Urteil des BVerwG vom 30.10.2006

Richteramt, Aufklärungspflicht, Hund, Hauptsache

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 156.06 (1 C 39.06)
OVG 16 A 4348/05.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Oktober 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann und Hund
beschlossen:
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nord-
rhein-Westfalen über die Nichtzulassung der Revision ge-
gen sein Urteil vom 11. Juli 2006 wird aufgehoben, soweit
sie sich auf das Anfechtungsbegehren gegen den Wider-
ruf der Anerkennung als politischer Flüchtling im Bescheid
vom 31. August 2005 bezieht. Insoweit wird die Revision
zugelassen.
Im Übrigen wird die Beschwerde des Klägers zurückge-
wiesen.
Der Kläger trägt ein Sechstel der Kosten des Beschwer-
deverfahrens. Die Entscheidung über die restlichen Kos-
ten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentschei-
dung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
1. Die Beschwerde des Klägers ist begründet, soweit sie sich auf das Anfech-
tungsbegehren gegen den Widerrufsbescheid des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 31. August 2005 (Widerruf der Feststellun-
gen nach § 51 Abs. 1 AuslG in Nr. 1, Verneinung der Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 AufenthG in Nr. 2 und negative Feststellung zu den Abschiebungs-
verboten des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Nr. 3 des Bescheides) richtet. In-
soweit ist die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Sie kann dem Bundesverwaltungsge-
richt Gelegenheit zur Klärung der Frage geben, ob § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG
auf Widerrufsbescheide des Bundesamtes anwendbar ist, die nach dem
1. Januar 2005 ergangen sind, sich aber auf einen Anerkennungsbescheid (hier
nach § 51 Abs. 1 AuslG) aus der Zeit vor dem 1. Januar 2005 beziehen.
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Auf die weiteren insoweit erhobenen Revisionszulassungsrügen (Beschwerde-
begründung unter II. - IV. und VI.) kommt es danach nicht an.
2. Im Übrigen - hinsichtlich des vom Berufungsgericht ebenfalls negativ be-
schiedenen Hilfsbegehrens auf Verpflichtung der Beklagten zur positiven Fest-
stellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG - kann die Be-
schwerde keinen Erfolg haben. Mit der Zurückweisung der Beschwerde ist das
Berufungsurteil deshalb insoweit rechtskräftig, als es eine Verpflichtung der
Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5
und 7 AufenthG verneint hat. Die Rechtskraft ist allerdings auflösend bedingt
durch den Erfolg des Klägers mit seinem noch nicht rechtskräftig beschiedenen
Hauptantrag.
Die Beschwerde rügt im Rahmen ihres Hilfsbegehrens auf Feststellung eines
Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG einen Verfahrensverstoß (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) in Gestalt
einer Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Sie macht geltend,
dem Berufungsgericht hätte es sich aufdrängen müssen, dass der bedrohungs-
relevante Sachverhalt nach Art, Umfang und Dichte der Bedrohung für die be-
troffenen Einwohner weiter hätte aufgeklärt werden müssen. Damit und mit ih-
rem weiteren Vorbringen zeigt sie eine Verletzung der Aufklärungspflicht nicht
den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend auf. Sie
macht insbesondere nicht ersichtlich, hinsichtlich welcher konkreten tatsächli-
chen Umstände ein weiterer Aufklärungsbedarf bestanden haben soll, welche
Beweismittel insoweit in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen
Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung
voraussichtlich getroffen worden wären.
Ohne Erfolg macht die Beschwerde darüber hinaus die grundsätzliche Bedeu-
tung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend. Sie wirft die Frage
auf (Beschwerdebegründung unter VII., S. 22 f.), „ob bei Widerrufsentschei-
dungen gegen anerkannte Flüchtlinge bei der Frage der Prüfung von Abschie-
bungshindernissen nach § 60 AufenthG eine erneute Verfolgung (gemeint wohl:
im Fall erneuter Verfolgung) der erhöhte Wahrscheinlichkeitsmaßstab
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erforderlich ist, wie es das OVG NRW in dem angefochtenen Urteil auf Blatt 22
annimmt, oder ob der verminderte Wahrscheinlichkeitsmaßstab ausreichend
ist“, ohne - wie erforderlich - die Klärungsfähigkeit und Klärungsbedürftigkeit
dieser - offenbar auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezogenen (vgl. die Anknüp-
fung an UA S. 22) - Frage schlüssig darzulegen. Abgesehen davon, dass der
zitierte Satz missverständlich ist, zeigt die Beschwerde namentlich nicht auf,
inwiefern es insoweit auf eine „erneute Verfolgung“ ankommen soll (vgl. auch
Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330>).
Ebenfalls ohne Erfolg wirft die Beschwerde die Frage auf, ob - mit dem Beru-
fungsgericht - Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung des
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG deswegen verneint werden kann, weil der in Rede
stehende Personenkreis nach der nordrhein-westfälischen Erlasslage in einer
den Anforderungen des § 60a Abs. 1 AufenthG entsprechenden Weise vor der
Abschiebung geschützt ist (vgl. UA S. 22 f.). Die Beschwerde legt insoweit nicht
dar, inwiefern die aufgeworfene Frage in einem Revisionsverfahren entschei-
dungserheblich wäre. Sie berücksichtigt nicht, dass das Berufungsgericht auch
aus anderen - selbstständig tragenden - Gründen einen Anspruch des Klägers
auf Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Ausle-
gung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint hat (vgl. UA S. 20 ff.). Ist ein
Berufungsurteil auf mehrere selbstständig tragende Gründe gestützt, kann der
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nach ständiger Rechtspre-
chung nur entsprochen werden, wenn hinsichtlich jedes dieser Gründe ein Re-
visionszulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt. Daran fehlt es hier.
3. Soweit die Beschwerde zurückgewiesen wird, trägt der Kläger gemäß § 154
Abs. 2 VwGO die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden
gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30
RVG. Im Übrigen - hinsichtlich der noch offenen Entscheidung über das An-
fechtungsbegehren des Klägers gegen den Widerrufsbescheid, auf das fünf
Sechstel der Kosten des Beschwerdeverfahrens entfallen - folgt die Entschei-
dung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens der Kostenentscheidung in
der Hauptsache.
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Rechtsmittelbelehrung
Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen
BVerwG 1 C 39.06 fortgesetzt; der Einlegung einer Revision durch den Be-
schwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu
begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simson-
platz 1, 04107 Leipzig, schriftlich oder in elektronischer Form (Verordnung vom
26. November 2004, BGBl I S. 3091) einzureichen.
Für den Revisionskläger besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Be-
gründung der Revision. Der Revisionskläger muss sich durch einen Rechtsan-
walt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des
Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtig-
ten vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behör-
den können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum
Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften
ferner durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zu-
ständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes
des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. In derselben
Weise muss sich jeder Beteiligte vertreten lassen, soweit er einen Antrag stellt.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Hund