Urteil des BVerwG vom 17.09.2006

Änderung der Rechtsprechung, Politische Verfolgung, Rechtliches Gehör, Berg

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 102.06 (1 PKH 45.06)
VGH 9 B 04.30117
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. September 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann und Prof. Dr. Dörig
beschlossen:
Der Klägerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozess-
kostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt ..., …, beigeordnet.
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 20. Februar 2006 wird verworfen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO, §§ 114, 119
Abs. 1, § 121 Abs. 1 ZPO.
Die Beschwerde ist unzulässig. Sie legt den geltend gemachten Verfahrensman-
gel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO entsprechend dar.
Die Beschwerde rügt eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewäh-
rung rechtlichen Gehörs, weil es sich bei dem angefochtenen Urteil um eine unzu-
lässige Überraschungsentscheidung handele. Das Berufungsgericht habe ohne
Ankündigung seine ständige Rechtsprechung geändert, dass die Praxis der „Aus-
bürgerung“ von armenischen Volkszugehörigen in Aserbaidschan des politischen
Charakters entbehre und sie zudem in Berg-Karabach eine zumutbare und er-
reichbare inländische Fluchtalternative hätten. Im Hinblick auf beide Fragen habe
das Gericht in der angefochtenen Entscheidung eine „Kehrtwende“ vollzogen, oh-
ne dass die Beklagte Gelegenheit gehabt hätte, sich zu dieser Entwicklung fundiert
zu äußern und gegebenenfalls nötige prozessuale Schritte vorzubereiten.
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Damit wird die behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eine so ge-
nannte Überraschungsentscheidung nicht schlüssig dargetan. So beachtet die
Beklagte nicht, dass in dem hier vorliegenden Fall, dass eine mündliche Verhand-
lung stattfindet, der Anspruch auf rechtliches Gehör vor allem das Recht der Partei
auf Äußerung in dieser Verhandlung begründet (vgl. BVerfGE 42, 364 <370>; 86,
133 <144 f.>; Urteil vom 13. November 1980 - BVerwG 5 C 18.79 - BVerwGE 61,
145 <146 f.>; Beschluss vom 20. Dezember 2000 - BVerwG 8 B 238.00 - Buch-
holz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 31). Da die Beklagte der mündlichen Verhand-
lung vom 7. Februar 2006 ohne Angabe von Gründen ferngeblieben ist und sie in
der Ladung darauf hingewiesen worden war, dass bei Ausbleiben auch ohne sie
verhandelt und entschieden werden könne, hat sie dem Berufungsgericht schon
keine Gelegenheit gegeben, den Fall auch im Hinblick auf mögliche Änderungen
bisheriger Rechtsauffassungen mit ihr zu erörtern. Es kann offenbleiben, ob die
Beschwerde schon im Hinblick hierauf keinen Erfolg haben kann. Jedenfalls fehlt
es bereits an der erforderlichen Darlegung dessen, was auf den vermissten Hin-
weis des Berufungsgerichts im Einzelnen noch vorgetragen worden wäre, um das
Berufungsgericht zur Aufgabe seiner zur Feststellung eines Abschiebungsverbots
nach § 60 Abs. 1 AufenthG führenden Rechtsprechungsänderung zu bewegen.
Die schlüssige Rüge, das rechtliche Gehör sei verletzt, erfordert regelmäßig die
substanziierte Darlegung dessen, was der Beteiligte bei ausreichender Gehörs-
gewährung noch vorgebracht hätte und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung
des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (vgl. Beschluss vom
28. Januar 2003 - BVerwG 4 B 4.03 - Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 53;
Beschluss vom 22. April 1999 - BVerwG 9 B 188.99 - Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 44). Soweit die Beschwerde die Änderung der Rechtsprechung zur Praxis der
„Ausbürgerung“ armenischer Volkszugehöriger rügt, fehlt es an einer derartigen
substanziierten Darlegung. Der allgemeine Vortrag der Beklagten, sie habe bei
einem entsprechenden Hinweis Argumente aus der bisherigen Rechtsprechung
des Berufungsgerichts sowie anderer Oberverwaltungsgerichte vortragen können,
nach der die nun als politische Verfolgung bewerteten Umstände asylrechtlich irre-
levant seien, reicht hierfür nicht aus. Die Beklagte geht nämlich weder auf die Ar-
gumentation in den genannten Gerichtsentscheidungen zur Asylerheblichkeit des
Staatsangehörigkeitsverlusts bei armenischen Volkszugehörigen noch auf inzwi-
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schen vorliegende neuere Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes sowie weiterer
Erkenntnisquellen aus der zweiten Hälfte des Jahres 2005 ein.
Soweit die Beschwerde die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Erreichbar-
keit von Berg-Karabach im Sinne einer inländischen Fluchtalternative als überra-
schend rügt, zeigt sie nicht - wie erforderlich - deren Entscheidungserheblichkeit
auf. Sie setzt sich nicht damit auseinander, dass das Berufungsgericht die Auffas-
sung vertritt, es komme nicht mehr darauf an, ob der Klägerin dort eine zumutbare
Fluchtalternative offenstehe, weil sie wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit
ausgebürgert worden sei und ihr deshalb die Wiedereinreise nach Aserbaidschan
verweigert werde (UA S. 13). Sie geht auch nicht darauf ein, dass das Berufungs-
gericht Berg-Karabach im vorliegenden Fall auch deshalb nicht als geeignete
Fluchtalternative für die Klägerin ansieht, weil es ihr mit ihrem kleinen Kind nicht
möglich sei, sich dort eine Existenzgrundlage zu schaffen (UA S. 14 oben).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2
VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden
gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30
Satz 1 RVG.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig
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