Urteil des BVerwG vom 21.11.2006

Unrichtigkeit, Überzeugung, Klagebegehren, Fristversäumnis

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 162.06
VGH 23 B 06.30245
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. November 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
beschlossen:
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Baye-
rischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Juli 2006, soweit
es die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von
Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
betrifft, aufgehoben und der Rechtsstreit insoweit zur er-
neuten Verhandlung und Entscheidung an den Verwal-
tungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt insoweit der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der
Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist zulässig.
Durch die am 10. August 2006 eingegangene Beschwerdeschrift und die am
14. September 2006 eingegangene Beschwerdebegründung sind sowohl die
Beschwerdefrist als auch die Begründungsfrist (§ 133 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3
Satz 1 VwGO) gewahrt worden. Obwohl das Empfangsbekenntnis der Pro-
zessbevollmächtigten des Klägers als Tag des Empfangs des Berufungsurteils
den 13. Juli 2006 ausweist, geht der Senat davon aus, dass das Berufungsur-
teil der Prozessbevollmächtigten des Klägers tatsächlich erst am 14. Juli 2006
zugegangen ist und die Fristen damit erst an diesem Tag in Lauf gesetzt wor-
den sind. Das ausgefüllte Empfangsbekenntnis erbringt zwar grundsätzlich den
vollen Beweis dafür, dass das Schriftstück an dem vom Empfänger angegebe-
nen Tag tatsächlich zugestellt wurde (§ 56 Abs. 2 VwGO, §§ 174 und 418
Abs. 1 ZPO). Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des Datums ist aber zulässig
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(§ 418 Abs. 2 ZPO). Er ist allerdings nicht schon dann erbracht, wenn lediglich
die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, sondern erst dann, wenn die Unrich-
tigkeit zur vollen Überzeugung des Gerichts feststeht (vgl. etwa Beschluss vom
15. Februar 2001 - BVerwG 6 BN 1.01 - Buchholz 340 § 5 VwZG Nr. 19
m.w.N., ebenso BFH, Beschluss vom 23. Februar 2006 - IX B 206.05 -
und BSG, Beschluss vom 16. November 2005 - B 2 U 342.04 B - je-
weils m.w.N., vgl. hierzu auch Anmerkung von Keller in jurisPR-SozR 4/2006
Anm. 6). Dies ist hier der Fall. Aus dem Vortrag der Prozessbevollmächtigten
des Klägers und den von ihr zum Nachweis vorgelegten Unterlagen (eides-
stattliche Versicherung der Rechtsanwaltsfachangestellten M., die mit dem
Eingangsstempel vom 14. Juli 2006 versehenen Auszüge aus den Rechtsan-
waltshandakten zu dem Verfahren des Klägers und zu zwei zeitlich parallel
gelagerten Verfahren vor demselben Berufungssenat sowie die hier vorliegen-
den Gerichtsakten in diesen Fällen ) ergibt sich
zur Überzeugung des Senats, dass in dem Empfangsbekenntnis - versehent-
lich - das falsche Datum eingetragen worden ist und das Berufungsurteil auch
im vorliegenden Verfahren tatsächlich erst am 14. Juli 2006 zugestellt worden
ist. Der vorsorglich gestellte Wiedereinsetzungsantrag ist mangels Fristver-
säumnis gegenstandslos.
Die Beschwerde ist auch begründet. Sie rügt zu Recht als Verfahrensmangel
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), dass das Berufungsgericht über den Hilfsantrag
des Klägers, die Beklagte zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach
§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu verpflichten, nicht entschieden hat.
Das Berufungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, der Rechtsstreit sei
insoweit noch in der ersten Instanz anhängig und nicht zum Gegenstand des
Berufungsverfahrens geworden (UA S. 4, 11). Das Berufungsgericht hätte, da
es abweichend vom Verwaltungsgericht den Hauptantrag auf Aufhebung der
Widerrufsentscheidung (Nr. 1 des Bescheids der Beklagten vom 7. November
2005 - im Folgenden: Bescheid) und der negativen Feststellung zum Vorliegen
der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2 des Bescheids) abge-
wiesen hat, über den Hilfsantrag (Verpflichtung zur Feststellung von Abschie-
bungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG unter Aufhebung der negati-
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ven Feststellung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Nr. 3 des Bescheids) ent-
scheiden müssen. Das Unterlassen der begehrten Entscheidung über den
Hilfsantrag verletzt den Anspruch des Klägers auf vollständige Entscheidung
über sein Klagebegehren aus § 88 i.V.m. § 125 Abs. 1 VwGO.
Der Kläger hatte in der ersten Instanz neben dem Hauptantrag auf Aufhebung
des Widerrufs der Beklagten (Nr. 1 des Bescheids) und der negativen Feststel-
lung zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2 des
Bescheids) den Hilfsantrag gestellt, die Beklagte zur Feststellung von Ab-
schiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu verpflichten. Da das
Verwaltungsgericht dem Hauptantrag des Klägers stattgegeben hat, hat es
folgerichtig über den Hilfsantrag nicht entschieden. Durch die auf den Antrag
der Beklagten vom Berufungsgericht zugelassene Berufung ist das Klagebe-
gehren jedoch einschließlich des Hilfsantrags betreffend die Abschiebungsver-
bote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in der Berufungsinstanz angefallen. Dass
ein Hilfsantrag, über den die Vorinstanz nicht zu entscheiden brauchte, weil sie
dem Hauptantrag entsprochen hat, durch das Rechtsmittel der Gegenseite
gegen die Verurteilung nach dem Hauptantrag ebenfalls in der Rechts-
mittelinstanz anfällt, ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt (vgl. Ur-
teil vom 15. April 1997 - BVerwG 9 C 19.96 - BVerwGE 104, 260; Beschluss
vom 20. September 2004 - BVerwG 1 B 27.04 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG
Nr. 81 m.w.N.).
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglich-
keit Gebrauch, den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§
133 Abs. 6 VwGO), damit die Entscheidung über den Hilfsantrag nachgeholt
wird. Insoweit wird das angefochtene Urteil aufgehoben. Hingegen ist die von
der Beschwerde nicht angegriffene Entscheidung über den Hauptantrag - be-
treffend Nr. 1 und 2 des Bescheids - rechtskräftig geworden.
Eckert-Höfer Beck Prof. Dr. Dörig
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