Urteil des BVerwG vom 11.11.2013

Schutz des Familienlebens, Befristung, Ausweisung, Ausreise

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 11.13
OVG 2 LB 365/12
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. November 2013
durch den Richter am Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Maidowski
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 22. April 2013 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands für das Beschwerdever-
fahren wird auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO) und Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) gestützte Beschwerde hat
keinen Erfolg. Sie genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO.
1. Wird die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der
Rechtssache begehrt, setzt die hinreichende Darlegung dieses Zulassungs-
grunds die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten
und sowohl für das Berufungsurteil als auch für die erstrebte Revisionsent-
scheidung entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts voraus
und verlangt außerdem die Angabe, worin die allgemeine, über den Einzelfall
hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr; vgl. Beschluss vom 19. Au-
gust 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26
m.w.N.). Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revi-
sionsentscheidung zur Klärung einer entscheidungserheblichen, bisher höchst-
richterlich noch nicht beantworteten Rechtsfrage führen kann. Diesen Anforde-
rungen genügt das Vorbringen der Beschwerde nicht.
Die Beschwerde wendet sich dagegen, dass das Berufungsgericht die in § 11
Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten gesetzlichen Wirkungen der rechts-
kräftig gegen den Kläger verfügten Ausweisung nicht auf Null, sondern lediglich
auf die Dauer von vier Jahren ab Ausreise befristet hat. In diesem Zusammen-
hang weist sie zunächst darauf hin, dass der Kläger nach § 60 Abs. 2 AufenthG
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nicht in seinen Herkunftsstaat abgeschoben werden dürfe und auch kein ande-
rer Staat ersichtlich sei, in den er ausreisen könne. Die Befristung führe daher
zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber ande-
ren Ausländern, die ausreisen oder abgeschoben werden könnten. Diesem Vor-
bringen ist keine grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage zu entnehmen.
Die Beschwerde setzt sich insbesondere nicht damit auseinander, dass der
Kläger aufgrund des derzeit hinsichtlich Syriens bestehenden Abschiebungs-
verbots aufenthaltsrechtlich besser steht als Ausländer, die in ihren Herkunfts-
staat abgeschoben werden können. Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des
Senats geklärt, dass in Fällen, in denen eine zeitnahe Aufenthaltsbeendigung
nicht möglich ist, bei der Fristbestimmung auf typisierende Annahmen zurück-
gegriffen werden muss, der Betroffene aber jederzeit einen Antrag auf Verkür-
zung der festgesetzten Frist nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG stellen kann,
wenn sich die für die Festsetzung maßgeblichen Tatsachen nachträglich ändern
sollten (Urteil vom 30. Juli 2013 - BVerwG 1 C 9.12 - zur Veröffentlichung in der
Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen Rn. 42 f.).
Weiter hält die Beschwerde in Bezug auf den Schutz von Ehe und Familie für
rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig,
„wie Ausreisepflicht und Schutz von Ehe und Familie
überhaupt anders harmonisiert werden kann als mit einer
Befristung auf Null.“
Zur weiteren Begründung verweist sie darauf, dass der Vollzug der Ausreise-
pflicht eine Trennung der Familie zur Folge hätte. Mit diesem und dem weiteren
Vorbringen zeigt die Beschwerde ebenfalls keinen grundsätzlichen Klärungsbe-
darf auf. Sie setzt sich insbesondere nicht damit auseinander, dass in der
Rechtsprechung des Senats geklärt ist, wie dem Schutz von Ehe und Familie
bei der Befristung der gesetzlichen Sperrwirkung einer Ausweisung Rechnung
zu tragen ist. Danach muss sich die in einem ersten Schritt unter Berücksichti-
gung des Gewichts des Ausweisungsgrundes und des mit der Ausweisung ver-
folgten Zwecks nach präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist gemäß
§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG auch an höherrangigem Recht, d.h. verfassungs-
rechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben
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aus Art. 7 GR-Charta und Art. 8 EMRK messen lassen und ist daher in einem
zweiten Schritt ggf. zu relativieren. Durch dieses normative Korrektiv lassen
sich die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthalts-
verbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen und seiner Fami-
lienangehörigen begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1
und 3 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den
Blick zu nehmen und ist eine Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls vorzu-
nehmen (Urteile vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 =
Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 9 jeweils Rn. 42, vom 13. Dezember 2012
- BVerwG 1 C 14.12 - Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 10 Rn. 14 f. und
- BVerwG 1 C 20.11 - Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 15 Rn. 40 f., vom
14. Mai 2013 - BVerwG 1 C 13.12 - InfAuslR 2013, 334 Rn. 32 f. und vom
30. Juli 2013 a.a.O. Rn. 42 f.).
2. Die Beschwerde genügt schließlich auch nicht den Anforderungen an die
Darlegung einer Divergenz. Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO
eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hin-
reichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die
angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem
die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
aufgestellten ebensolchen, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen
hat. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von
Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung
aufgestellt hat, genügt weder den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenz-
noch denen einer Grundsatzrüge (stRspr, Beschluss vom 19. August 1997
a.a.O. m.w.N.).
Die Beschwerde behauptet eine Abweichung vom Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 4. September 2007 - BVerwG 1 C 43.06 -, in dem der Senat
davon ausgegangen ist, dass ein eheliches Zusammenleben ausnahmsweise
unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit
Art. 6 Abs. 1 GG dazu führen kann, dass eine vorherige Ausreise des Auslän-
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ders nicht verlangt wird (Urteil vom 4. September 2007 - BVerwG 1 C 43.06 -
BVerwGE 129, 226 = Buchholz 402.242 § 31 AufenthG Nr. 2 jeweils Rn. 28).
Dass das Berufungsgericht einen hiervon abweichenden Rechtssatz aufgestellt
hat, ist der Beschwerde nicht zu entnehmen. Es hat die familiären Bindungen
des Klägers vielmehr berücksichtigt, ist bei der gebotenen Einzelfallwürdigung
aber zu dem Ergebnis gekommen, dass angesichts der erheblichen Verstri-
ckungen des Klägers in Betäubungsmitteldelikte und seiner über Jahre gezeig-
ten und weiterhin zu befürchtenden Missachtung der Rechtsordnung im Bun-
desgebiet der Schutz des Familienlebens gegenüber den gegenläufigen öffent-
lichen Interessen an Gewicht verliere und deshalb die familiären Bindungen
unter den hier gegebenen Umständen eine Befristung auf „Null“ oder zumindest
auf einen unter vier Jahren liegenden Zeitraum nicht rechtfertigten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung folgt aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Prof. Dr. Dörig
Fricke
Dr. Maidowski
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