Urteil des BVerwG vom 21.04.2009

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BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 2.08
VGH 23 B 07.30501
Verkündet
am 21. April 2009
von Förster
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 21. April 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter sowie
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayeri-
schen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. November 2007 auf-
gehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und wendet sich gegen den Widerruf
seiner Flüchtlingsanerkennung.
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Der 1978 in Bagdad geborene Kläger ist arabischer Volkszugehöriger sunnitisch-
islamischen Glaubens. Er reiste im April 2000 nach Deutschland ein und beantrag-
te Asyl. Zur Begründung berief er sich auf eine tätliche Auseinandersetzung mit
Leibwächtern eines Sohnes von Saddam Hussein. Er sei aus Furcht vor Verhaf-
tung, Folter und einer langjährigen Freiheitsstrafe aus dem Irak geflohen. Mit Be-
scheid vom 24. Mai 2000 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländi-
scher Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt -
den Asylantrag ab, stellte aber fest, dass trotz des aus Sicht des Bundesamts un-
glaubhaften Sachvortrags des Klägers allein wegen der Asylantragstellung die
Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51
Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen. Mit
Bescheid vom 10. Februar 2005 widerrief das Bundesamt wegen der veränderten
politischen Verhältnisse im Irak die Flüchtlingsanerkennung (Nr. 1 des Beschei-
des) und stellte zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Auf-
enthG (Nr. 2 des Bescheides) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3 des Bescheides).
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom
18. April 2007 den Widerrufsbescheid des Bundesamts aufgehoben. Der Verwal-
tungsgerichtshof hat mit Urteil vom 14. November 2007 die Berufung der Beklag-
ten gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückgewiesen. Zur Begründung hat
er im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Der Widerrufsbescheid des Bundes-
amts sei rechtswidrig. Der Kläger habe zwar wegen seines Asylantrages und sei-
ner illegalen Ausreise keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr im Irak zu
befürchten. Ihm drohe aber wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit bei
einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenver-
folgung durch nichtstaatliche Akteure. Der irakische Staat oder nichtstaatliche
Herrschaftsorganisationen seien nicht in der Lage, dagegen Schutz zu gewähren.
Die Sicherheitslage im Irak sei hochgradig instabil und durch Tausende terroristi-
sche Anschläge und fortgesetzte offene Kampfhandlungen geprägt. Auch wenn
nach wie vor Soldaten der Koalitionsstreitkräfte, irakische Sicherheitskräfte, Politi-
ker, Offizielle und Ausländer das Hauptanschlagsziel der Terroristen seien, trage
die weitgehend ungeschützte irakische Zivilbevölkerung den Großteil der Opfer-
last. Die allgemeine Kriminalität sei stark angestiegen. Überfälle und Entführungen
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seien an der Tagesordnung. Im Irak marodierende Todesschwadronen, sowohl
schiitischer als auch sunnitischer Extremisten, entführten Angehörige der jeweils
anderen Bevölkerungsgruppe und erschössen sie. Landesweit ereigneten sich
konfessionell motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folterungen und Entfüh-
rungen der jeweils anderen Glaubensrichtung. Staatlicher Schutz gegen derartige
Übergriffe könne nicht erlangt werden. Im Laufe des Jahres 2006 habe die Gewalt
im Irak einen deutlicher konfessionell ausgerichteten Zug angenommen. Wieder-
holt hätten sunnitische und schiitische Moscheen gebrannt. Straßenzüge in Bag-
dad und in weiteren größeren Städten wie Mosul, Tikrit und Kerkuk würden von
Milizen kontrolliert. Im Oktober 2006 seien 90 sunnitische Araber in Balad umge-
bracht und Hunderte von Sunniten aus der Stadt gejagt worden.
Eine detaillierte Feststellung von Anzahl und Intensität aller solcher Verfolgungs-
maßnahmen gegenüber Sunniten (17 bis 22 % der irakischen Bevölkerung) sei
ebenso wenig möglich wie eine Inbeziehungsetzung zur Größe der betroffenen
Gruppe. Weder sei die genaue Zahl der derzeit noch im Irak lebenden sunniti-
schen Bevölkerung ermittelbar, noch sei es möglich, exakte Erkenntnisse über das
zahlenmäßige Ausmaß der asylrelevanten Übergriffe zu gewinnen. Weitere Auf-
klärung komme nicht in Betracht, weil das Auswärtige Amt aufgrund der desolaten
Sicherheitslage im Irak nicht in der Lage sei, Amtshilfeersuchen der Verwaltungs-
gerichte zu bearbeiten. Die vorhandenen Berichte über zahlreiche einzelne Vorfäl-
le ließen jedoch darauf schließen, dass Sunniten allein wegen ihres Glaubens
häufig Ziel von Übergriffen und Anschlägen würden. Die genaue Anzahl der seit
dem Jahr 2003 im Irak getöteten Sunniten sei ebenso wenig feststellbar wie die
Gesamtanzahl der im Irak getöteten Zivilisten. Nach Angaben der Vereinten Nati-
onen seien im Laufe des Jahres 2006 34 452 Zivilisten eines gewaltsamen Todes
gestorben, weitere 36 685 seien verwundet worden. Auch im ersten Halbjahr des
Jahres 2007 seien monatlich Tausende von Zivilisten bei Feuergefechten, Bom-
benanschlägen, Selbstmordattentaten oder gezielten Morden ums Leben gekom-
men. Viele Entführte seien verschwunden. Immer wieder würden Leichen (auch
von sunnitischen Gläubigen) gefunden. Die beigezogenen Erkenntnisquellen ver-
deutlichten eine zunehmende asylrelevante Verfolgung der Sunniten durch Schii-
ten, insbesondere in Anbetracht der Schwere der zu befürchtenden Übergriffe.
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Dem Kläger sei auch keine innerstaatliche Fluchtalternative eröffnet. Ein Leben in
den kurdisch verwalteten Provinzen im Nordirak sei zumutbar allenfalls Irakern
möglich, die von dort stammten und deren Großfamilie/Sippe dort ansässig sei.
Andere Personen aus dem Zentral- oder dem Südirak stießen dort auf erhebliche
Schwierigkeiten bei der Erlangung physischen Schutzes, beim Zugang zu Wohn-
raum und Beschäftigung sowie anderen Dienstleistungen. Sie könnten dort kein
normales Leben ohne unzumutbare Härten führen. Eine Fluchtalternative gebe es
auch nicht innerhalb des Zentraliraks. Sunnitische Flüchtlinge liefen Gefahr, wenn
sie sich in überwiegend sunnitischen Vierteln größerer Städte niederließen, mit
dortigen sunnitischen Aufständischen in Konflikt zu geraten. Sunnitische Familien,
die aus schiitischen Gebieten vertrieben worden seien, würden immer wieder ver-
dächtigt, Spione zu sein und mit der irakischen Regierung oder den Koalitions-
truppen zusammenzuarbeiten. Zudem fänden sie keine ausreichende Lebens-
grundlage, wenn sie nicht über besondere Beziehungen zu den im Ausweichbe-
reich lebenden Menschen verfügten.
Hiergegen richtet sich die vom Bundesverwaltungsgericht wegen Divergenz zuge-
lassene Revision der Beklagten. Sie rügt im Wesentlichen, der Verwaltungsge-
richtshof sei von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur Fest-
stellung einer Gruppenverfolgung abgewichen und habe insbesondere nicht die
erforderlichen Feststellungen zur Verfolgungsdichte getroffen.
Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt und unterstützt
das Vorbringen der Revision.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsgericht hat die Aufhe-
bung des Widerrufsbescheids durch das Verwaltungsgericht mit einer Begründung
bestätigt, die mit Bundesrecht nicht vereinbar ist (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da
der Senat aufgrund der Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend
selbst entscheiden kann, ob der angefochtene Widerrufsbescheid rechtmäßig ist,
war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Ver-
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handlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen
(§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Widerrufsentscheidung ist § 73
Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom
2. September 2008 (BGBl I S. 1798). Die in dieser Bekanntmachung berücksich-
tigten Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asyl-
rechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I
S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz -, die am 28. August 2007 in Kraft getre-
ten sind, hat der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu
Recht der Berufungsentscheidung zugrunde gelegt. Nach § 73 Abs. 1 AsylVfG ist
die Flüchtlingsanerkennung unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzun-
gen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Auslän-
der nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch
zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
2. Das Berufungsgericht hat zwar ohne Verstoß gegen Bundesrecht den Wegfall
der ursprünglichen Anerkennungsvoraussetzungen infolge der grundlegenden po-
litischen Veränderungen im Irak bejaht. Es hat aber ein dem Widerruf entgegen-
stehendes Drohen erneuter Verfolgung allein damit begründet, dass der Kläger bei
einer Rückkehr in den Irak wegen seines sunnitischen Glaubens mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausge-
setzt wäre, gegen die weder der irakische Staat noch sonstige nichtstaatliche
Herrschaftsorganisationen Schutz gewähren könnten. Dabei ist das Berufungsge-
richt von den Maßstäben abgewichen, die das Bundesverwaltungsgericht für die
Prüfung und Feststellung einer solchen Verfolgung entwickelt hat. Denn es nimmt
eine Gruppenverfolgung für Iraker islamisch-sunnitischen Glaubens an, ohne die
nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebotenen Feststellungen zur Ver-
folgungsdichte zu treffen. Außerdem ist seine Überzeugungsbildung sowie die
Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht im vollen Umfang mit § 108 Abs. 1
VwGO vereinbar. Insbesondere enthält das angefochtene Urteil keine hinreichend
nachvollziehbare Begründung für die Schlussfolgerung, dass sämtliche Übergriffe
gegen Sunniten an deren Religionszugehörigkeit anknüpfen. Zur näheren Begrün-
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dung, warum eine Abweichung von den für die Gruppenverfolgung entwickelten
Maßstäben und Verstöße gegen § 108 Abs. 1 VwGO vorliegen, verweist der Se-
nat auf sein Urteil vom gleichen Tage in dem Verfahren BVerwG 10 C 11.08, mit
dem er ein Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben hat, dessen Gründe inhaltlich
und weitgehend auch wörtlich mit den vorliegenden übereinstimmen, das aller-
dings nicht den Widerruf, sondern die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an
einen Iraker sunnitisch-islamischen Glaubens betrifft.
Es kann offenbleiben, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach einer
neueren, irakische Staatsangehörige betreffenden Erlasslage in anderen, ähnlich
gelagerten Verfahren vom Widerruf der Flüchtlingsanerkennung absieht. Auch
wenn dies der Fall sein sollte, kann der Kläger hieraus nichts zu seinen Gunsten
herleiten. Bei dem mit der Klage angegriffenen Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG
handelt es sich nämlich um eine gebundene Entscheidung, auf die die aus Art. 3
GG abgeleiteten Grundsätze der Selbstbindung der Verwaltung bei Ermessens-
entscheidungen nicht übertragbar sind.
3. Das Berufungsurteil muss hiernach aufgehoben werden. Die Sache muss an
den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen werden, da der Senat mangels aus-
reichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil keine abschließende
Entscheidung darüber treffen kann, ob der angefochtene Widerrufsbescheid
rechtmäßig ist. Bei der erneut vorzunehmenden Prüfung einer Gruppenverfolgung
der Sunniten im Irak wird der Verwaltungsgerichtshof zusätzlich die inzwischen
vorliegenden neuen Erkenntnismittel berücksichtigen und die erforderlichen Fest-
stellungen über das Verfolgungsgeschehen, insbesondere die Verfolgungsdichte
sowie das Ausmaß und die Reichweite der Verfolgungshandlungen, treffen müs-
sen. Sollte das Berufungsgericht eine Verfolgungsgefahr in Teilen des Irak beja-
hen, wird es erneut zu prüfen haben, ob der Kläger unter Berücksichtigung der
aktuellen Verhältnisse im Nordirak oder in mehrheitlich von Sunniten bewohnten
Gebieten des Zentralirak internen Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5
AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004
finden kann. Dabei wird es sich auch mit der Einschätzung anderer Oberverwal-
tungsgerichte zur Eignung dieser Gebiete als innerstaatlicher Fluchtalternative
auseinandersetzen müssen. Gegebenenfalls wird das Berufungsgericht auch noch
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prüfen müssen, ob der Kläger aufgrund seines individuellen Vorbringens bei einer
Rückkehr in den Irak von Verfolgung bedroht ist. Sollte sich der Widerruf als
rechtmäßig erweisen, wird das Berufungsgericht über die Gewährung subsidiären
Schutzes nach der Richtlinie 2004/83/EG (§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG),
hilfsweise über die Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes (§ 60 Abs. 5
und 7 Satz 1 AufenthG) zu entscheiden haben.
Das Berufungsgericht wird die von dem Senat mit Beschluss vom 7. Februar 2008
(BVerwG 10 C 33.07 - Buchholz 451.902 Europäisches Ausländer- und Asylrecht
Nr. 19) dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Vorabentschei-
dung nach Art. 234 Abs. 1 und 3, Art. 68 Abs. 1 EG vorgelegten Fragen zur Aus-
legung der in der Richtlinie 2004/83/EG getroffenen Regelungen über das Erlö-
schen der Flüchtlingseigenschaft - einschließlich des zu beachtenden Wahr-
scheinlichkeitsmaßstabes - zu berücksichtigen haben. Insoweit kann eine Ausset-
zung des Verfahrens in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO (vgl. etwa
Beschluss vom 1. April 2008 - BVerwG 10 C 14.07 -) bis zur Entscheidung des
Gerichtshofs in Betracht kommen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig Richter
Ri’inBVerwG Beck Fricke
ist wegen Urlaubs verhindert
zu unterschreiben.
Dr. Mallmann
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