Urteil des BVerwG vom 08.03.2007

Persönliche Anhörung, Bundesamt, Asylbewerber, Kenntnisnahme

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 101.06
VGH 6 UE 1126/05.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. März 2007
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsge-
richtshofs vom 26. April 2006 wird verworfen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Beschwerde der Kläger ist unzulässig. Sie legt die geltend gemachten Zu-
lassungsgründe von Verfahrensmängeln wegen Verletzung des rechtlichen
Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1
GG) und einer Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) nicht in einer Weise dar,
die den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.
1. Die Beschwerde macht geltend, das Berufungsgericht habe den Klägern zu 1
und 2 das von ihnen geschilderte Verfolgungsschicksal und insbesondere die
Angaben des Klägers zu 1 zum Vorfall am 6. Oktober 2003 nicht abgenommen.
Dies hätte es aber nicht tun dürfen, ohne sich durch Anhörung der Kläger zu 1
und 2 ein persönliches Bild von deren Glaubwürdigkeit zu machen und auch
anhand der Angaben des Klägers zu 1 den Vorfall vom 6. Oktober 2003 hin-
sichtlich einer begründeten Verfolgungsgefahr plausibel zu machen. Wäre der
Kläger zu 1 in der mündlichen Verhandlung angehört worden, hätte er noch die
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im Einzelnen bezeichneten, näheren Angaben über diesen Vorfall, der letztlich
seine Flucht aus der Türkei ausgelöst habe, gemacht.
Mit diesem und dem weiteren Vorbringen der Beschwerde wird eine Verletzung
des rechtlichen Gehörs der Kläger oder ein sonstiger Verfahrensmangel im Sin-
ne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht schlüssig aufgezeigt. Die Beschwerde
legt nicht dar, dass und aus welchen Gründen das Berufungsgericht unter den
gegebenen Umständen zu einer Anhörung der Kläger zu 1 und 2 verpflichtet
gewesen sein sollte, zumal die in der mündlichen Verhandlung anwesenden
und anwaltlich vertretenen Kläger zu 1 und 2 selbst in keiner Weise darauf hin-
gewirkt haben.
Allerdings ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das
Berufungsgericht gehalten, den Asylbewerber persönlich anzuhören, wenn es
die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz angehörten Asylbewerbers abwei-
chend vom Verwaltungsgericht beurteilen will und es für diese Beurteilung auf
den persönlichen Eindruck von dem Asylbewerber ankommt (stRspr, vgl. etwa
Beschluss vom 28. April 2000 - BVerwG 9 B 137.00 - Buchholz 402.25 § 1
AsylVfG Nr. 235). Darüber hinaus darf das Berufungsgericht grundsätzlich nicht
ohne persönliche Anhörung des Asylbewerbers diesen lediglich unter Über-
nahme einer entsprechenden Würdigung des Bundesamts für Migration und
Flüchtlinge (Bundesamt) für unglaubwürdig halten oder aus dessen protokollier-
ten Aussagen vor dem Bundesamt Ungereimtheiten und Widersprüche ableiten,
ohne ihn persönlich angehört zu haben. Letzteres ist nur dann ausnahmsweise
zulässig, wenn in dem Anhörungsprotokoll des Bundesamts solche Widersprü-
che, Ungereimtheiten oder Unvereinbarkeiten aufgezeigt wären, die die
Wahrheit der behaupteten Tatsachen auch ohne den persönlichen Eindruck von
der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers von vornherein ausschlössen (vgl.
Beschlüsse vom 10. Mai 2002 - BVerwG 1 B 392.01 - Buchholz 402.25 § 1
AsylVfG Nr. 259 m.w.N., vom 11. Juni 2002 - BVerwG 1 B 37.02 - Buchholz
a.a.O. Nr. 260 und vom 26. Februar 2003 - BVerwG 1 B 218.02 - Buchholz 310
§ 86 Abs. 1 VwGO Nr. 328 m.w.N.).
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Dass das Berufungsgericht gemessen an diesen Grundsätzen unter den Um-
ständen des vorliegenden Falles nicht ohne eine (erneute) persönliche Anhö-
rung der Kläger zu 1 und 2 hätte entscheiden dürfen, zeigt die Beschwerde in-
des nicht auf. Die Kläger zu 1 und 2 sind nicht nur vor dem Bundesamt, son-
dern auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht persön-
lich zu ihren Fluchtgründen angehört worden. Sowohl das Bundesamt als auch
das Verwaltungsgericht haben dem Vorbringen der Kläger zu 1 und 2 keine
ausreichenden Anhaltspunkte für eine asylerhebliche Verfolgung vor ihrer Aus-
reise aus der Türkei entnehmen können und insbesondere den Vortrag des
Klägers zu 1 zu dem Vorfall vom 6. Oktober 2003 als unsubstantiiert bzw. un-
glaubhaft angesehen, weil nicht ersichtlich sei, dass der Anschlag, bei dem
nach seinen Angaben zwei Freunde getötet worden seien, ihm gegolten habe
bzw. wieso die Sicherheitsbehörden nachfolgend nach ihm hätten fahnden sol-
len. Das Berufungsgericht hat sich dieser Bewertung aufgrund eigener Würdi-
gung des bisherigen Vorbringens, insbesondere der vom Verwaltungsgericht im
Urteilstatbestand wiedergegebenen gerichtlichen Anhörung der Kläger zu 1
und 2, angeschlossen (UA S. 13 f.). Es ist somit weder von der Beurteilung der
Glaubwürdigkeit der Kläger zu 1 und 2 durch das Verwaltungsgericht abgewi-
chen, noch hat es sich lediglich auf die Würdigung des Bundesamts oder auf
Ungereimtheiten oder Widersprüche der dort protokollierten Anhörung gestützt.
Warum es bei dieser prozessualen Lage zu einer nochmaligen Anhörung im
Berufungsverfahren verpflichtet gewesen sein sollte, obwohl die anwaltlich ver-
tretenen Kläger zu 1 und 2 selbst ausweislich des Sitzungsprotokolls nicht auf
eine solche Anhörung hingewirkt und nicht zu erkennen gegeben haben, dass
sie noch weitere Angaben zur Substantiierung ihres Vorbringens machen kön-
nen und wollen, lässt sich der Beschwerde nicht entnehmen. Auch und gerade
im Hinblick auf den Vorfall vom 6. Oktober 2003 wäre es Sache des anwaltlich
vertretenen Klägers zu 1 gewesen, sein bisher als nicht glaubhaft angesehenes
Vorbringen hierzu von sich aus zu substantiieren und zu ergänzen oder jeden-
falls in der mündlichen Verhandlung auf eine persönliche Anhörung hinzuwir-
ken.
2. Soweit die Beschwerde darüber hinaus eine Verletzung des rechtlichen Ge-
hörs der Kläger darin sieht, dass das Berufungsgericht das Vorbringen in dem
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Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 25. Juni 2005 nicht zur
Kenntnis genommen und erwogen habe, ist eine Gehörsverletzung ebenfalls
nicht schlüssig aufgezeigt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Ge-
richt das Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwä-
gung gezogen hat. Die Gerichte brauchen sich nicht mit jedem Vorbringen in
den Entscheidungsgründen ausdrücklich auseinanderzusetzen. Nur wenn sich
aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass ein Gericht
seine Pflicht zur Kenntnisnahme und Erwägung entscheidungserheblichen Tat-
sachenstoffs verletzt hat, kann ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG im Ein-
zelfall festgestellt werden. Dass derartige besondere Umstände hier vorliegen,
zeigt die Beschwerde nicht auf. Das Berufungsgericht ist auf das Vorbringen
des Klägers zu 1 zu dem Vorfall vom 6. Oktober 2003 im Tatbestand des Urteils
mehrfach eingegangen (UA S. 3 und 5) und hat sich auch in den Entschei-
dungsgründen damit auseinandergesetzt (UA S. 14). Die Beschwerde legt nicht
dar, dass der Schriftsatz vom 25. Juni 2005 über Spekulationen in Bezug auf
die Kenntnisse und Motive der Angreifer hinaus konkretes Tatsachenvorbringen
zu dem fraglichen Vorfall enthält, auf das das Berufungsgericht ausdrücklich
hätte eingehen müssen. In Wahrheit wendet sich die Beschwerde mit dieser
Rüge gegen die ihrer Ansicht nach unzutreffende tatrichterliche Würdigung des
Vorbringens des Klägers zu 1. Darauf kann sie indes eine Verfahrensrüge nicht
stützen.
3. Auch die von der Beschwerde behauptete Divergenz (ergänzender Schrift-
satz vom 6. Juli 2006) ist nicht in einer den Darlegungsanforderungen des
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dargelegt. Die Beschwerde
meint, die Berufungsentscheidung weiche von dem Beschluss des Bundesver-
waltungsgerichts vom 14. Juli 2005 - BVerwG 1 B 135.04 - ab, in dem ausge-
führt sei, dass das Berufungsgericht nicht ohne eigene Anhörung nur auf der
Grundlage der Protokolle der Anhörung durch das Bundesamt einen Asylan-
tragsteller als unglaubwürdig einstufen dürfe. Sie zeigt jedoch nicht - wie erfor-
derlich - auf, dass die Berufungsentscheidung ausdrücklich oder konkludent
einen dem widersprechenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat. Im Übrigen
ist das Berufungsgericht - wie oben zu 1 bereits ausgeführt - auch tatsächlich
nicht in Widerspruch zu der genannten Rechtsprechung des Bundesverwal-
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tungsgerichts gesetzt. Dies ergibt sich im vorliegenden Zusammenhang schon
daraus, dass das Berufungsgericht seine Beweiswürdigung keineswegs nur auf
der Grundlage der Protokolle der Anhörung durch das Bundesamt vorgenom-
men hat.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 83b Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Beck
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