Urteil des BVerwG vom 23.01.1991

BVerwG (politische verfolgung, verfolgung, beschwerde, drohende gefahr, rechtssatz, gefahr, bundesverwaltungsgericht, bundesverfassungsgericht, annahme, tibet)

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BESCHLUSS
BVerwG 1 B 234.02
VGH A 6 S 150/01
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. Mai 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r , die Richterin am Bundes-
verwaltungsgericht B e c k und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nicht-
zulassung der Revision in dem Urteil des
Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom
19. März 2002 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerde-
verfahrens.
G r ü n d e :
Die allein auf den Revisionszulassungsgrund der Divergenz
(§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) gestützte Beschwerde der Klägerin
hat keinen Erfolg.
Die Beschwerde rügt eine Abweichung von dem Beschluss des Bun-
desverfassungsgerichts vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85,
515/89, 1827/89 - InfAuslR 1991, 200 = BVerfGE 83, 216. Das
Bundesverfassungsgericht habe in dieser Entscheidung den all-
gemeinen Rechtssatz aufgestellt, dass die gegenwärtige Gefahr
politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen aus dem
Schicksal anderer Gruppenmitglieder möglicherweise auch dann
herzuleiten sei, wenn diese Referenzfälle es noch nicht recht-
fertigten, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung aus-
zugehen. Das Berufungsgericht habe zwar diese Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zitiert, den erwähnten Rechtssatz
aber bewusst außer Acht gelassen und stattdessen die dazu in
Widerspruch stehenden Maßstäbe aus dem Urteil des Bundesver-
waltungsgerichts vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 -
BVerwGE 96, 200 zugrunde gelegt, die für eine alle Gruppenmit-
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glieder erfassende gruppengerichtete Verfolgung eine bestimmte
Verfolgungsdichte oder ein staatliches Verfolgungsprogramm
voraussetzten. Diese Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsge-
richts berücksichtige nicht, dass die unmittelbare Betroffen-
heit des Einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungs-
maßnahmen ebenso wie die Gruppengerichtetheit der Verfolgung
nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten
Erscheinungsbildes politischer Verfolgung darstellten. Auch
den Fällen im Übergangsbereich zwischen anlassgeprägter Ein-
zelverfolgung und gruppengerichteter Kollektivverfolgung müsse
nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aber Rech-
nung getragen werden.
Mit diesem Vorbringen wird eine Divergenz im Sinne des § 132
Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht aufgezeigt. Denn die Beschwerde be-
nennt keinen Rechtssatz der berufungsgerichtlichen Entschei-
dung, der zu dem von ihr genannten Rechtssatz des Bundesver-
fassungsgerichts in Widerspruch steht. Die von der Beschwerde
erwähnten Ausführungen zur Verfolgungsdichte und zum Verfol-
gungsprogramm beziehen sich nur auf eine alle Gruppenmitglie-
der erfassende gruppengerichtete Verfolgung, schließen es aber
nicht aus, dass die Zugehörigkeit des Betroffenen zu einer dem
Verfolger missliebigen Gruppe im Rahmen der "Einzelverfolgung
wegen Gruppenzugehörigkeit" berücksichtigt wird (vgl. zu die-
ser Abgrenzung Beschluss vom 22. Februar 1996 - BVerwG 9 B
14.96 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 184 = AuAS 1996, 154
m.w.N.). Eine solche Einzelverfolgung hat das Berufungsgericht
im Falle der Klägerin ebenfalls geprüft und verneint. Entgegen
der Ansicht der Beschwerde stehen die vom Bundesverwaltungsge-
richt zur Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze, an die
auch das Berufungsgericht anknüpft, mit der einschlägigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere dem
von der Beschwerde genannten grundlegenden Beschluss vom
23. Januar 1991 (BVerfGE 83, 216) in Einklang (vgl. hierzu Ur-
teile vom 30. April 1996 - BVerwG 9 C 171.95 - BVerwGE 101,
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134, 139 ff. und vom 23. Juli 1991 - BVerwG 9 C 154.90 -
BVerwGE 88, 367).
Auch die von der Beschwerde erhobene weitere Divergenzrüge
greift nicht durch. Die Beschwerde meint, das Berufungsgericht
habe sich auf den allgemeinen Rechtsstandpunkt gestellt, dass
Maßnahmen jedenfalls dann nicht politische Verfolgung seien,
wenn sie sich nicht allein gegen die ethnische Volkszugehörig-
keit richteten. Demgegenüber habe das Bundesverfassungsgericht
in den Entscheidungen BVerfGE 80, 315 ff. (348) sowie BVerfGE
81, 142 ff. (151) ausdrücklich den Rechtsstandpunkt eingenom-
men, dass die Asylerheblichkeit einer Verfolgungsmaßnahme
nicht dadurch in Frage gestellt sei, dass der Verfolger mit
ihr weitere Zwecke verfolge, die an sich asylneutral seien.
Wenn das Berufungsgericht der Auffassung sei, dass sich die
Maßnahmen chinesischer Stellen jedenfalls auch gegen die eth-
nische Volkszugehörigkeit der Tibeter richteten, ihre Ziel-
richtung aber zunächst die wirtschaftliche Erschließung Tibets
für die wachsende Bevölkerung Chinas sei, schließe dies gerade
nicht die Annahme einer politischen Verfolgung in Anknüpfung
an die ethnische Volkszugehörigkeit der Tibeter aus.
Mit diesem Vorbringen ist eine Divergenz schon deshalb nicht
aufgezeigt, weil das Berufungsgericht mit seinen von der Be-
schwerde in Bezug genommenen Ausführungen (UA S. 18 oben) ei-
nen Rechtssatz des behaupteten Inhalts gar nicht aufgestellt
hat. Diese Ausführungen beziehen sich nämlich nicht wie der
genannte Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts auf die Fra-
ge, ob eine Verfolgungsmaßnahme asylerheblich und als politi-
sche Verfolgung anzusehen ist, sondern auf die hiervon zu un-
terscheidende Frage, ob aus den gegen andere tibetische Volks-
zugehörige gerichteten - asylerheblichen - Übergriffen des
chinesischen Staates eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
drohende Gefahr solcher Übergriffe auch für die Klägerin her-
zuleiten ist. Sie betreffen also die Frage einer allein an die
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tibetische Volkszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten
Verfolgung. Im Rahmen dieser Prognoseentscheidung ist es
- anders als bei der Frage der Asylerheblichkeit einer drohen-
den Verfolgungsmaßnahme - durchaus zulässig und geboten, zum
Zweck der Bestimmung der betroffenen Gruppe oder zur Prüfung
eines staatlichen Verfolgungsprogramms darauf abzustellen, ob
die Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Dritten allein an deren
Volkszugehörigkeit anknüpfen oder ob für die Annahme einer in-
dividuellen Betroffenheit weitere Indizien hinzutreten müssen
(vgl. Urteil vom 30. April 1996, a.a.O, BVerwGE 101, 134, 140
f.). Wenn das Berufungsgericht aufgrund seiner Würdigung der
Auskunftslage zu dem Ergebnis gelangt, dass der chinesische
Staat nach wie vor die Tibeter unterdrückt, die sich in Tibet
offen zum tibetischen Buddhismus bekennen und/oder - etwa in
gewaltfreien Demonstrationen - mehr Freiheit für Tibeter in
der von China so genannten Autonomen Region Tibet verlangen,
eine systematische Verfolgung von Tibetern, die nicht zu die-
sem Personenkreis gehören, allein aufgrund ihrer Volkszugehö-
rigkeit aber verneint (UA S. 17 f.), steht dies nicht in Wi-
derspruch zu den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten
Grundsätzen zur Asylerheblichkeit von Verfolgungsmaßnahmen.
Denn das Berufungsgericht verneint damit nicht die Asylerheb-
lichkeit der gegen einen tibetischen Volkszugehörigen gerich-
teten Verfolgungsmaßnahme, sondern die Gefahr, dass die Kläge-
rin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer derartigen
Maßnahme betroffen wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichts-
kosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der
Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer Beck Prof. Dr. Dörig