Urteil des BVerwG vom 28.06.2006

Politische Verfolgung, Widerruf, Irak, Ausreise

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 134.05 (1 PKH 35.05)
VGH 23 B 05.30596
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Juni 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
beschlossen:
Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren Prozess-
kostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt …, 90489 Nürn-
berg, beigeordnet.
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
12. Oktober 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache
bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdever-
fahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der
Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor
(§ 166 VwGO, §§ 114 ff. ZPO).
Die zulässige Beschwerde des Klägers hat mit der von ihm erhobenen Verfah-
rensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 138
Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) Erfolg. Im Interesse der Verfahrensbeschleu-
nigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß
§ 133 Abs. 6 VwGO an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.
1. Die von der Beschwerde erhobenen Grundsatzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO) greifen allerdings nicht durch. Die als grundsätzlich bedeutsam aufge-
worfenen Fragen zur Auslegung von § 73 Abs. 1 Satz 1 und 3 sowie Abs. 2a
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AsylVfG sind, soweit sie sich aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des
Verwaltungsgerichtshofs in einem Revisionsverfahren überhaupt stellen wür-
den, durch das Grundsatzurteil des Senats vom 1. November 2005 (BVerwG
1 C 21.04 - DVBl 2006, 511, zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen) be-
reits rechtsgrundsätzlich geklärt. Wegen der Einzelheiten wird, um Wiederho-
lungen zu vermeiden, insoweit auf den Beschluss des Senats vom heutigen
Tage in der Sache BVerwG 1 B 136.05 verwiesen, der sich mit gleichlautenden
Grundsatzrügen des Prozessbevollmächtigten des Klägers im dortigen Verfah-
ren befasst.
2. Dagegen greift die von der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge der Ver-
letzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch.
Die Beklagte bemängelt zu Recht, dass das Berufungsgericht in den Entschei-
dungsgründen nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Absehen
von dem Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG eingegangen ist (Be-
schwerdebegründung S. 2). Zwar gibt der Verwaltungsgerichtshof im Tatbe-
stand des Urteils wieder, dass der Kläger sich bereits im Widerrufsverfahren
u.a. auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe im Sinne des
§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG berufen habe, weil er als kaldäischer Christ nach
den religiös motivierten Übergriffen auf Christen im Sommer 2004 bei einer
Rückkehr in den Irak besonders gefährdet sei (UA S. 3). Dort wird auch
angeführt, dass das Verwaltungsgericht den angegriffenen Widerrufsbescheid
des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt Bun-
desamt für Migration und Flüchtlinge) im Wesentlichen mit der Begründung
aufgehoben habe, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73
Abs. 1 Satz 1 und 3 AsylVfG nicht gegeben seien, weil für ihn die erhöhte Ge-
fahr bestehe, Opfer terroristischer Anschläge radikaler fundamentalistischer
Moslems zu werden (UA S. 3 f.). Der Verwaltungsgerichtshof gibt auch bei Dar-
stellung der rechtlichen Grundlagen in den Entscheidungsgründen den Wortlaut
dieser Ausschlussbestimmung wieder (UA S. 6), geht aber im Verlauf der wei-
teren Urteilsgründe weder ausdrücklich noch sinngemäß auf deren Vorausset-
zungen ein. Er prüft vielmehr lediglich das Vorliegen der Widerrufsvorausset-
zungen nach §§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, stellt den Wegfall der Vorausset-
zungen für die Flüchtlingsanerkennung (politische Verfolgung wegen Asylan-
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tragstellung und illegaler Ausreise) fest und verneint das Vorliegen einer Grup-
penverfolgung der Christen im Irak gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c Auf-
enthG. Die vermisste Erörterung des Ausschlusstatbestandes des § 73 Abs. 1
Satz 3 AsylVfG war vorliegend auch nicht entbehrlich. Sie war hier schon des-
halb erforderlich, weil das Verwaltungsgericht sein stattgebendes Urteil maß-
geblich auch auf diese Vorschrift gestützt hat und der Kläger selbst sich sowohl
im Verwaltungsverfahren als auch im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichts-
hof (durch Bezugnahme auf das Urteil des Verwaltungsgerichts im Schriftsatz
vom 7. September 2005 am Ende) darauf berufen hat. Es kommt hinzu, dass
ausweislich des Tatbestands des Berufungsurteils der Kläger zur Begründung
seines Asylantrags seinerzeit als Fluchtgrund angegeben hat, wegen des Ver-
kaufs alkoholischer Getränke als Christ von Schiiten angegriffen und bedroht
worden zu sein. Auch wenn die Flüchtlingsanerkennung „nur“ auf eine Verfol-
gung wegen illegaler Ausreise und längerem Auslandsaufenthalt gestützt war,
hätte der Verwaltungsgerichtshof mithin angesichts der besonderen Umstände
des vorliegenden Falles nicht auf Ausführungen dazu verzichten dürfen, ob der
Kläger sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe beru-
fen kann, um die Rückkehr in den Irak abzulehnen. Er ist damit seiner Pflicht
nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht nachgekommen, in dem Urteil die Grün-
de anzugeben, welche für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.
Aus den Gründen der Entscheidung lässt sich nicht - wie erforderlich - für die
Beteiligten und das Rechtsmittelgericht nachvollziehbar entnehmen, warum das
Gericht die Voraussetzungen dieses Ausschlussgrundes für einen Widerruf
verneint hat. Darin liegt neben dem formellen Begründungsmangel zugleich
auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers, die zur Zurückver-
weisung der Sache an den Verwaltungsgerichtshof führt.
Für das erneute Berufungsverfahren weist der Senat zur Auslegung des § 73
Abs. 1 Satz 3 AsylVfG auf das zitierte Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. hin.
Eckertz-Höfer Beck Prof. Dr. Dörig
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