Urteil des BVerwG vom 29.03.2007

Irak, Gewalt, Vorwirkung, Gleichwertigkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 104.06
VGH A 2 S 1046/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. März 2007
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter und Prof. Dr. Dörig
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg vom 4. Mai 2006 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist unzulässig. Sie legt den allein geltend gemachten Zulas-
sungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO) nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO
entsprechenden Weise dar.
1. Die Beschwerde hält zunächst die folgenden drei Fragen zur „Anwendbarkeit
und auch Anwendung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Qualifikationsrichtlinie“
für grundsätzlich klärungsbedürftig:
a) Inwieweit entfaltet die gesamte Qualifikationsrichtlinie
auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist am 10.10.2006 be-
reits rechtliche Vorwirkungen und muss zum Zeitpunkt der
letzten tatrichterlichen Verhandlung am 04.05.2006 bereits
in laufenden Verfahren berücksichtigt werden?
b) Inwieweit kommt Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Qualifika-
tionsrichtlinie eine materielle Bedeutung dahin zu, dass die
Veränderung der Umstände so dauerhaft sein muss, also
nicht nur vorübergehend, dass jegliche weitere Verfol-
gungsmaßnahme mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen
ist, „sodass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht
länger als begründet angesehen werden kann“?
c) Inwieweit kann bei Anwendung (ergänzt: von Art. 11
Abs. 1 Buchst. e der Qualifikationsrichtlinie) darauf verwie-
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sen werden, dass hier die gleichen Grundsätze gelten wie
bei Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK und § 73 Abs. 1 Satz 1 Asyl-
verfahrensgesetz, obwohl ja gerade diese Qualifikations-
richtlinie auf die subjektive „Furcht“ des Flüchtlings abstellt,
wenn verlangt wird, dass die Furcht des Flüchtlings vor
Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden
könne?
Das Berufungsgericht habe die Frage der Anwendbarkeit von Art. 11 der Quali-
fikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004) im
Rahmen der Überprüfung der Widerrufsentscheidung des Bundesamtes nach
§ 73 Abs. 1 AsylVfG auch im Sinne einer Vorwirkung offengelassen. Das habe
Auswirkungen auf seine Entscheidung gehabt. Das Berufungsgericht habe es
weiter offengelassen, ob im Irak Bürgerkrieg herrsche. Zur Beantwortung der
Frage, ob die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet
angesehen werden könne, müsse aber objektiv festgestellt werden, ob das
Land vom Bürgerkrieg gekennzeichnet sei oder nicht. Nach der Qualifikations-
richtlinie reiche auch eine nichtstaatliche Verfolgung - hier etwa durch Anhänger
der Baath-Partei - zur Anerkennung als Flüchtling aus.
Mit ihrem Vorbringen zeigt die Beschwerde nicht auf, dass die aufgeworfenen
Fragen für das vorliegende Verfahren entscheidungserheblich sind. Sie geht
nicht darauf ein, dass die Qualifikationsrichtlinie nach Art. 14 Abs. 1 nur auf den
Widerruf von Flüchtlingsanerkennungen Anwendung findet, bei denen der An-
trag auf Schutzgewährung nach Inkrafttreten der Richtlinie im Oktober 2004
(Art. 39) gestellt wurde. Der Kläger hat seinen Antrag auf Anerkennung als
Asylberechtigter aber schon im November 1996 gestellt. Damit stellt sich hier
weder die Frage einer Vorwirkung vor Ablauf der Umsetzungsfrist noch nach
der Auslegung und Anwendung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Qualifikations-
richtlinie im Sinne der Fragestellungen zu a - c. Die Beschwerde zeigt im Übri-
gen auch nicht auf, dass und ggf. inwiefern sich aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e
der Qualifikationsrichtlinie abweichende Maßstäbe für die Beurteilung des Weg-
falls der Verfolgungsgefahr als die ergeben würden, die das Berufungsgericht
seiner Entscheidung unter Anwendung von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in Ver-
bindung mit Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK zugrunde gelegt hat. Sie setzt sich nicht
mit der Würdigung des Berufungsgerichts auseinander, wonach der genannten
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Regelung der Richtlinie keine andere materielle Bedeutung zukomme als
Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK, deren Wortlaut sie lediglich wiederhole (UA S. 11).
Soweit sie sich darauf bezieht, dass die Richtlinie auch nichtstaatliche Verfol-
gung anerkenne, zeigt sie einen Unterschied zur geltenden und vom Beru-
fungsgericht auch angewandten Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c
AufenthG nicht auf.
Angesichts dieser Sachlage kam die angeregte Vorlage des Verfahrens an den
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nicht in Betracht.
2. Die Beschwerde hält des Weiteren drei Fragen zur „Anwendbarkeit und An-
wendung von Art. 15 C Satz 2 Qualifikationsrichtlinie“ für grundsätzlich bedeut-
sam:
a) Inwieweit ist „Art. 15 C Satz 2 Qualifikationsrichtlinie“
jetzt schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist am 10.10.2006
von Behörden oder Gerichten anzuwenden, entweder di-
rekt oder im Rahmen der Auslegung nationaler Bestim-
mungen?
b) Inwieweit bedingt dieser subsidiäre Schutz des „Art. 15
C Satz 2 der Qualifikationsrichtlinie“ bei „willkürlicher Ge-
walt“ im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Kon-
flikts, dass dem so Betroffenen ein besonderer - auslän-
derrechtlicher - Schutzstatus zugesprochen werden muss?
c) Inwieweit hat dieser Schutz nach „Art. 15 C Satz 2 der
Qualifikationsrichtlinie“ im Rahmen des § 60 Abs. 5 Auf-
enthaltsgesetz zu erfolgen und zwar in Verbindung mit
Art. 3 EMRK, und dies wieder analog § 60 Abs. 1 Aufent-
haltsgesetz auch von nichtstaatlichen Akteuren?
Die Beschwerde rügt, das Berufungsgericht habe im Anschluss an das Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 -
(BVerwGE 124, 276) auch im vorliegenden Fall grundsätzlich den Schutz vor
allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit nicht bei § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG, sondern ausschließlich im Rahmen der Abschiebungshindernisse
nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG berücksichtigt. Die Qualifikationsrichtlinie sei
aber jedenfalls im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen
Vorschriften heranzuziehen. Die tatsächliche Situation im Irak sei als „willkürli-
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che Gewalt“ im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts zu würdigen und falle
damit unter Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie. Ferner müsse nach
Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie Schutz vor Gefahren gewährt wer-
den, die von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen.
Auch mit diesem Vorbringen legt die Beschwerde nicht dar, dass sich die auf-
geworfenen Fragen in dem angestrebten Revisionsverfahren stellen. Denn sie
zeigt nicht auf, dass das Berufungsgericht Tatsachen festgestellt hat, aus de-
nen sich eine „ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unver-
sehrtheit“ des Klägers bei Rückkehr in den Irak ergäbe, wie das Voraussetzung
für einen „ernsthaften Schaden“ nach Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtli-
nie ist. Auf dieses kumulativ zur „willkürlichen Gewalt im Rahmen eines interna-
tionalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ zu erfüllende Tatbe-
standsmerkmal des Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie geht die Be-
schwerde überhaupt nicht ein. Hierzu hätte auch deshalb Veranlassung be-
standen, weil das Berufungsgericht im Rahmen seiner Prüfung von § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG ausgeführt hat, im Fall des Klägers sei keine einzelfallbezoge-
ne, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation ersichtlich (UA
S. 21 unten). Was den von der Beschwerde in der Fragestellung „c“ angespro-
chenen Schutz vor Gefahren durch nichtstaatliche Akteure anbelangt, hat das
Berufungsgericht festgestellt, dass dem Kläger weder von staatlicher noch von
nichtstaatlicher Seite die Gefahr der Folter oder der Todesstrafe oder einer
sonstigen menschenrechtswidrigen Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 2, 3
und 5 AufenthG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (UA S. 21 oben).
Auch insoweit ist eine Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Frage „c“
nicht ersichtlich.
Eine Vorlage des Verfahrens an den Gerichtshof der Europäischen Gemein-
schaften ist auch hinsichtlich der zu Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie
aufgeworfenen Fragen nicht veranlasst.
3. Die Beschwerde sieht schließlich grundsätzlichen Klärungsbedarf für folgen-
de zwei Fragen zum Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG:
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a) Inwieweit kann jetzt nach Inkrafttreten des neuen Auf-
enthaltsgesetzes am 01.01.2005 ein gleichwertiger Schutz
im Sinne des § 60 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz nur und aus-
schließlich vorliegen, wenn es sich um einen Erlass im
Sinne des § 60 a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz handelt?
b) Inwieweit kann gerade im Hinblick auf die Qualifikati-
onsrichtlinie des „§ 15 C Satz 2“ nur bei einem solchen
„qualifizierten“ Erlass im Sinne des § 60 a Abs. 1 Aufent-
haltsgesetz eine Gleichwertigkeit bejaht und dann auf eine
Entscheidung nach § 60 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz verzich-
tet werden?
Die aufgeworfenen Fragen seien von Bedeutung für das vorliegende Verfahren,
weil das Berufungsgericht entschieden habe, der maßgebliche Landeserlass
betreffend Abschiebungen in den Irak gewähre dem Kläger Abschiebungs-
schutz, der vergleichbar mit dem nach § 60a Abs. 1 AufenthG zu gewährenden
sei, weil er die Erteilung von Duldungen und deren jeweilige Verlängerung um
drei Monate vorsehe (UA S. 27). Ein dem Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-
richtlinie entsprechender Schutz könne nicht in Duldungen bestehen, sondern
bedürfe der Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis im Sinne des Auf-
enthaltsgesetzes.
Für beide Fragen zeigt die Beschwerde nicht die Erforderlichkeit einer rechts-
grundsätzlichen Klärung in dem angestrebten Revisionsverfahren auf. Die an-
gegriffenen Urteilsgründe befassen sich - ohne dass die Beschwerde dies hin-
reichend klarstellt - mit der Frage, ob aufgrund extremer Allgemeingefahren im
Irak eine Durchbrechung der Sperrwirkung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG
geboten ist und verneint dies wegen des Schutzes, der dem Kläger durch die
Abschiebungserlasslage des Landes gewährt wird (UA S. 22 ff.). Die Frage „a“
bedarf keiner Klärung, da der Senat bereits entschieden hat, dass es für die
Gleichwertigkeit des Schutzes im Sinne der Rechtsprechung nur auf die
Schutzwirkung der Duldung oder des Erlasses im Hinblick auf eine drohende
Abschiebung ankommt, nicht aber auf Folgewirkungen im Hinblick auf eine Ver-
festigung des Aufenthaltsrechts wie etwa einen Anspruch auf eine Aufenthalts-
genehmigung (vgl. Beschluss vom 23. August 2006 - BVerwG 1 B 60.06 - juris,
Rn. 4; zum alten Recht schon Beschluss vom 17. September 2005 - BVerwG
1 B 13.05 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 2). Die Beschwerde
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setzt sich mit dieser Rechtsprechung nicht auseinander und zeigt auch nicht
auf, dass und inwiefern hierzu weitergehender oder erneuter Klärungsbedarf
bestehen könnte. Zur Entscheidungserheblichkeit der Frage „b“ ist der Be-
schwerde im Übrigen auch nicht zu entnehmen, dass der Kläger bei Rückkehr
in den Irak eine „ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unver-
sehrtheit“ zu befürchten hätte, wie das Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsricht-
linie voraussetzt. Insoweit kann auf die Ausführungen unter 2. verwiesen wer-
den.
Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden
gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30
RVG.
Eckertz-Höfer Richter Prof. Dr. Dörig
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