Urteil des BVerwG vom 14.03.2017

BVerwG ()

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 20 F 5.08
VG 1 A 10.08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 22. Januar 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kugele
und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
beschlossen:
Der Antrag des Klägers wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zwischenverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischen-
verfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Antrag des Klägers ist - derzeit - unzulässig. Der begehrten Feststellung
steht entgegen, dass es nach dem derzeitigen Verfahrensstand an einer förm-
lich verlautbarten Entscheidung des Gerichts der Hauptsache zur Entschei-
dungserheblichkeit der nicht zugänglich gemachten Aktenteile und an einer
darauf gründenden Ermessensentscheidung der obersten Aufsichtsbehörde
fehlt.
Der Antrag eines Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung des im vorliegenden
Fall nach § 99 Abs. 2 Satz 2 VwGO zuständigen Fachsenats des Bundesver-
waltungsgerichts im selbständigen Zwischenverfahren, ob die Verweigerung
der (vollständigen) Verwaltungsvorgänge rechtmäßig ist, setzt voraus, dass das
Gericht der Hauptsache deren Entscheidungserheblichkeit bejaht hat. Ob be-
stimmte Urkunden oder Akten der Vorlagepflicht des § 99 Abs. 1 VwGO unter-
liegen, entscheidet das Gericht der Hauptsache. Dies geschieht in der Weise,
in der das Gericht der Hauptsache auch sonst seiner Pflicht zur Erforschung
des entscheidungserheblichen Sachverhalts vom Amts wegen (§ 86 Abs. 1
VwGO) nachkommt (vgl. Beschluss vom 9. November 1962 - BVerwG 7 B
91.62 - BVerwGE 15, 132 <133>). Beruft sich die Behörde auf die Geheimhal-
tungsbedürftigkeit der Akten, muss das Gericht der Hauptsache zunächst dar-
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über entscheiden, ob es die zurückgehaltenen Unterlagen benötigt, um den
entscheidungserheblichen Sachverhalt umfassend aufzuklären. Denn für den
Zwischenstreit über die Rechtmäßigkeit der Verweigerung muss klargestellt
sein, was er zum Gegenstand haben soll. Dazu bedarf es gemäß § 98 VwGO
i.V.m. § 358 ZPO grundsätzlich eines Beweisbeschlusses des Gerichts der
Hauptsache, weil die Beweisaufnahme ein besonderes Verfahren erfordert
(Beschlüsse vom 24. November 2003 - BVerwG 20 F 13.03 - BVerwGE 119,
229 <230 f.>, vom 22. Januar 2004 - BVerwG 20 F 6.03 - juris Rn. 4, vom
27. Februar 2004 - BVerwG 20 F 18.03 - und vom 12. Januar 2006 - BVerwG
20 F 12.04 - BVerwGE 125, 40 <42>). Durch die Angabe des Beweisthemas
verlautbart das Gericht förmlich, dass es diese Tatsachen als erheblich ansieht.
Ein formelhafter Beschluss, in dem schlicht darauf hingewiesen wird, dass die
Vorlage der (ungeschwärzten und vollständigen) Verwaltungsvorgänge als ent-
scheidungserheblich angesehen wird, genügt ebenso wenig wie eine allgemein
gehaltene Abgabeverfügung (Beschluss vom 17. März 2008 - BVerwG 20 F
42.07 - juris Rn. 5). Es bedarf vielmehr einer förmlichen Verlautbarung der Ent-
scheidungserheblichkeit. Je nach Fallkonstellation wird das Hauptsachegericht
sich auch nicht auf die Angabe des Beweisthemas beschränken können, son-
dern Anlass haben, in den Gründen des Beschlusses zur Entscheidungserheb-
lichkeit im konkreten Fall - sei es mit Blick auf die Zulässigkeit des Rechts-
schutzbegehrens, sei es unter Darlegung der materiell-rechtlichen Vorausset-
zungen des geltend gemachten Anspruchs - Stellung zu nehmen.
Die Entscheidungserheblichkeit der zurückgehaltenen Akten(teile) ist hier nicht
förmlich verlautbart worden. Die Verwaltungsvorgänge (zwei Akten in Kopie mit
teilweisen Schwärzungen und Entnahmen) sind dem Hauptsachegericht auf
seine formularmäßige Bitte um Vorlage im Rahmen der Klagezustellung vom
11. April 2007 vom Bundesministerium des Innern als Vertreter der beklagten
Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 27. Juli 2007, in dem unter
Berufung auf § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Gründe für die Geheimhaltungsbe-
dürftigkeit der geschwärzten bzw. entnommenen Aktenbestandteile erläutert
werden, übersandt worden. Vor Abgabe der Sache - nach Antrag des Klägers -
hat das Hauptsachegericht keine Entscheidung über die Entscheidungserheb-
lichkeit der teilweisen Schwärzungen und Entnahmen getroffen, sondern ledig-
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lich unter Bezugnahme auf die gerichtliche Vorlageverfügung vom 11. April
2007 um „ Ministererklärung“ nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO gebeten, worauf-
hin die Beklagte auf das bereits übermittelte Schreiben vom 27. Juli 2007 ver-
wies.
Aus den vorgelegten Akten ergibt sich, dass die den Kläger betreffende Anord-
nung der unbeschränkten Post- und Telefonüberwachung im Jahre 1998, über
die er mit Schreiben des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 7. Dezem-
ber 2006 informiert worden ist und deren Rechtswidrigkeit er durch das Haupt-
sachegericht mit der Fortsetzungsfeststellungsklage festgestellt sehen will, auf
Art. 1 § 2 Abs. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und
Fernmeldegeheimnisses (G 10 - in der im Jahre 1998 maßgeblichen Fassung)
gestützt worden ist. Insofern hätte das Hauptsachegericht vor Abgabe zunächst
prüfen müssen, ob die ungeschwärzten Aktenbestandteile hinreichen, um fest-
zustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen für die strittige Anordnung vor-
lagen. In diesem Zusammenhang muss sich das Hauptsachegericht auch mit
den Einwänden des Klägers, insbesondere mit deren Substanziiertheit aus-
einandersetzen, um beurteilen zu können, ob über das Klagebegehren auf der
Grundlage der vorgelegten Verwaltungsvorgänge entschieden werden kann.
Der Umstand, dass die Beklagte im Rahmen der Antragserwiderung darauf
hingewiesen hat, dass bestimmten Aktenbestandteilen nicht von vornherein
jegliche Relevanz für die Frage der Rechtmäßigkeit abzusprechen bzw. grund-
sätzliche Relevanz beizumessen sei (Schriftsatz vom 5. September 2008,
S. 16), vermag die Entscheidung des Hauptsachegerichts nicht zu ersetzen. Es
ist allein Aufgabe des Hauptsachegerichts, über die Entscheidungserheblichkeit
zu befinden.
Eine förmliche Verlautbarung über die Entscheidungserheblichkeit ist auch
nicht ausnahmsweise deswegen entbehrlich, weil die Beklagte bereits eine
Sperrerklärung abgegeben, in der sie - wie sie im Schreiben vom 27. Juli 2007
auf Seite 2 ausführt - eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Aspekte des
Einzelfalls vorgenommen hat. Eine solche vorgreifliche Ermessensentschei-
dung genügt nicht den Anforderungen des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Das Er-
fordernis der förmlichen Verlautbarung der Entscheidungserheblichkeit vor Ab-
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gabe an den Fachsenat gewährleistet, dass die oberste Aufsichtsbehörde auf
dieser Grundlage in die gesetzlich geforderte Ermessensabwägung eintreten
kann. Die oberste Aufsichtsbehörde ist wegen Art. 19 Abs. 4 GG in besonde-
rem Maße gefordert, die sich im Verfahren der Hauptsache gegenüberstehen-
den Rechtspositionen der Beteiligten in die Ermessensabwägung nach § 99
Abs. 1 Satz 2 VwGO einzustellen. Durch die Ermessenseinräumung nach § 99
Abs. 1 Satz 2 VwGO wird ihr die Möglichkeit eröffnet, dem öffentlichen Interes-
se und dem individuellen Interesse der Prozessparteien an der Wahrheitsfin-
dung in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess
den Vorrang vor dem Interesse an der Geheimhaltung der Schriftstücke zu ge-
ben (stRspr des Senats; zuletzt Beschluss vom 21. Februar 2008 - BVerwG
20 F 2.07 - BVerwGE 130, 236 Rn. 18 ff.). Dazu ist es - abgesehen von eindeu-
tigen Fallkonstellationen - unerlässlich, dass die Entscheidungserheblichkeit
der (vollständigen) Aktenvorlage durch Beschluss des Hauptsachegerichts
förmlich feststeht. Nur auf der Grundlage einer solchen Feststellung kann die
oberste Aufsichtsbehörde die ihr in § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO auferlegte be-
sondere Ermessensabwägung auf rechtlich gesicherter Grundlage durchführen
(Beschluss vom 17. März 2008 - BVerwG 20 F 42.07 - juris Rn. 7). Der Fach-
senat hat nur zu überprüfen, ob diese Entscheidung, die erst mit Blick auf die
Entscheidungserheblichkeit getroffen werden kann, den an die Ermessensaus-
übung gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO gestellten Anforderungen genügt (Be-
schluss vom 21. Februar 2008 a.a.O. Rn. 11). An einer solchen Ermessensent-
scheidung fehlt es hier.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des
Werts des Streitgegenstands beruht auf § 52 Abs. 2 GKG. Von der Erhebung
von Gerichtskosten für dieses Verfahren wird gemäß § 21 Abs. 1 Satz 3 GKG
abgesehen.
Dr. Bardenhewer Prof. Dr. Kugele Dr. Bumke
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