Urteil des BVerwG vom 31.08.2005

BVerwG (verzicht, grundstück, nötigung, erbengemeinschaft, ddr, eigentum, zgb, verfügung, verwalter, ausreise)

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 8 C 11.05
Verkündet
VG 5 K 1168/98
am 31. August 2005
Salli-Jarosch
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 31. August 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht G ö d e l ,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht G o l z e , die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht Dr. von H e i m b u r g und die Richter
am Bundesverwaltungsgericht P o s t i e r und N e u m a n n
für Recht erkannt:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom
27. September 2004 wird geändert.
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom
10. März 1997 und des Widerspruchsbescheides des
Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen vom
30. April 1998 verpflichtet, das Eigentum an den Flurstücken
172, 253, 254, 272, 273, 277 und 282 der Flur 2 der
Gemarkung R., ehemals Blatt 25 des Grundbuchs von R.,
insgesamt an die Erbengemeinschaft nach Richard Sch.
zurückzuübertragen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme
der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese
selbst trägt.
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G r ü n d e :
I.
Die Klägerinnen begehren die Rückübertragung des landwirtschaftlichen
Grundstücks in der Gemarkung R., Flur 2, bestehend aus den Flurstücken 172, 253,
254, 272, 273, 277 und 282, ehemals eingetragen im Grundbuch von R. Blatt 25, an
die Erbengemeinschaft nach Richard Sch. Der ursprüngliche Eigentümer der
Flächen, Richard Sch., verstarb 1974 und wurde von seiner Ehefrau, Carola Sch.,
und seinen drei Kindern, den Klägerinnen und ihrem Bruder, zu je einem Viertel
beerbt.
Carola Sch. beantragte am 6. Juni 1978 die Ausreise aus der DDR zu ihrem in der
Bundesrepublik lebenden Sohn. Am 15. März 1979 wurde für dessen Anteil am
streitgegenständlichen Grundbesitz ein staatlicher Verwalter bestellt. Carola Sch. und
die Klägerinnen erklärten am 8. Mai 1979 gegenüber dem Rat des Kreises S. den
Verzicht auf ihre Erbanteile am landwirtschaftlichen Grundstück des Richard Sch. Am
24. August 1979 verkaufte der staatliche Verwalter den "Anteil Horst Sch." am
streitgegenständlichen Grundstück an den Rat des Kreises S. Am selben Tag wurde
für das Grundstück Eigentum des Volkes eingetragen sowie die Erbengemeinschaft
nach Richard Sch. eingetragen und gelöscht. Am 2. November 1979 reiste Carola
Sch. mit staatlicher Genehmigung aus der DDR aus.
Auf den Rückerstattungsantrag der Klägerin zu 1 vom 23. September 1990 für die
Erbengemeinschaft nach Richard Sch. übertrug der Beklagte mit bestandskräftigen
Teilbescheiden das "Eigentum an den Anteilen" an dem streitgegenständlichen
Grundstück an Horst Sch., weil der Verkauf seines Vermögensanteils durch den
staatlichen Verwalter eine Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 1 Buchst. c VermG
dargestellt habe. Im Übrigen lehnte er den Rückübertragungsanspruch mit Bescheid
vom 10. März 1997 ab. Der Widerspruch blieb erfolglos.
Auf die Klage der während des Klageverfahrens 1999 verstorbenen Carola Sch. und
der Klägerinnen hob das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Urteil
vom 27. September 2004 teilweise auf und übertrug die erbrechtliche
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Mitberechtigung der Carola Sch. an dem Grundstück an die Klägerinnen und den als
Miterbe nach Carola Sch. in das Verfahren eingetretenen Horst Sch. in
Erbengemeinschaft zurück. Im Übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung führte
es aus, die erbrechtliche Mitberechtigung der Carola Sch. habe einer schädigenden
Maßnahme nach § 1 Abs. 3 VermG unterlegen. Hinsichtlich ihres Verzichtes spreche
der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er auf eine Nötigung staatlicher Organe
und damit auf Machtmissbrauch zurückzuführen sei. Die Klägerinnen könnten
demgegenüber die Rückübertragung ihrer erbrechtlichen Mitberechtigungen nicht
beanspruchen. Denn das Gericht habe sich keine volle richterliche Überzeugung
davon bilden können, dass sie zur Abgabe ihrer Verzichtserklärung genötigt worden
seien. Ihr Vortrag sei insoweit unsubstantiiert und enthalte keine konkreten
Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen. Die Regeln des Anscheinsbeweises griffen
zugunsten der Klägerinnen nicht ein, weil es sich bei ihnen nicht um Ausreisewillige
gehandelt habe.
Die Klägerinnen haben die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und
beantragen,
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 10. März 1997 und des
Widerspruchsbescheides des Landesamtes zur Regelung offener
Vermögensfragen vom 30. April 1998 sowie unter Abänderung des Urteils des
Verwaltungsgerichts Frankfurt/Oder - 5 K 1168/98 - vom 27. September 2004
zu verpflichten, die erbrechtlichen Mitberechtigungen der Klägerinnen zu 1
und 3 an diese zurückzuübertragen.
Sie rügen die Verletzung materiellen und formellen Rechts.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil.
Die Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
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II.
Die Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht
und stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Dem Verwaltungsgericht ist zwar darin zuzustimmen, dass nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in den Fällen des
ausreisebedingten Verlustes von Grundstücken und Gebäuden eine unlautere
Machenschaft in Gestalt einer Nötigung und gleichzeitig eines Machtmissbrauchs im
Sinne des § 1 Abs. 3 VermG gegeben ist, wenn staatliche Stellen die Erteilung der
Genehmigung zur ständigen Ausreise von der vorherigen Aufgabe des
Grundeigentums abhängig gemacht haben. Hat ein Ausreisewilliger in zeitlichem
Zusammenhang mit der Ausreise ein Grundstück veräußert, kann nach den
Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins deshalb davon ausgegangen
werden, dass dies auf unlautere Machenschaften im Sinne von § 1 Abs. 3 VermG
zurückzuführen ist. Der Anscheinsbeweis gilt sowohl für die Tatsache, dass die
staatlichen Organe einen entsprechenden Verkaufsdruck ausgeübt haben, als auch
für die Ursächlichkeit zwischen Verkaufsdruck und Veräußerung (stRspr, vgl. Urteile
vom 29. Februar 1996 - BVerwG 7 C 59.94 - BVerwGE 100, 310 <312>, vom
26. September 1996 - BVerwG 7 C 14.95 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 88 und
Beschluss vom 26. Juni 2000 - BVerwG 7 B 26.00 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG
Nr. 15 jeweils m.w.N.). Der Anscheinsbeweis findet nach der Rechtsprechung aber
grundsätzlich nur für den Ausreisewilligen selbst Anwendung. Es gibt keinen
Anscheinsbeweis dahingehend, dass in der DDR verbleibende Familienangehörige
generell ebenfalls auf Eigentumsrechte verzichten mussten, damit dem
Ausreisewilligen die Ausreise genehmigt wurde. Die Anscheinsbeweisführung setzt
voraus, dass ein Sachverhalt vorliegt, der nach der Lebenserfahrung regelmäßig auf
einen bestimmten Verlauf hinweist und es deshalb rechtfertigt, die besonderen
Umstände des einzelnen Falles in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen (vgl. Urteil
vom 1. März 1995 - BVerwG 8 C 36.92 - Buchholz 303 § 287 ZPO Nr. 3). Für die
Annahme eines typischen Geschehensablaufs, dass auch in der DDR verbleibende
Familienangehörige von Ausreisewilligen grundsätzlich auf Vermögenswerte
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verzichten mussten, damit die Ausreisegenehmigung erteilt wurde, fehlt es nach
derzeitigem Stand an ausreichenden Erfahrungen; auch die Aktenlage des
vorliegenden Verfahrens lässt einen Hinweis auf einen solchen typischen
Geschehensablauf nicht zu.
Etwas anderes gilt aber, und das hat das Verwaltungsgericht verkannt, wenn die
verbleibenden Verzichtenden nicht Miteigentümer neben dem ausreisewilligen
Verzichtenden, sondern mit diesem hinsichtlich des aufgegebenen Vermögenswertes
in einer ungeteilten Erbengemeinschaft gesamthänderisch gebunden waren. Denn
gemäß § 400 Abs. 1 Satz 2 des zum Zeitpunkt des Verzichtes geltenden
Zivilgesetzbuchs der DDR (ZGB) konnten mehrere in einer Erbengemeinschaft
verbundene Erben über einzelne Nachlassgegenstände nur gemeinschaftlich
verfügen. Dementsprechend konnte der Ausreisewillige nicht allein auf seine
erbrechtliche Mitberechtigung an einem Grundstück zugunsten des Volkseigentums
verzichten. Dies setzte vielmehr voraus, dass auch die - nicht ausreisewilligen -
Miterben auf ihre Rechte verzichteten. Es spricht deshalb eine Vermutung dafür,
dass, wenn die in der DDR verbleibenden Miterben in zeitlichem Zusammenhang mit
dem Verzicht eines ausreisewilligen Miterben auf ihr durch die Erbengemeinschaft
gesamthänderisch gebundenes Eigentum an einzelnen Vermögenswerten
verzichteten, dieser Verzicht darauf beruhte, dass der ausreisewillige Miterbe zur
Aufgabe seiner erbrechtlichen Mitberechtigung an dem Grundstück genötigt wurde.
Dessen Nötigung war damit kausal auch für den Verzicht der anderen Miterben auf
ihre Rechte, so dass auch deren Verzicht auf unlauteren Machenschaften im Sinne
des § 1 Abs. 3 VermG beruhte. Die widerlegbare Kausalitätsvermutung zugunsten
der in der DDR verbleibenden Miterben rechtfertigt sich durch die Rechtslage (§ 400
Abs. 1 Satz 2 ZGB), die zu der Erfahrungstatsache führt, dass bei typischem
Geschehensablauf der durch die Nötigung des Ausreisewilligen bedingte Verzicht auf
die erbrechtliche Mitberechtigung die Ursache für den gleichzeitigen Verzicht auf die
erbrechtlichen Mitberechtigungen der anderen Miterben war.
So lag der Fall hier. Aufgrund des insoweit bestandskräftigen Urteils des
Verwaltungsgerichts steht hinsichtlich der ausreisewilligen Carola Sch. fest, dass ihr
Verzicht auf die erbrechtliche Mitberechtigung an dem streitgegenständlichen
Grundstück ausreisebedingt und damit aufgrund einer Nötigung und eines
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Machtmissbrauchs erfolgte. Aufgrund der zivilrechtlichen Regelung, die nur eine
gemeinschaftliche Verfügung der Miterben über dieses Grundstück zuließ, mussten
die Klägerinnen ebenfalls verzichten, so dass auch ihr Verzicht kausal auf der
Nötigung der Carola Sch. beruhte. Der Vermögensverlust der Klägerinnen stand mit
dem Verzicht ihrer Mutter in einem derart engen zeitlichen und sachlichen
Zusammenhang, dass die Vermutung eines durch Nötigung erzwungenen
Vermögensverlustes (§ 1 Abs. 3 VermG) auf ihren Verzicht zu erstrecken ist.
Ob der Verzicht der Klägerinnen auch dadurch veranlasst war, dass diese sich von
den auf dem Grundstück lastenden Schulden befreien wollten, bedarf keiner Klärung.
Zum einen wurden diese ausweislich der Akten nur gegenüber Carola Sch. geltend
gemacht; im Hinblick auf ihre Person ist aber die Nötigung zum Verzicht
bestandskräftig festgestellt. Im Übrigen ist eine staatliche Nötigung im
Zusammenhang mit einem Ausreisebegehren für einen Verzicht auf Grundeigentum
auch dann ursächlich im Sinne von § 1 Abs. 3 VermG, wenn er nicht die alleinige
oder wesentliche Ursache war. Der Anscheinsbeweis ist deshalb nicht schon dann
erschüttert, wenn eine andere Tatsache mitursächlich für den Verzicht gewesen sein
könnte (vgl. Urteil vom 20. November 1997 - BVerwG 7 C 16.97 - Buchholz 428 § 1
VermG Nr. 131).
Die Vermutung wird im vorliegenden Fall auch nicht dadurch erschüttert, dass der
staatliche Verwalter den Erbanteil des Horst Sch. veräußert hat, also trotz der
gesamthänderischen Bindung eine Verfügung des Miterben über seine erbrechtliche
Mitberechtigung an dem Grundstück zugelassen wurde. Auch wenn insoweit eine
gesonderte Verfügung des Miterben getroffen wurde, bestätigt der zeitliche Ablauf
eher die gesetzliche Regelung. Da noch vor der Umschreibung des Grundbuchs auf
Eigentum des Volkes der staatliche Verwalter die Rechte des Horst Sch. an das
Volkseigentum veräußerte, wurde damit noch in zeitlichem Zusammenhang der
Rechtslage des § 400 Abs. 1 Satz 2 ZGB zumindest insoweit Genüge getan, dass
vor der Eintragung des Eigentums des Volkes eine Verfügung aller Miterben vorlag
und ein einheitlicher Rechtsübergang hinsichtlich des Nachlassgegenstandes
"Grundstück Grundbuch Blatt 25" erfolgen konnte. Er wurde im Grundbuch auch
zunächst allein mit dem Rechtsgrund "Verzicht" vermerkt.
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Ebenso bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dem Verzicht auf die Rechte
am streitgegenständlichen Grundstück Carola Sch. und die Klägerinnen jeweils über
ihre Erbteile am gesamten Nachlass verfügen wollten; zu Letzterem war gemäß
§ 401 Abs. 1 ZGB jeder Erbe unabhängig von anderen Miterben berechtigt. Zum
einen hätte eine solche Verfügung der notariellen Beurkundung bedurft. Daran fehlt
es hier. Zum andern spricht auch der Wortlaut des Verzichtsprotokolls vom 8. Mai
1979 dagegen, dass über die Erbteile verfügt werden sollte. Denn die Überschrift
lautet "Protokoll über die Erklärung des Verzichts auf das Eigentum an einem
Grundstück" und in der wesentlichen Passage wird unter Bezugnahme auf § 310 des
Zivilgesetzbuchs der DDR auf die Erbanteile am "vorstehend näher bezeichneten in
R. belegenen landwirtschaftlichen Grundstück des Herrn Richard Sch." verzichtet.
Auch im Grundbuch wurde vermerkt "Auf das Eigentum wurde verzichtet." Da auch
das Verwaltungsgericht keine gegenteiligen Feststellungen getroffen hat, ist hier von
einem Verzicht auf einen einzelnen Nachlassgegenstand im Sinne des § 400 ZGB
und nicht von einer Verfügung über die Erbteile gemäß § 401 ZGB auszugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.
Gödel Golze Dr. von Heimburg
Richter am BVerwG Postier
Neumann
kann wegen Urlaubs
nicht unterschreiben.
Gödel
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 24 183,43 €
festgesetzt.
Gödel Golze Dr. von Heimburg
Richter am BVerwG Postier
Neumann
kann wegen Urlaubs
nicht unterschreiben.
Gödel
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Vermögensrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
VermG
§ 1 Abs. 3
ZGB (DDR) § 400 Abs. 1 Satz 2
Stichworte:
Anscheinsbeweis; Ausreise; ausreisewillige Miterbin; Erbengemeinschaft;
Gesamthandseigentum; Kausalität; einzelner Nachlassgegenstand; Nötigung;
Verzicht; Mitverzicht; widerlegbare Vermutung.
Leitsatz:
Verzichteten in der DDR verbleibende Miterben in zeitlichem Zusammenhang mit
dem Verzicht eines ausreisewilligen Miterben auf ihr durch die Erbengemeinschaft
gesamthänderisch gebundenes Eigentum an einzelnen Vermögenswerten, so spricht
der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Nötigung des ausreisewilligen
Miterben kausal für den Verzicht der verbleibenden Miterben war.
Urteil des 8. Senats vom 31. August 2005 - BVerwG 8 C 11.05
I. VG Frankfurt (Oder) Urteil vom 27.09.2004 - Az.: VG 5 K 1168/98 -