Urteil des BVerwG vom 30.01.2003

Rechtliches Gehör, Rüge, Kosovo, Hauptsache

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BESCHLUSS
BVerwG 1 B 169.02
OVG 8 LB 7/02
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Januar 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r , den Richter am Bundes-
verwaltungsgericht R i c h t e r und die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht B e c k
beschlossen:
Auf die Beschwerde des Klägers zu 1 wird der
Beschluss des Niedersächsischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 7. März 2002 aufgehoben, so-
weit es hinsichtlich des Klägers zu 1 ein Ab-
schiebungshindernis zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
verneint hat.
Die Sache wird insoweit zur anderweitigen Ver-
handlung und Entscheidung an das Oberverwal-
tungsgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen werden die Beschwerde des Klägers
zu 1 und die Beschwerden der Kläger zu 3 bis 11
verworfen.
Die Kläger zu 3 bis 11 tragen 9/10, der Kläger
zu 1 trägt 1/12 der Kosten des Beschwerdever-
fahrens. Im Übrigen bleibt die Kostenentschei-
dung in der Hauptsache der Schlussentscheidung
vorbehalten. Die Entscheidung über die restli-
chen Kosten des Beschwerdeverfahrens (1/60)
folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in
der Hauptsache.
G r ü n d e :
1. Die Beschwerde ist hinsichtlich der Rüge, dass das Beru-
fungsgericht bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 53
Abs. 6 Satz 1 AuslG bei dem Kläger zu 1 entscheidungserhebli-
ches Vorbringen nicht berücksichtigt hat, zulässig und begrün-
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det. Der Kläger zu 1 rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht
seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG und § 108
Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 VwGO).
Der Kläger zu 1 hat eine psychische Erkrankung geltend ge-
macht, die wegen fehlender Behandlungsmöglichkeit im Kosovo zu
den in § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG genannten Gefahren für Leib
und Leben führen könne. Dieses Vorbringen ist entscheidungser-
heblich. Dennoch ist das Berufungsgericht in seiner Entschei-
dung weder im Tatbestand noch in den Gründen hierauf eingegan-
gen. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass der
entsprechende Vortrag des Klägers zu 1 vom Berufungsgericht
nicht in Erwägung gezogen wurde. Dies liegt umso näher, als
sich das Berufungsgericht mit dem Vortrag zu den Krankheiten
der Kinder des Klägers zu 1, nämlich der Kläger zu 3 bis 11
sowie deren möglicher psychologischer Betreuung im Kosovo im
Einzelnen auseinander gesetzt hat. Der Umstand, dass der Vor-
sitzende bzw. Berichterstatter sich im Laufe des Berufungsver-
fahrens in den Verfügungen vom 15. Mai und 10. August 2001 mit
diesem Vorbringen befasst hat, enthebt das Gericht nicht der
Verpflichtung, in den Entscheidungsgründen auf dieses erhebli-
che Vorbringen einzugehen.
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von
der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit insoweit gemäß
§ 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
2. Die Beschwerde war im Übrigen zu verwerfen. In der Be-
schwerdebegründung wird nicht in der nach § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO erforderlichen Weise ein (weiterer) Zulassungsgrund im
Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dargelegt bzw. bezeichnet.
a) Die Beschwerde macht geltend, das Berufungsgericht habe zu
Unrecht über die Berufung durch Beschluss nach § 130 a VwGO
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entschieden. Es habe nicht beachtet, dass es von einer Ent-
scheidung durch Beschluss im vorliegenden Verfahren habe abse-
hen müssen, nachdem das Verwaltungsgericht verfahrensfehler-
haft die Teilnahme der Kläger an einer mündlichen Verhandlung
versagt habe. Das Berufungsgericht habe in seinem Zulassungs-
beschluss vom 29. Januar 1998 die Gehörsverletzung ausdrück-
lich bestätigt. Damit sei den Klägern in beiden Instanzen die
gebotene mündliche Verhandlung vorenthalten worden.
Mit diesem Vorbringen wird der behauptete Verfahrensverstoß
nicht schlüssig dargetan. Denn Voraussetzung einer begründeten
Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs ist die (erfolglose)
Ausschöpfung sämtlicher verfahrensrechtlich eröffneten und
nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten, sich rechtliches
Gehör zu verschaffen (stRspr; vgl. u.a. BVerfGE 74, 220 <225>,
BVerwG, Beschlüsse vom 7. April 1999 - BVerwG 9 B 999.98 -
Buchholz 11 Art. 103 Abs. 1 GG Nr. 55 und vom 21. Januar 1997
- BVerwG 8 B 2.97 - Buchholz 310 § 102 VwGO Nr. 21; Urteil vom
3. Juli 1992 - BVerwG 8 C 58.90 - Buchholz 310 § 108 VwGO
Nr. 248). Das gilt namentlich dann, wenn Verfahrensvorschrif-
ten verletzt werden, deren Haupt- oder Nebenzweck gerade darin
besteht, entsprechend dem verfassungsrechtlichen Gebot des
Art. 103 Abs. 1 GG den Beteiligten die Gewährung rechtlichen
Gehörs zu gewährleisten. Auch ein solcher Verfahrensverstoß
rechtfertigt nur dann die Rüge der Versagung rechtlichen Ge-
hörs, wenn es der betroffenen Partei oder ihrem Prozessbevoll-
mächtigten nicht möglich war, sich mit den Mitteln des Pro-
zessrechts rechtliches Gehör zu verschaffen. Eine Partei, die
von einer ihr insoweit eingeräumten Möglichkeit keinen
Gebrauch gemacht hat, kann sich später nicht darauf berufen,
ihr sei das rechtliche Gehör versagt worden (stRspr; vgl. Be-
schluss vom 21. Januar 1997, a.a.O., m.w.N.). So verhält es
sich hier.
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Die Kläger wurden mit der Anhörungsmitteilung vom 19. Februar
2002 auf die Absicht des Berufungsgerichts hingewiesen, über
die Berufung nach § 130 a VwGO durch Beschluss zu entscheiden.
Die anwaltlich vertretenen Kläger hatten insoweit Gelegenheit
vorzutragen, warum ihrer Auffassung nach eine Entscheidung oh-
ne mündliche Verhandlung nicht ergehen darf. Die Beschwerde
hat nicht dargelegt, ob und wie sie nach der Anhörungsmittei-
lung dem behaupteten Anspruch auf eine mündliche Verhandlung
Geltung verschafft hat.
Dem Berufungsgericht musste sich im Übrigen die Notwendigkeit
einer mündlichen Verhandlung nicht schon wegen des Grundes für
die Berufungszulassung aufdrängen. Denn ausweislich des Wort-
lauts des Beschlusses vom 29. Januar 1998, mit dem die Beru-
fung zugelassen wurde, hat es den erstinstanzlichen Gehörsver-
stoß hinsichtlich des Klägers zu 1 lediglich damit begründet,
dass diesem keine Gelegenheit gegeben worden war, den Umfang
seiner exilpolitischen Tätigkeit darzulegen; angesichts der
zwischenzeitlich eingetretenen Änderung der politischen Lage
im Kosovo, auf die die Kläger mit Verfügung vom 15. Mai 2001
hingewiesen worden waren, konnte die Notwendigkeit einer ent-
sprechenden mündlichen Äußerungsmöglichkeit des Klägers zu 1
als überholt angesehen werden.
b) Soweit die Beschwerde außerdem rügt, das Berufungsgericht
habe schon deshalb nicht durch Beschluss nach § 130 a VwGO
entscheiden dürfen, weil "sich der Streitgegenstand in Bezug
auf Abschiebungshindernisse i.S. des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
insoweit wesentlich geändert (habe), als erstmalig im Beru-
fungsverfahren individuell-konkrete Gefahren in Gestalt von
psychischen und organischen Krankheitsbildern geltend gemacht
wurden", legt sie den behaupteten Verfahrensfehler ebenfalls
nicht in der nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlichen Wei-
se dar. Im Hinblick darauf, dass bereits das Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in seinem Bescheid vom
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4. August 1994 Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG ver-
neint und das Verwaltungsgericht die Klage auch hinsichtlich
§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zurückgewiesen hat, hat sich der
durch die Anspruchsgrundlage bestimmte Streitgegenstand nicht
verändert. Darauf, ob in der Berufungsinstanz ein veränderter
Lebenssachverhalt vorgetragen wurde, kommt es entgegen der
Auffassung der Beschwerde nicht an. Der von der Beschwerde in-
soweit zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
vom 10. September 1998 (BVerwG 8 B 102.98 - NVwZ 1999, 1000
= Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 40) ist lediglich zu entnehmen,
dass nicht im Wege des beschleunigten Verfahrens nach § 130 a
VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden darf, wenn
sich im Berufungsverfahren der Streitgegenstand durch eine
mittels Anschlussberufung erfolgte Klageänderung wesentlich
geändert hat. Ein solcher Fall liegt hier indes nicht vor.
3. Soweit über die Kosten entschieden wurde, beruht dies auf
§ 154 Abs. 2, § 159 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b
Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich
aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer Richter Beck