Urteil des BVerwG vom 24.05.2006

Syrien, Hund, Hauptsache, Trauma

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 128.05
OVG 1 LB 39.04
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. Mai 2006
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund, Richter
und Prof. Dr. Dörig
beschlossen:
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 29. September 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache
bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der
Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde der Klägerin hat Erfolg. Sie rügt im Ergebnis zu Recht, dass
das Berufungsgericht seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt hat
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO). Im Interesse der Verfah-
rensbeschleunigung verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO
an das Berufungsgericht zurück.
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1. Die von der Beschwerde erhobene Grundsatzrüge greift dagegen nicht
durch. Denn es besteht kein Klärungsbedürfnis für die aufgeworfene Rechts-
frage (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Die Beschwerde hält folgende Frage für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig,
„welcher Verfolgungsmaßstab in solchen Fällen, in denen
die (zuvor) regional verfolgte Gruppe durch Verfolgungs-
handlungen Dritter oder des Verfolgerstaates, Vertreibung
und in deren Folge Auswanderung zahlenmäßig weit re-
duziert ist oder deren Gruppenverfolgung vorübergehend
beendet war, für die Verfolgungswahrscheinlichkeit jedes
einzelnen Gruppenmitglieds gilt, wenn dieses aufgrund
Aufgabe einer Gruppenanerkennungspraxis des Flucht-
landes erstmals in das Land der (vermuteten) Staatsan-
gehörigkeit einreist, in dem es zuvor noch nie gelebt und
damit dort faktisch auch nicht vorverfolgt wurde, falls das
Mitglied dort einer wieder aufflammenden Gruppenverfol-
gung unterliegen könnte und das Mitglied zwar nicht in
dem Einreiseland, aber in seinem Herkunftsland aufgrund
derselben asylerheblichen Merkmale individuell oder
gruppen-vorverfolgt war bzw. diese Verfolgungsfurcht
empfand und vorgetragen hat“ (Beschwerdebegründung
S. 2).
Die Beschwerde hält die aufgeworfene Frage durch die bisherige Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts zum herabgestuften Prognosemaßstab
noch nicht für geklärt. Denn diese Rechtsprechung beziehe sich auf die beson-
dere Situation, dass Mitglieder einer bestimmten religiösen und ethnischen
Gruppe (hier: der Yeziden) in Syrien verfolgt worden seien und eine drohende
Verfolgung in dem Abschiebestaat Türkei, dessen Staatsangehörigkeit sie
(möglicherweise) besäßen, an die gleichen religiösen und ethnischen Merkmale
anknüpfen würde. Damit drohe ihnen die gleiche Verfolgung, die sie schon erlit-
ten hätten, nur auf einem anderen staatlichen Territorium. Auch würden sie das
gleiche Trauma durchleben, wovor der herabgestufte Prognosemaßstab sie
gerade bewahren solle.
Mit ihrem Vorbringen wirft die Beschwerde keine klärungsbedürftige Grundsatz-
frage des revisiblen Rechts auf. Die konkrete Fragestellung bezieht sich er-
kennbar auf den vorliegenden Einzelfall und ist insoweit - auch unter Berück-
sichtigung mehrerer formulierter Alternativen („oder“) und einer „Vermutung“
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(betreffend die Staatsangehörigkeit) - nicht verallgemeinerungsfähig zu beant-
worten. Soweit eine Klärung der Frage begehrt wird, ob eine erlittene Gruppen-
verfolgung in einem Staat (hier: Syrien) zu einem herabgestuften Maßstab für
die Beurteilung einer drohenden Verfolgung in einem anderen Staat (hier: Tür-
kei) führt, könnte sie sich nur für den - hier nicht vorliegenden - Fall letztlich
entscheidungserheblich stellen, dass der betroffene Asylbewerber zwei Staats-
angehörigkeiten besitzt und Verfolgung in beiden Staaten seiner Staatsangehö-
rigkeit geltend macht. War er dagegen - wie hier vom Berufungsgericht unter-
stellt - nur möglicherweise Staatsangehöriger des einen Staates (hier: Türkei),
dann wäre in diesem Fall von vornherein ausgeschlossen, dass er auch in dem
anderen Staat, in dem er nur seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (hier: Syrien),
als Staatenloser in asylrechtlich erheblicher Weise verfolgt wird. Auch für den
Fall, dass er nicht Staatsangehöriger des ersten Staates ist, könnte es aus der
Sicht des Asyl- und Flüchtlingsrechts ausschließlich auf eine Verfolgung im
zweiten Staat ankommen, in dem er dann als Staatenloser verfolgt sein müsste,
um asylrechtlichen Schutz in Anspruch nehmen zu können.
Außerdem lässt sich die angesprochene Frage auch anhand der bereits vorlie-
genden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beantworten. Danach
gilt der herabgestufte Prognosemaßstab der hinreichenden Verfolgungssicher-
heit nur für eine Verfolgung in dem Staat, in dem der betroffene Ausländer indi-
viduell oder als Mitglied einer Gruppe bereits eine Vorverfolgung erlitten hat.
Der Grund für die erleichterten Voraussetzungen für Vorverfolgte wird sowohl in
deren erhöhter Gefährdung als auch in dem bereits erlittenen Trauma gesehen
(ständige Rechtsprechung; vgl. Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C
237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27 <10>; Urteil vom 23. Februar 1988
- BVerwG 9 C 85.87 - BVerwGE 79, 79 <83 f.>; BVerfG, Beschluss vom 2. Juli
1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>). Diese für das
Asylrecht entwickelten Mäßstäbe gelten auch für die Gewährung von Abschie-
bungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG - vgl. Urteil
vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG
Nr. 158 und das von der Beschwerde zitierte Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG
9 C 1.94 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 173), wobei nach Erweiterung der
tauglichen Akteure einer asylerheblichen Verfolgung in § 60 Abs. 1 Satz 4
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Buchst. a bis c AufenthG nunmehr auf den Verfolgungsschutz im Staat der
Staatsangehörigkeit und nicht mehr allein durch den Staat abzustellen ist. Die
Rechtsprechung gewährt asylrechtlichen Abschiebungsschutz immer nur dann,
wenn der Ausländer im Staat seiner Staatsangehörigkeit schutzlos ist (vgl. zu-
letzt Urteil vom 8. Februar 2005 - BVerwG 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376
<381 f.> und etwa Urteil vom 6. August 1996 - BVerwG 9 C 172.95 - BVerwGE
101, 328 <331 f.>). Dies gilt auch für eine Gruppenverfolgung durch nichtstaat-
liche Akteure gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG, wie sie von der
Beschwerde geltend gemacht wird. Denn auch insoweit kommt es darauf an, ob
der Staat der Staatsangehörigkeit (bei Staatenlosen der Staat des gewöhnli-
chen Aufenthalts) des schutzsuchenden Ausländers oder Parteien oder Orga-
nisationen, die ihn beherrschen, nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor
der Verfolgung zu bieten. Wenn die Gruppe, der der Ausländer angehört, in
diesem Staat nicht bereits vorverfolgt wurde, fehlt der indizielle Zusammenhang
einer erneuten Verfolgung und einer Retraumatisierung, der den herabgestuften
Prognosemaßstab rechtfertigt. Dieser Zusammenhang fehlt daher, wenn die
Gruppenverfolgung in einem anderen Staat stattgefunden hat. Denn Verfolgung
und mangelnde Schutzgewährung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in
einem Staat (hier behauptet für Syrien) rechtfertigen nicht die Vermutung eines
ebensolchen Verhaltens in einem anderen Staat, und sei es auch der
Nachbarstaat (hier: die Türkei).
2. Das angegriffene Urteil verletzt die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 86
Abs. 1 VwGO).
Mit Recht beanstandet die Beschwerde, dass das Berufungsgericht dem hilfs-
weise gestellten Antrag der Klägerin auf Erhebung von Sachverständigenbe-
weis wegen eines vorgetragenen Mordes an einem Yeziden im März 2002 und
weiteren körperlichen Übergriffen gegenüber Yeziden in der Türkei nicht nach-
gegangen ist (Beschwerdebegründung S. 7 f.). Die Begründung für die Ableh-
nung der Beweiserhebung findet im Prozessrecht keine Grundlage. Sie stützt
sich darauf, die Hinweise in dem von der Klägerin mit Schriftsatz vom 24. Mai
2005 vorgelegten Schreiben des Yezidischen Forums e.V. aus Oldenburg und
der Auskunft der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 21. April 2005 seien un-
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substantiiert. Zu dem Mord fehle es an jeglichen Hinweisen zu den Einzelheiten
(Täter, Motiv u.a.), um beurteilen zu können, ob dieser Vorfall asylerhebliche
Bedeutung für die von der Klägerin geltend gemachte Gruppenverfolgung der
Yeziden habe (UA S. 7 f.). Das Berufungsgericht überspannt damit die Anforde-
rungen an einen hinreichend substantiierten Antrag auf Sachverständigenbe-
weis, der regelmäßig nicht voraussetzt, dass einzelne konkrete Tatsachen in
das Wissen des Sachverständigen gestellt werden (vgl. Beschluss vom
27. März 2000 - BVerwG 9 B 518.99 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 60). Ein
unsubstantiierter, nur auf Ausforschung gerichteter Sachverständigenbeweisan-
trag (vgl. Beschluss vom 30. Januar 2002 - BVerwG 1 B 326.01 - Buchholz 310
§ 98 VwGO Nr. 69) lag hier nicht vor. Die eigene, aus den eingeführten Er-
kenntnismitteln abgeleitete Sachkunde des Gerichts berechtigte hier schon
deshalb nicht zur Ablehnung, weil der Beweisantrag neue, von den Erkenntnis-
quellen nicht erfasste Umstände betraf (vgl. Beschluss vom 27. März 2000,
a.a.O.). Auch unter Berücksichtigung der geringen Zahl von Yeziden in der Tür-
kei durfte der Antrag nicht unter Hinweis auf eine mangelnde Substantiierung
abgelehnt werden. Ob der beantragte Beweis auch dann zu erheben gewesen
wäre, wenn sich das Berufungsgericht darauf gestützt hätte, dass sich die
Sachlage für Yeziden in der Türkei gegenüber der Situation im Jahr 2002 ent-
scheidungserheblich verändert habe und dies näher dargelegt hätte (vgl. hierzu
OVG Münster, Urteil vom 14. Februar 2006 -15 A 2119/02.A - juris, Rn. 80 ff.
<87>), ist nicht zu entscheiden, denn das Berufungsgericht hat seine Ableh-
nung damit nicht begründet. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungs-
gericht bei Erhebung der beantragten Beweise im Ergebnis zu einer anderen,
für die Klägerin günstigen Entscheidung gelangt wäre. Die mangelnde Sach-
aufklärung führt daher zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
Auf die weiteren von der Beschwerde geltend gemachten Verfahrensrügen
(Aufklärungs- und Gehörsrügen) kommt es demnach nicht mehr entscheidend
an. Der Senat bemerkt gleichwohl, dass diese Rügen voraussichtlich nicht zum
Erfolg der Beschwerde geführt hätten.
Hund Richter Prof. Dr. Dörig
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