Urteil des BVerwG vom 27.05.2013

BVerwG: recht auf leben, bewaffneter konflikt, afghanistan, asylrecht, leib, gefahr, abschiebung, verfahrensmangel, prozesspartei, rüge

BVerwG 10 B 6.13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 6.13
VG Aachen - 05.05.2011 - AZ: VG AN 11 K 11.30114
Bayerischer VGH München - 31.01.2013 - AZ: VGH 13a B 12.30045
In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Mai 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil
des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 1. Februar 2013 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1 Die Beschwerde, mit der ein Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sowie die
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht
werden, bleibt ohne Erfolg.
2 1. Die von dem Kläger erhobenen Grundsatzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) führen nicht zur
Zulassung der Revision.
3 1.1 Wird die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§
132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) begehrt, setzt die hinreichende Darlegung dieses Zulassungsgrunds
gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich
ungeklärten und sowohl für das Berufungsurteil als auch die angefochtene
Revisionsentscheidung entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts voraus
und verlangt außerdem die Angabe, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende
Bedeutung bestehen soll (stRspr, vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 -
Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 = NJW 1997, 3328 m.w.N.). Diesen
Darlegungsanforderungen genügt das Vorbringen der Beschwerde nicht.
4 1.2 Die Beschwerde hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
„ob eine Abschiebung nach ganz Afghanistan möglich ist“
bzw.
„ob eine Unterscheidung nach der Herkunft eines afghanischen Flüchtlings nach der jeweiligen
Region - sogenanntes ‚Bodycount’ - rechtlich zulässig ist“.
und verweist zur Begründung auf die angespannte Sicherheits- und Versorgungslage, die das
Auswärtige Amt veranlasst habe, hinsichtlich Afghanistans eine Reisewarnung zu erlassen.
5 Mit diesem und dem weiteren Vorbringen zur medizinischen Versorgungslage und der
Sicherheitslage in Afghanistan, für die eine Reihe von Berichten über Übergriffe, Tötungen und
Kampfhandlungen aufgelistet werden und geltend gemacht wird, spätestens seit der
sogenannten Frühjahrsoffensive der Taliban bestehe in ganz Afghanistan eine extreme
Gefahrenlage und in ganz Afghanistan ein bewaffneter Konflikt im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG, zeigt die Beschwerde keine klärungsbedürftige Frage des revisiblen Rechts auf. Denn
dieses Vorbringen zielt der Sache nach nicht auf eine Rechtsfrage, sondern auf die dem
Tatsachengericht vorbehaltene Prognose, ob dem Kläger aufgrund seiner persönlichen
Verhältnisse angesichts der politischen Gegebenheiten in seiner Heimat bei einer Rückkehr
eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG droht
bzw. eine extreme Gefahrenlage besteht, die in verfassungskonformer Anwendung des § 60
Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG eine Abschiebung nach Afghanistan hindert. Die Beschwerde
greift damit der Sache nach die vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen
zu den Prognosegrundlagen sowie die darauf aufbauende Prognose als Teil der
Beweiswürdigung an und stellt dem ihre eigene Einschätzung der Sachlage entgegen, ohne
insoweit eine konkrete Rechtsfrage aufzuzeigen.
6 1.3 Soweit das Beschwerdevorbringen geltend macht, das Abstellen auf die Herkunftsregion
bedeute im Ergebnis das Zählen der Toten in einem bestimmten Zeitraum in einer bestimmten
Gegend - das sogenannte „Bodycount“ -, was mit dem vom Grundgesetz absolut geschützten
Recht auf Leben unvereinbar sei, legt dies ebenfalls keine klärungsbedürftige Rechtsfrage dar.
Denn es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts rechtsgrundsätzlich geklärt,
dass und unter welchen Voraussetzungen eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder
Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG)
besteht (s. etwa Urteile vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 =
Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 22, vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 -
BVerwGE 136, 360 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 38 und vom 17. November
2011 - BVerwG 10 C 13.10 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u Asylrecht Nr. 58) bzw. von einer
extremen Gefahrenlage auszugehen ist, bei der in verfassungskonformer Auslegung des § 60
Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG Abschiebungsschutz auch dann zu gewähren ist, wenn eine
Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG nicht ergangen ist (s. etwa Urteil vom 8. September
2011 - BVerwG 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 - Rn. 22 f. m.w.N.), und dass es für die
Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte u.a. jener quantitativen Ermittlung des Tötungs-
und Verletzungsrisikos bedarf, welche die Beschwerde unter dem Begriff des „Bodycount“ als
vermeintlich grundgesetzwidrig erachtet. In der Rechtsprechung der Bundesverwaltungsgerichts
ist des Weiteren geklärt (Urteil vom 31. Januar 2013 - BVerwG 10 C 15.12 - juris Rn. 13), dass
die tatbestandlichen Voraussetzungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG auch dann erfüllt sein können, wenn sich der bewaffnete Konflikt nicht auf das
gesamte Staatsgebiet erstreckt, und daher auch eine Betrachtung geboten sein kann, die für die
Gefahrenprognose nach Herkunftsregionen innerhalb des Heimatstaates differenziert. Die
Beschwerde lässt keinen weiteren oder neuerlichen Klärungsbedarf erkennen.
7 2. Die auf den Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG) gestützte Beschwerde hat ebenfalls keinen Erfolg.
8 2.1 Die von der Beschwerde der Sache nach geltend gemachten Verstöße gegen den
Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) sind nur dann ausreichend dargelegt, wenn
substantiiert vorgetragen wird, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf
bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür
in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der
unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Weiterhin muss
dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der
mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben
nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten
Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen
(Beschluss vom 19. August 1997 a.a.O.). Die Rüge, das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, §
108 Abs. 2 VwGO) sei verletzt, erfordert regelmäßig die substantiierte Darlegung dessen, was
die Prozesspartei bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte und inwiefern
der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (vgl.
Beschluss vom 19. März 1991 - BVerwG 9 B 56.91 - Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 25 S. 12
m.w.N.). Schließlich ist bei allen Verfahrensrügen darzulegen, dass und inwieweit die
angefochtene Entscheidung auf dem behaupteten Mangel beruht, d.h. inwiefern die nicht
aufgeklärte Tatsache - vom materiell-rechtlichen Standpunkt des Berufungsgerichts - zu einer
günstigeren Entscheidung hätte führen können.
9 2.2 Angesichts der von dem Berufungsgericht in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel
(Ladungsverfügung vom 12. Dezember 2012) sowie deren Auswertung in dem angegriffenen
Urteil genügt die Beschwerde diesen Maßstäben nicht, wenn vorgetragen wird, es verstoße
gegen das rechtliche Gehör, „dass die vielen weiteren Auskünfte zu Afghanistan, beispielsweise
die Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes, die internen Berichte der
Bundeswehr, die vielfachen Zeitungsberichte nicht zu einer Entscheidung herangezogen
werden und diesbezüglich weiter nachgeforscht wird.“
10 3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
11 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß §
83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft