Urteil des BVerwG vom 29.09.2005

BVerwG: serbien und montenegro, kosovo, behandlung, abschiebung, hauptsache, pauschal, diabetes, beweisantrag, bundesamt, hund

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 54.05
OVG 13 LB 14/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. September 2005
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und R i c h t e r
beschlossen:
Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungs-
gerichts vom 2. Juni 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schluss-
entscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens
folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsa-
che.
G r ü n d e :
Die nach Zurückverweisung der Sache durch den Beschluss des Senats vom
15. Dezember 2004 - BVerwG 1 B 150.04 - erneut auf einen Verfahrensmangel
durch Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 108 Abs. 1 VwGO,
Art. 103 Abs. 1 GG) gestützte Beschwerde ist zulässig und begründet. Im Interesse
der Verfahrensbeschleunigung wird die Sache wiederum gemäß § 133 Abs. 6 VwGO
unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Berufungsgericht zurück-
verwiesen.
Die Beschwerde rügt im Ergebnis zu Recht (Beschwerdebegründung S. 2 f.), dass
das Berufungsgericht mit der Ablehnung des Beweisantrags im Schriftsatz der Klä-
gerin vom 23. Mai 2005 (GA Bl. 183 f.) als "Ausforschungsbeweis" das rechtliche
Gehör verletzt hat. Die Ablehnung als - unzulässiger, nämlich unsubstantiierter, auf
das Geradewohl oder ins Blaue hinein gestellter - "Ausforschungs"-Beweisantrag ist
zwar nach dem Prozessrecht grundsätzlich möglich. Ein ablehnbarer Ausforschungs-
beweis liegt indes nur vor in Bezug auf Tatsachenbehauptungen, für deren Wahr-
heitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, die mit ande-
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ren Worten ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich "aus der Luft gegriffen" aufge-
stellt werden, für die tatsächliche Grundlagen jedoch fehlen (vgl. zuletzt etwa Be-
schluss vom 5. März 2002 - BVerwG 1 B 194.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO
Nr. 320 und Beschluss vom 30. Januar 2002 - BVerwG 1 B 326.01 - Buchholz 310
§ 98 VwGO Nr. 69). Die Beschwerde wendet zutreffend ein, dass diese Vorausset-
zungen für eine Ablehnung des Beweisantrags hier nicht vorgelegen haben.
Das Berufungsgericht begründet die Ablehnung damit, dass die Beweisbehauptung
zu schweren auslandsbezogenen Gesundheitsgefahren nach einer Abschiebung
wegen des Nichtvorhandenseins bzw. der Nichterreichbarkeit einer stationären kin-
derdiabetologischen Einrichtung (einer Klinik mit Fachwissen zur Behandlung der
Diabetes im Kindesalter) im Heimatstaat eine "bloße Behauptung der Klägerin" dar-
stelle, "die sich auf keinerlei Erkenntnisse stützen" könne (Schreiben des Berichter-
statters vom 24. Mai 2005 an die Klägerin, GA Bl. 184), sowie damit (BA S. 3), dass
den (vom Gericht angeforderten) Angaben des behandelnden Internisten vom
14. März 2005 "nicht zu entnehmen" sei, dass "etwa die Universitätsklinik in Prishtina
oder eine Kinderklinik nicht ausreichend wäre, um eine Diabetesumstellung oder
sonstige Behandlung der Klägerin vorzunehmen". Auch bei dem von der Klägerin in
Deutschland aufgesuchten "Diabetes-Zentrum Q." handele es sich nicht um eine
spezielle "kinderdiabetologische Einrichtung". Demgegenüber hatte die Klägerin
durch die Vorlage der Stellungnahme des behandelnden Arztes vom 14. März 2005
die unbedingte Notwendigkeit des Zugangs zu einer stationären kinderdiabetologi-
schen Betreuungsmöglichkeit in der Nähe des Wohnortes vorgetragen und mit weite-
rem Schriftsatz vom 31. Mai 2005 (GA S. 188 f.) geltend gemacht, dass in keiner der
zum Teil sehr ausführlichen Auskünfte ausgeführt werde, "dass es im Kosovo statio-
näre kinderdiabetologische Einrichtungen" überhaupt gebe. Deshalb sei "positiv da-
von auszugehen, dass eine stationäre kinderdiabetologische Einrichtung im Kosovo
tatsächlich nicht existiert, da diese sonst als besonderer Umstand sicher in den Aus-
künften genannt" worden wäre. Damit setzt sich das Berufungsgericht nicht ausein-
ander. Es wertet vielmehr zum einen die - nicht belegte - "Erkenntnislage auch in
Serbien (einschließlich Kosovo und Montenegro)" pauschal dahin, dass eine statio-
näre Insulinanpassung im ganzen Land "möglich" sei und stützt sich zum anderen
darauf, dass den Angaben des behandelnden Arztes vom 14. März 2005 "nicht zu
entnehmen" sei, "dass etwa die Universitätsklinik in Prishtina oder eine Kinderklinik
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nicht ausreichend wäre, um eine Diabetesumstellung oder sonstige Behandlung der
Klägerin vorzunehmen" (BA S. 3). Dass in den vorliegenden Erkenntnissen nicht
speziell von stationären kinderdiabetologischen Einrichtungen die Rede sei, sei "un-
erheblich" (BA S. 3). Das Oberverwaltungsgericht setzt damit letztlich der nach sei-
ner Auffassung als spekulativ auf Ausforschung gerichteten Behauptung der Kläge-
rin, dass in ihrem Heimatland (und speziell im Kosovo) keine entsprechenden Ein-
richtungen existierten oder sie diese nicht wie erforderlich erreichen könne, eine
ebenso spekulative Feststellung entgegen, die es seinerseits der - zudem unter Ver-
stoß gegen das rechtliche Gehör weder in der angefochtenen noch in der pauschal
in Bezug genommenen ersten Berufungsentscheidung präzisierten und belegten -
"Erkenntnislage" entnehmen will. Damit überspannt das Berufungsgericht unter den
vorliegenden Umständen die Anforderungen an die Substantiierung des gestellten
Beweisantrags auf Einholung von sachverständigen Stellungnahmen. Das Beru-
fungsgericht durfte deshalb den Beweisantrag mit der gegebenen Begründung nicht
ablehnen. Mit der Ablehnung der beantragten Beweiserhebung hat das Gericht
zugleich seine Pflicht zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts
von Amts wegen (§ 86 Abs. 1 VwGO) verletzt, weil sich ihm hätte aufdrängen müs-
sen, die unklare - von ihm lediglich unterstellte, von der Klägerin mit zumindest eben-
falls vertretbaren Argumenten gegenteilig gewürdigte - Auskunftslage ergänzend wei-
ter aufzuklären.
Zu den weiteren Rügen der Klägerin, auf die es danach nicht mehr ankommt, be-
merkt der Senat: Der Hinweis auf eine Rückführungsvereinbarung zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Serbien und Montenegro für Flücht-
linge aus dem Kosovo, die eine Abschiebung in andere Teile des ehemaligen Jugos-
lawien ausschließe, hätte der hierzu weiter erhobenen Gehörsrüge schon deswegen
nicht zum Erfolg verhelfen können, weil die Klägerin diesen tatsächlichen Gesichts-
punkt erstmals im Beschwerdeverfahren eingewendet hat. Außerdem musste die
Klägerin aus Rechtsgründen damit rechnen, dass Abschiebungsschutz nach § 60
Abs. 7 AufenthG ebenso wie früher nach § 53 Abs. 6 AuslG nur bei im Abschiebe-
zielstaat landesweit drohenden Gefahren in Betracht kommt (vgl. zuletzt etwa Be-
schluss vom 4. Februar 2004 - BVerwG 1 B 291.03 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG
Nr. 75 und Beschluss vom 10. Oktober 2002 - BVerwG 1 B 339.02 - Buchholz
402.240 § 53 AuslG Nr. 65). Dabei ist ferner generell auch auf eine - hier bisher nicht
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in Frage gestellte - freiwillige Rückkehrmöglichkeit abzustellen unabhängig davon, ob
oder welche Vereinbarungen über zwangsweise Rückführungen bestehen und ob
eine Abschiebung tatsächlich möglich ist (vgl. Urteil vom 15. April 1997 - BVerwG
9 C 38.96 - BVerwGE 104, 265 <277 ff.> = Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990
Nr. 7). Soweit die Beschwerde außerdem noch rügt, der angefochtene Beschluss
(BA S. 3) verkenne "die Definition eines Kindes in Abgrenzung zum Jugendlichen",
weist sie der Sache nach zwar zutreffend darauf hin, dass eine eigene Sachkunde
des Berufungsgerichts zur Beurteilung der fortbestehenden Notwendigkeit einer "kin-
der"diabetologischen Betreuung der im Februar 1992 geborenen und im Zeitpunkt
der Berufungsentscheidung 13 Jahre alten Klägerin nicht erkennbar ist. Wenn das
Gericht von der Stellungnahme des behandelnden Arztes abweichen wollte, hätte es
insoweit eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens bedurft. Die von
der Beschwerde beanstandeten Bemerkungen hierzu in dem angefochtenen Be-
schluss (BA S. 3 Abs. 2 Satz 1) sind aber bei verständiger Würdigung der Entschei-
dungsgründe nicht als entscheidungstragende, die Ablehnung selbständig begrün-
dende Erwägung zu verstehen.
Zur Vermeidung von Missverständnissen bemerkt der Senat ferner ergänzend, dass
§ 60 Abs. 7 AufenthG nur hinsichtlich der im vorliegenden Verfahren gegen das
Bundesamt zu prüfenden tatbestandlichen Voraussetzungen des Abschiebungsver-
bots dem früheren § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG "voll" entspricht (BA S. 2), nicht aber
hinsichtlich der Rechtsfolge (nunmehr "soll"), über die von der Ausländerbehörde zu
entscheiden ist.
Eckertz-Höfer Hund Richter
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