen
Darlegungsanforderungen entsprechende - Grundsatzrüge nicht
der Erörterung.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Hund