Urteil des BVerwG vom 20.08.2009

Ausweisung, Befristung, Öffentliche Sicherheit, Abschiebung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 13.09
OVG 11 LB 232/07
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. August 2009
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 26. Februar 2009 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerde-
verfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Der 1971 geborene Kläger und Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöri-
ger, der sich seit 1982 auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Er
erhielt 1988 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und 1990 eine Aufenthaltsbe-
rechtigung. Nach einer Reihe von Straftaten und Verurteilungen - zuletzt wegen
Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren - wurde er mit Bescheid vom
8. Juni 2004 ausgewiesen. Aus der Haft wurde er Anfang 2007 auf Bewährung
entlassen. Seine Klage gegen die Ausweisung blieb beim Berufungsgericht ohne
Erfolg, nachdem ihr erstinstanzlich stattgegeben worden war.
II
Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat
keinen Erfolg. Sie ist zum Teil schon nicht zulässig, weil sie nicht den Darlegungs-
anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt, zum Teil ist sie unbegrün-
det.
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1. Die Beschwerde hält die Frage für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig (§ 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO), „ob bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Aus-
weisung deren Befristung mit zu überprüfen ist“ (Schriftsatz vom 27. April 2009).
Sie beruft sich auf Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte sowie des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts, wonach in
Fällen, in denen der Schutzbereich des Art. 8 EMRK oder von Art. 6 Abs. 1 und 2
GG berührt ist, die Möglichkeit der Befristung von der Ausländerbehörde im Rah-
men der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung mit zu prüfen ist. Eine solche Prü-
fung sei auch im vorliegenden Fall zur Ermöglichung des Zusammenlebens des
Klägers mit seinem neugeborenen Kind geboten gewesen. Demgegenüber habe
das Oberverwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil eine solche Überprüfung
als entbehrlich angesehen. Daher bestehe rechtlicher Klärungsbedarf.
Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde eine grundsätzlich klärungsbedürfti-
ge Rechtsfrage, die in dem angestrebten Revisionsverfahren verallgemeinerungs-
fähig beantwortet werden könnte, nicht auf. Nimmt man die von ihr formulierte
Frage wörtlich und bezieht sie nur auf die Pflicht zur Prüfung einer Befristung be-
reits im Rahmen des Ausweisungsverfahrens, wäre sie ohne weiteres zu bejahen.
Denn in der Rechtsprechung des Senats ist anerkannt, dass es Fälle geben kann,
in denen es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf Art. 6 GG und
Art. 8 EMRK gebietet, die Wirkung der Ausweisung schon im Zeitpunkt ihres Er-
lasses zu befristen (vgl. Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - BVerw-
GE 121, 315 < 324>). Dies setzt notwendig die Prüfung voraus, ob im Einzelfall
derartige Voraussetzungen vorliegen. Diese Prüfung hat das Berufungsgericht der
Sache nach im Übrigen auch vorgenommen, indem es bei Abwägung der schutz-
würdigen Belange des Klägers mit dem öffentlichen Interesse am Schutz der All-
gemeinheit eine spätere Befristung für ausreichend angesehen hat (UA S. 17 f).
Versteht man die Frage weitergehend dahin, dass geklärt werden soll, unter wel-
chen Voraussetzungen eine Ausweisung nur mit gleichzeitiger Befristung ihrer
Wirkungen verfügt werden darf, legt die Beschwerde nicht dar, dass sich diese
Frage anhand des Falles des Klägers verallgemeinerungsfähig beantworten lässt
und damit eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Allein der Um-
stand, dass der Kläger Vater eines neugeborenen Kindes seiner deutschen Ver-
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lobten ist, reicht für sich allein nicht aus, um einen Anspruch auf Befristung zu-
sammen mit der Ausweisung zu begründen. Es hängt vielmehr von den gesamten
Umständen des Einzelfalles, insbesondere dem Ausmaß der vom Ausländer aus-
gehenden Gefahr, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Ge-
fahr und den schutzwürdigen Belangen des Ausländers und seiner Angehörigen,
ab, ob eine Befristung schon bei der Ausweisung von Amts wegen geboten ist
oder eine Befristung auf Antrag nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausreicht. Dies
ist eine Frage des Einzelfalles, die die Zulassung einer Grundsatzrevision nicht
rechtfertigt.
2. Die Beschwerde rügt weiter eine Divergenz der angefochtenen Entscheidung
von „höchstrichterlicher Rechtsprechung“ (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Sie beruft
sich darauf, dass nach einer nicht näher bezeichneten Fundstelle aus der höchst-
richterlichen Rechtsprechung, bei der es sich soweit ersichtlich um ein Zitat aus
dem Urteil des Senats vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - (BVerwGE 121,
297 <314 f.>) handelt, die Befristung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit einer
Ausweisung zu prüfen sei und die angefochtene Entscheidung des Berufungsge-
richts hiervon abweiche (Schriftsatz vom 5. Mai 2009).
Damit ist eine Divergenz nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO entsprechend aufgezeigt. Denn abgesehen von der fehlenden ge-
nauen Bezeichnung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts handelt es
sich bei dem angeführten Satz aus dem Urteil des Senats vom 3. August 2004
a.a.O. S. 314 zu Punkt 3 nicht um einen divergenzfähigen entscheidungstragen-
den Rechtssatz, weil die Ausführungen im Rahmen der Hinweise an das Tatsa-
chengericht für die Behandlung des Falles nach der Zurückverweisung enthalten
sind. Im Übrigen fehlt es auch an einer Bezeichnung eines bestimmten hiervon
abweichenden Rechtssatzes aus der berufungsgerichtlichen Entscheidung.
Unabhängig davon bemerkt der Senat allerdings, dass die Auffassung des Beru-
fungsgerichts, wonach eine Befristungsentscheidung „in der Regel“ der Auswei-
sung nachfolgt (UA S. 19), sich weder der vom Berufungsgericht hierfür angege-
benen Entscheidung des Senats vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 -
(BVerwGE 130, 20) noch der oben zu 1. angeführten Rechtsprechung des Senats
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entnehmen lässt. Vielmehr ist nach dieser Rechtsprechung die Frage, ob die
Ausweisung von vornherein oder erst nachträglich zu befristen ist, eine Frage des
Einzelfalles, die von einer Gesamtwürdigung der Umstände unter Berücksichti-
gung der oben zu 1. aufgezeigten Gesichtspunkte abhängt. Da das Berufungsge-
richt, wie oben zu 1. dargelegt, im Rahmen seiner Prüfung der Verhältnismäßig-
keit im Fall des Klägers der Sache nach eine solche Abwägung vorgenommen hat,
ist aber weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass seine Entscheidung auf den
Ausführungen über ein Regel-Ausnahme-Verhältnis auf Seite 19 der Urteilsgründe
beruht. Insoweit kommt - abgesehen von sonstigen Darlegungsmängeln - auch
eine Umdeutung der Divergenzrüge in eine Grundsatzrüge nicht in Betracht.
3. Ohne Erfolg beruft sich die Beschwerde schließlich darauf, dass in Bezug auf
die in der Ausweisungsverfügung enthaltene Ankündigung der Abschiebung aus
der Haft ein Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vorliege,
weil das angefochtene Urteil insoweit keine Begründung enthalte. Darin liege ein
Verstoß gegen § 138 Nr. 6 VwGO. Da der Kläger zum Zeitpunkt der Berufungs-
verhandlung bereits aus der Haft entlassen gewesen sei, dürfe er nicht mehr auf
der Grundlage dieser Ankündigung abgeschoben werden.
Zwar weist die Beschwerde zutreffend darauf hin, dass das Berufungsurteil hin-
sichtlich der Ankündigung der Abschiebung aus der Haft keine Begründung ent-
hält. Die Beschwerde kann mit dieser Rüge aber keinen Erfolg haben, weil sich die
Abweisung der Klage insoweit jedenfalls im Ergebnis als richtig erweist (§ 144
Abs. 4 VwGO in entsprechender Anwendung auf das Beschwerdeverfahren).
Denn die Ankündigung der Abschiebung aus der Haft (jetzt: § 59 Abs. 5 Satz 2
AufenthG) ist mit der Haftentlassung des Klägers gegenstandslos geworden, so
dass der Kläger dadurch nicht mehr beschwert ist und damit auch kein Rechts-
schutzinteresse an einer Aufhebung dieses Teils der Verfügung hat. Entgegen der
im Beschwerdeverfahren vertretenen Rechtsauffassung der Beklagten kann der
Kläger aufgrund der Ankündigung der Abschiebung aus der Haft nicht mehr abge-
schoben werden. Hierzu bedarf es jetzt vielmehr einer Abschiebungsandrohung
gemäß § 59 Abs. 1 AufenthG.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Beck
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Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Ausländerrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§ 11 Abs. 1 Satz 3, 59 Abs. 1 und 5
EMRK
Art. 8
GG
Art. 6 Abs. 1 und 2
Stichworte:
Ausweisung; Befristung; Ankündigung der Abschiebung aus der Haft.
Leitsatz:
Ob die Wirkungen einer Ausweisung schon zum Zeitpunkt der Ausweisung oder
erst später zu befristen sind, ist eine Frage des Einzelfalls. Sie hängt unter ande-
rem vom Ausmaß der vom Ausländer ausgehenden Gefahr für die öffentliche Si-
cherheit und Ordnung, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser
Gefahr sowie den schutzwürdigen Interessen des Ausländers und seiner Angehö-
rigen ab.
Beschluss des 1. Senats vom 20. August 2009 - BVerwG 1 B 13.09
I. VG Hannover vom 2.11.2005 - Az. VG 1 A 3954/04 -
II. OVG Niedersachsen vom 26.02.2009 - Az. OVG 11 LB 232/07 -