Urteil des BVerwG vom 24.07.2007

BVerwG: neues recht, neue beweismittel, strafurteil, disziplinarverfahren, bindungswirkung, steuerhinterziehung, beweisantrag, beihilfe, strafverfahren, verfahrensmangel

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 65.07
OVG 12 Bf 119/06
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. Juli 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Albers
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und Dr. Heitz
beschlossen:
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Hamburgischen Oberver-
waltungsgerichts vom 30. März 2007 wird zurückgewie-
sen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die auf die Revisionszulassungsgründe gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3
VwGO, § 65 Abs. 1 HmbDG gestützte Beschwerde kann keinen Erfolg haben.
Das Oberverwaltungsgericht hat das Berufungsverfahren auf der Grundlage
des am 1. März 2004 in Kraft getretenen Hamburgischen Disziplinargesetzes
vom 18. Februar 2004 - HmbDG - (HmbGVBl S. 69) durchgeführt. In dem Beru-
fungsurteil hat es die erstinstanzlich ausgesprochene Entfernung des Beklagten
aus dem Dienst bestätigt. In den Urteilsgründen heißt es, der Beklagte sei als
Finanzbeamter nicht mehr tragbar, weil er außerdienstlich schwerwiegende
Steuerstraftaten begangen habe. Deswegen sei er durch rechtskräftiges Straf-
urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - Hamburg vom 11. September 2003
zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt worden, die zur Be-
währung ausgesetzt worden sei. Das Amtsgericht habe es als erwiesen ange-
sehen, dass dem Beklagten vorsätzliche Steuerhinterziehung in 4 Fällen sowie
Anstiftung und Beihilfe zur Steuerhinterziehung in insgesamt 11 Fällen zur Last
fielen. Die zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen des Strafurteils seien
für das Disziplinarklageverfahren bindend. Das Vorbringen des Beklagten, das
Strafurteil beruhe auf einer Urteilsabsprache, sei nicht geeignet, die Richtigkeit
der Tatsachenfeststellungen in Zweifel zu ziehen. Das Strafgericht habe in den
Urteilsgründen dargelegt, warum es von deren Richtigkeit überzeugt sei. Dem
Strafurteil läge eine ausführliche Beweisaufnahme zugrunde. Es gebe keine
Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte wegen Taten verurteilt worden sei, die
er nicht begangen habe.
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1. Mit der Beschwerde macht der Beklagte geltend, das Berufungsurteil leide
an einem Verfahrensfehler, weil das Berufungsverfahren nicht nach altem
Recht, d.h. nach der Hamburgischen Disziplinarordnung vom 8. Juli 1971
- HmbDO - (HmbGVBl S. 133) durchgeführt worden sei. Diese Verfahrensrüge,
mit der der Beklagte eine Wiederholung des Berufungsverfahrens erreichen
will, macht nur bei Anwendung neuen Rechts Sinn. Denn nur § 65 Abs. 1
HmbDG sieht die Revision gegen Berufungsurteile und die Beschwerde gegen
ihre Nichtzulassung vor. Nach altem Recht werden die Berufungsurteile des
Oberverwaltungsgerichts als Nachfolgegericht des aufgelösten Disziplinarhofes
(vgl. § 89 Abs. 3 Satz 2 HmbDG) mit ihrer Verkündung rechtskräftig (§ 81
HmbDO). Gegen sie ist folglich kein Rechtsmittel gegeben (vgl. Beschluss vom
28. Juni 2005 - BVerwG 2 B 29.05 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 2). Auf
der Grundlage neuen Rechts bleibt der Verfahrensrüge der Erfolg aus mehre-
ren Gründen versagt:
Zum einen hat der Beklagte das Rügerecht gemäß §§ 556, 295 Abs. 1 ZPO
verloren. Diese Vorschriften finden gemäß § 173 Satz 1 VwGO im Verwal-
tungsprozess Anwendung (Urteile vom 31. August 1964 - BVerwG 8 C 350.63 -
BVerwGE 19, 231 <234> und vom 6. Juli 1998 - BVerwG 9 C 45.97 - BVerwGE
107, 128 <132>; stRspr). Dementsprechend gelten sie gemäß § 22 HmbDG,
der § 3 BDG entspricht, auch im Disziplinarklageverfahren. Gemäß § 556 ZPO
kann ein Beteiligter die Verletzung einer das Verfahren der Berufungsinstanz
betreffenden Vorschrift in der Revisionsinstanz nicht mehr rügen, wenn er das
Rügerecht bereits in der Berufungsinstanz nach der Vorschrift des § 295 ZPO
verloren hat. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift verliert ein Beteiligter das Rüge-
recht, wenn er auf die Befolgung der Verfahrensvorschrift verzichtet oder den
Verfahrensmangel in der mündlichen Verhandlung nicht gerügt hat, obgleich er
zu dieser Verhandlung erschienen war und ihm der Mangel bekannt war oder
bekannt sein musste.
Die Voraussetzungen des § 295 Abs. 1 Alt. 2 ZPO liegen hier vor. Denn der
Prozessbevollmächtigte des Beklagten hat in der mündlichen Berufungsver-
handlung vom 30. März 2007 ausweislich des Sitzungsprotokolls nach dem ge-
richtlichen Hinweis, nach vorläufiger Rechtsauffassung sei neues Recht anzu-
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wenden, erklärt: „Dies überzeugt mich. Ich bin mit der Anwendung neuen
Rechts einverstanden.“ Dadurch hat er unmissverständlich zum Ausdruck ge-
bracht, dass er keine Einwendungen gegen die vom Oberverwaltungsgericht
vertretene Auslegung und Anwendung der maßgebenden Verfahrensvorschrift
gemäß § 89 Abs. 4 Satz 1 HmbDG und damit gegen die Anwendung neuen
Rechts gehabt, vielmehr die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts geteilt
hat. Diese Erklärung muss sich der Beklagte gemäß § 85 Abs. 1 Satz 1 ZPO,
§ 173 Satz 1 VwGO, § 22 HmbDG zurechnen lassen. Im Übrigen hat der Be-
klagte auch vor der mündlichen Berufungsverhandlung stets die Rechtsauffas-
sung vertreten, das gerichtliche Disziplinarverfahren richte sich nach neuem
Recht. Zum anderen ist nicht erkennbar, dass das Berufungsurteil auf dem gel-
tend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann. „Beruhen“ im Sinne von
§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO meint die Möglichkeit, dass das Gericht ohne den
Mangel zu einem sachlich günstigeren Ergebnis hätte gelangen können. Es
darf nicht auszuschließen sein, dass der Mangel die Ursache für das Ergebnis
gewesen sein kann (Beschluss vom 14. August 1962 - BVerwG 5 B 83.61 -
BVerwGE 14, 342 <346 f.>; stRspr).
Vorliegend sind Anhaltspunkte weder dargetan noch ersichtlich, die darauf hin-
deuten, dass das Oberverwaltungsgericht bei Durchführung des Berufungsver-
fahrens nach Maßgabe der Hamburgischen Disziplinarordnung womöglich von
der Bestätigung der erstinstanzlich ausgesprochenen Entfernung des Beklag-
ten aus dem Beamtenverhältnis abgesehen und eine mildere Disziplinarmaß-
nahme verhängt hätte. Denn das Berufungsurteil beruht ausschließlich auf den
Tatsachenfeststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils, die auch gemäß
§ 17 Abs. 1 Satz 1 und 2 HmbDO für das gerichtliche Disziplinarverfahren bin-
dend wären. Diese Vorschrift stimmt hinsichtlich der hier einschlägigen Teile
wörtlich mit der vom Oberverwaltungsgericht angewandten Nachfolgeregelung
gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 und 2 HmbDG überein.
2. Weiterhin wirft der Beklagte die Frage als rechtsgrundsätzlich bedeutsam im
Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf, ob die tatsächlichen Feststellungen
eines Strafurteils auch im Falle einer Urteilsabsprache (sog. Deal) für das ge-
richtliche Disziplinarverfahren bindend seien. Er trägt vor, ein Deal komme wie
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ein Vergleich im Zivil- oder Verwaltungsprozess durch gegenseitiges Nachge-
ben zustande. Vorliegend sei allen Beteiligten in der Hauptverhandlung vor
dem Amtsgericht klar gewesen, dass im Falle des Abschlusses des Deals auf
eine Aufklärung des Sachverhalts verzichtet werde. Die Sitzungsvertreterin der
Staatsanwaltschaft habe ihre Zustimmung davon abhängig gemacht, dass der
Beklagte einen größeren Tatumfang als „tatsächlich erfolgt bzw. bis dahin ein-
geräumt“ zugestehe. Das Oberverwaltungsgericht habe ohne überzeugende
Gründe den Beweisantrag abgelehnt, den Vorsitzenden des Schöffengerichts
als Zeugen zu vernehmen.
Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO, wenn sie eine konkrete, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche
Frage des revisiblen Rechts von weit über den Einzelfall hinausreichender Be-
deutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder
der Rechtsfortbildung der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf (Be-
schluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>;
stRspr).
Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der vom Beklagten aufgeworfenen
Rechtsfrage nicht gegeben. Es ist geklärt, dass die gesetzlich angeordnete
Bindungswirkung der Tatsachenfeststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils
entgegen der Auffassung des Beklagten nicht bereits deshalb entfällt, weil dem
Urteil eine Absprache zugrunde liegt.
Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 HmbDG sind die den Urteilsspruch tragenden tat-
sächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren im
Disziplinarverfahren, das dieselben Tatsachen zum Gegenstand hat, bindend.
Nach Satz 2 dieser Vorschrift haben die für Disziplinarsachen zuständigen Ge-
richte zu Gunsten des Beamten die nochmalige Prüfung solcher Feststellungen
zu beschließen, deren Richtigkeit ihre Mitglieder mit Stimmenmehrheit bezwei-
feln.
Die Auslegung dieser Bestimmungen durch das Oberverwaltungsgericht ent-
spricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der inhaltsglei-
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chen Vorschrift des § 18 Abs. 1 Satz 1 und 2 BDO. Danach ist die Lösung von
den Tatsachenfeststellungen des rechtskräftigen Strafurteils nur zulässig, wenn
das Disziplinargericht ansonsten auf der Grundlage eines unrichtigen Sachver-
halts entscheiden müsste. Dies ist etwa der Fall, wenn die Tatsachenfeststel-
lungen des Strafurteils in Widerspruch zu Denkgesetzen oder allgemeinen Er-
fahrungssätzen stehen, aus sonstigen Gründen offenbar unrichtig oder in ei-
nem ausschlaggebenden Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher
Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind. Darüber hinaus kommt eine
Lösung in Betracht, wenn neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Straf-
gericht nicht zur Verfügung standen, und nach denen die Tatsachenfeststellun-
gen jedenfalls auf erhebliche Zweifel stoßen (Urteile vom 29. November 2000
- BVerwG 1 D 13.99 - BVerwGE 112, 243 <245> und vom 16. März 2004
- BVerwG 1 D 15.03 - Buchholz 232 § 54 Satz 3 BBG Nr. 36; stRspr).
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch geklärt, dass
eine dem Strafurteil zugrunde liegende Urteilsabsprache die gesetzlich ange-
ordnete Bindungswirkung nicht ohne weiteres entfallen lässt (Urteil vom
24. Februar 1999 - BVerwG 1 D 31.98 - juris Rn. 13, 16). Vielmehr setzt eine
Lösung von den Tatsachenfeststellungen eines solchen Strafurteils voraus,
dass die Absprache wesentlichen Anforderungen nicht genügt, die nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für die Zulässigkeit von Urteilsab-
sprachen unerlässlich sind (vgl. grundlegend BGH, Urteil vom 28. August 1997
- 4 StR 240/97 - NStZ 1998, 31; Beschluss des Großen Senats für Strafsachen
vom 3. März 2005 - GSSt 1/04 - NStZ 2005, 389). Ein Strafurteil, das auf einer
unzulässigen Absprache beruht, gilt als unter Verletzung wesentlicher Verfah-
rensvorschriften zustande gekommen (Urteil vom 14. März 2007 - BVerwG
2 WD 3.06 - juris Rn. 25). Mit dieser Rechtsprechung steht der Bedeutungsge-
halt in Einklang, den das Oberverwaltungsgericht § 15 Abs. 1 Satz 1 und 2
HmbDG im Hinblick auf Urteilsabsprachen beigemessen hat.
Einen weitergehenden Klärungsbedarf, der die Revisionszulassung wegen
grundsätzlicher Bedeutung rechtfertigen könnte, hat der Beklagte nicht aufge-
zeigt. Sein Vorbringen enthält keine Auseinandersetzung mit der im Berufungs-
urteil dargestellten Rechtsprechung zu der aufgeworfenen Rechtsfrage. Statt-
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dessen beschränkt er sich darauf darzulegen, die gesetzlich angeordnete Bin-
dungswirkung widerspreche dem „Wesen des Deals“ im Strafverfahren. Den
behaupteten Beweisantrag, den Vorsitzenden des Schöffengerichts als Zeugen
zu - nicht näher bezeichneten - Fragen des Zustandekommens der Urteilsab-
sprache zu vernehmen, hat der Beklagte ausweislich des Sitzungsprotokolls in
der mündlichen Berufungsverhandlung nicht gestellt.
Im Übrigen betreffen die Behauptungen des Beklagten zum Zustandekommen
eines angeblichen Deals vor dem Amtsgericht nur den Tatsachenkomplex K.
(Fälle 12 bis 15). Von dem „Gesamtbetrag der Steuern, zu deren Hinterziehung
der Beamte angestiftet oder Beihilfe geleistet bzw. vorsätzlich unrichtige Anga-
ben gemacht hat, einschließlich der Fälle der versuchten Steuerhinterziehung“,
der sich nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts auf
359 521,20 DM belief, entfielen auf den Komplex K. „nur“ 188 230,20 DM, von
denen der Beamte nach diesen Feststellungen wiederum nur „von der Hälfte
wusste“ (S. 33 der Gründe des Berufungsurteils). Der Beamte will insoweit auf
Verlangen der Staatsanwaltschaft 50 000 DM mehr zugestanden haben, als er
tatsächlich gewusst habe. Eine Unrichtigkeit der strafgerichtlichen Feststellun-
gen dieses Umfangs hat das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich als unerheb-
lich gewürdigt. Es hat ausgeführt: „Insoweit gelangt das Gericht auch dann zu
einer Entfernung aus dem Dienst, wenn unterstellt wird, der Beamte sei von
erheblich geringeren Schwarzumsätzen und damit einem insoweit erheblich
geringeren Hinterziehungsbetrag ausgegangen“ (S. 34 der Urteilsgründe). An-
gesichts der in Rede stehenden Zahlen lässt die ebenso umfangreiche wie de-
taillierte Würdigung auch nach ihrer Schwerpunktsetzung Gründe zur Bean-
standung dieser tatrichterlichen Würdigung nicht erkennen. Hierzu hat die
Nichtzulassungsbeschwerde keine Revisionszulassungsgründe geltend ge-
macht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 76 Abs. 4 Satz 1
HmbDG.
Albers Dr. Müller Dr. Heitz
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