Urteil des BVerwG vom 24.01.2006

BVerwG (eignung, prognostische beurteilung, stelle, beurteilung, zulassung, prüfung, verurteilung, antragsteller, begründung, beurteilungsspielraum)

Rechtsquellen:
SLV § 40 Abs. 1
Stichworte:
Zulassung; Laufbahnzulassung; charakterliche Eignung; Eignung; Prognose; Eig-
nungsbeurteilung; Prognoseentscheidung; Beurteilungsspielraum.
Leitsätze:
1. Bei der Beurteilung der charakterlichen Eignung eines Bewerbers ist nament-
lich zu prüfen, ob Umstände, die im Beurteilungszeitpunkt aktuell für eine
Nichteignung sprechen, diesen Schluss auch prognostisch für den zu beurtei-
lenden künftigen Zeitraum tragen.
2. Werden vom Bewerber für den maßgeblichen Prognosezeitraum für eine atypi-
sche Entwicklung sprechende Gesichtspunkte oder für die Eignungsbeurtei-
lung relevante veränderte Umstände substantiiert vorgetragen, muss sich die
zuständige Stelle damit, gegebenenfalls unter Hinzuziehung anderweitigen
Sachverstandes, hinreichend auseinander setzen sowie ihre Prognoseent-
scheidung in nachvollziehbarer und nachprüfbarer Weise gegenüber dem Be-
troffenen begründen.
Beschluss des 1. Wehrdienstsenats vom 24. Januar 2006 - BVerwG 1 WB 9.05 -
Ein Berufssoldat mit dem Dienstgrad eines Oberfeldwebels beantragte seine Zu-
lassung zur Laufbahn der Offiziere des militärfachlichen Dienstes (OffzMilFD).
Nachdem er in einem Strafverfahren wegen alkoholbedingter vorsätzlicher Ge-
fährdung des Straßenverkehrs in Tatmehrheit mit unerlaubtem Entfernen vom Un-
fallort zu einer Gesamtgeldstrafe vom 60 Tagessätzen sowie im sachgleichen ge-
richtlichen Disziplinarverfahren zu einem Beförderungsverbot für die Dauer von
18 Monaten verurteilt worden war, wurde sein Antrag wegen fehlender charakterli-
cher Eignung abgelehnt. Die dagegen eingelegte Beschwerde hatte keinen Erfolg.
Zur Begründung seines Antrages auf gerichtliche Entscheidung des Bundesver-
waltungsgerichts hat der Antragsteller vorgetragen, er habe sich bereits vor Erge-
hen des Ablehnungsbescheides einer mehrmonatigen verkehrspsychologischen
Therapie unterzogen; aufgrund der vorliegenden Fachstellungnahme des Thera-
peuten und eines Fahreignungsgutachtens des TÜV sei nicht zu erwarten, dass er
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künftig ein Kraftfahrzeug erneut unter Alkoholeinfluss führen werde. Der Senat hat
die ergangenen Bescheide aufgehoben und den BMVg zur Neubescheidung ver-
pflichtet.
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A u s d e n G r ü n d e n :
Die Entscheidung über die beantragte Zulassung des Antragstellers weist zum
hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats Rechtsfehler auf, die
einen Anspruch auf Neubescheidung begründen. In die Prüfung des geltend ge-
machten Anspruchs müssen entscheidungserhebliche Umstände einbezogen
werden, die bei der Ablehnungsentscheidung vom PersABw und vom BMVg nicht
hinreichend berücksichtigt worden sind. Ob alle weiteren für eine positive Zulas-
sungsentscheidung maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen
gegeben sind, bedarf näherer Prüfung und Entscheidung des BMVg, dem dafür
hinsichtlich einzelner Voraussetzungen ein Beurteilungsspielraum und im Übrigen
bei Vorliegen aller Voraussetzungen ein Ermessensspielraum zusteht. …
Für die Beurteilung der (prognostischen) Frage, ob und inwieweit ein Soldat die für
eine Laufbahn zu stellenden Anforderungen erfüllt/erfüllen wird, sind neben der
fachlichen Qualifikation des Soldaten auch seine persönlichen, d.h. charakter-
lichen, geistigen und körperlichen Eigenschaften maßgebend (stRspr.: vgl. u.a.
Beschlüsse vom 12. November 1985 - BVerwG 1 WB 173.84 -, vom 7. Juni 1988
- BVerwG 1 WB 101.87 - und vom 6. April 2005 - BVerwG 1 WB 53.04 - Buchholz
236.110 § 6 SLV 2002 Nr. 3 = ZBR 2006, 53).
Die ablehnende Bewertung im Bescheid des PersABw und im Beschwerdebe-
scheid des BMVg sowie auch im Vorlageschreiben des BMVg wurde ausschließ-
lich auf eine fehlende charakterliche Eignung des Antragstellers wegen dessen
strafgerichtlicher Verurteilung gestützt. Dies begegnet zwar grundsätzlich keinen
Bedenken, da es keinen allgemeinen Bewertungsmaßstab des Inhalts gibt, dass
die charakterliche Eignung eines Soldaten für die Laufbahn der OffzMilFD nicht
aufgrund eines einmaligen Verstoßes gegen ein Strafgesetz verneint werden darf
(vgl. Beschluss vom 24. August 2005 - BVerwG 1 WDS-VR 3.05 - hinsichtlich ei-
nes Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz). Jedenfalls seit dem am
8. November 2004 beim BMVg eingegangenen Schreiben des Bevollmächtigten
des Antragstellers vom 6. November 2004, mit dem er den Antrag auf gerichtliche
Entscheidung gestellt hat, liegen aber Umstände vor, die von rechtlicher Relevanz
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für eine anderweitige (prognostische) Beurteilung der Eignung des Antragstellers
für die von ihm angestrebte Laufbahn sein können. Eine nicht hinreichende Be-
rücksichtigung dieser Umstände würde den Bedeutungsgehalt des Begriffs der
Eignung verkennen.
Der Begriff der Eignung, der sich auf die für die angestrebte dienstliche Verwen-
dung erforderlichen Verhaltens- und Leistungsvoraussetzungen einer Person be-
zieht, stellt nicht nur auf einen Ist-Zustand zum Zeitpunkt der getroffenen Bewer-
tung ab, sondern erfordert auch eine Prognoseentscheidung (vgl. Beschluss vom
6. April 2005 - BVerwG 1 WB 53.04 - a.a.O.). So ist bei der Beurteilung der - hier
maßgeblichen - charakterlichen Eignung namentlich zu prüfen, ob diejenigen Um-
stände, die im Beurteilungszeitpunkt aktuell für eine Nichteignung sprechen, die-
sen Schluss auch prognostisch für den zu beurteilenden künftigen Zeitraum tra-
gen. Dazu besteht vor allem dann Anlass, wenn eine atypische Entwicklung oder
geänderte, für die Eignungsbeurteilung relevante Umstände substantiiert vorge-
tragen werden. Eine fehlerfreie (Eignungs-)Prognoseentscheidung liegt nur dann
vor, wenn sich die zuständige Stelle erkennbar mit diesen Gesichtspunkten hinrei-
chend auseinandersetzt sowie ihr gefundenes Ergebnis in nachvollziehbarer und
nachprüfbarer Weise dem Betroffenen mitteilt. Sofern für diese Prüfung und Ent-
scheidung besondere medizinische, psychologische oder andere Fachkenntnisse
erforderlich sind, müssen diese herangezogen und verwertet werden. Fehlen der
zuständigen Stelle insoweit die erforderlichen Fachkenntnisse, ist sie gehalten,
diese bei fachkundigen Stellen zu ermitteln und sie bei ihrer dann zu treffenden
Entscheidung zugrunde zu legen. Verzichtet die zuständige Stelle auf die Einho-
lung anderweitigen Sachverstandes und stützt sie sich allein auf ihre eigene
Sachkunde, muss sie diese in nachvollziehbarer Weise durch eine überzeugende
Darlegung nachweisen (so die stRspr. zu den Verpflichtungen von - ebenso wie
die vollziehende Gewalt nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunde-
nen und dem Amtsermittlungsgrundsatz unterworfenen - Gerichten hinsichtlich
des Vorliegens und Nachweises eigener besonderer Sachkunde, u.a. Urteil vom
10. November 1983 - BVerwG 3 C 56.82 - BVerwGE 68, 177 <181 f.> m.w.N.;
Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 98 RNr. 14 m.w.N.).
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Eine solche rechtsfehlerfreie Eignungsbeurteilung ist im vorliegenden Falle bislang
von der zuständigen Stelle nicht vorgenommen worden, so dass die auf dieser
Grundlage getroffene Ermessensentscheidung über die (Nicht-)Zulassung des
Antragstellers für die Laufbahn der OffzMilFD rechtswidrig und mit der im Tenor
ausgesprochenen Verpflichtung des BMVg zur Neubescheidung aufzuheben ist.
... (wird ausgeführt)
Zwar trifft es zu, dass - wie der BMVg in seinem Vorlageschreiben ausgeführt hat -
die Feststellung der Eignung des Antragstellers zum Offizier „nicht eine des Be-
weises zugängliche Tatsache“ ist. Die - der ergangenen und im Beschwerdever-
fahren aufrecht erhaltenen Ablehnungsentscheidung ersichtlich zugrunde liegen-
de - Auffassung des BMVg, dass die vom Antragsteller vorgelegten Gutachten für
die Begutachtung der charakterlichen Eignung „nicht in der von ihm gewünschten
Weise geeignet“ seien, verkennt jedoch den rechtlichen Begriff der Eignung und
überschreitet damit den der zuständigen Stelle zustehenden Beurteilungsspiel-
raum. Zweifellos vermögen die vom Antragsteller vorgelegten fachpsychologi-
schen und medizinischen Begutachtungen die Frage der Eignung des Antragstel-
lers für die Laufbahn der OffzMilFD nicht zu beantworten. Sie behandeln jedoch
mit der - ausdrücklich prognostischen - Einschätzung und Beurteilung der Wahr-
scheinlichkeit der Begehung erneuter Verkehrsstraftaten unter Alkoholeinfluss ei-
nen Fragenkreis, der wegen des alleinigen Abstellens des PersABw und des
BMVg auf die erfolgte strafrechtliche Verurteilung als Grund für die Annahme einer
charakterlichen Nichteignung von wesentlicher Bedeutung ist. Wenn einem Be-
werber für eine militärische Laufbahn prognostisch die charakterliche Eignung al-
lein wegen einer erfolgten Straftat abgesprochen wird, dann darf eine inhaltliche
Auseinandersetzung mit vom Betroffenen vorgelegten Fachbegutachtungen, die
zum Ergebnis einer hinreichend wahrscheinlichen ernsthaften Verhaltensänderung
des Antragstellers in dieser Beziehung mit - prognostisch - positiven Auswirkun-
gen für sein zukünftiges Verhalten kommen, nicht unterbleiben.
Soweit die erfolgte(n) Begründung(en) der Ablehnungsentscheidung dahin zu ver-
stehen sein sollte(n), dass selbst im Falle einer - prognostisch - festzustellenden
Verhaltensänderung des Antragstellers aufgrund der erfolgten (einmaligen) straf-
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rechtlichen Verurteilung wegen einer Alkoholtat im Straßenverkehr eine Eignung
für die Laufbahn der OffzMilFD zu verneinen ist, bedürfte es dafür einer nachvoll-
ziehbaren Begründung. Die Berufung lediglich darauf, dass es allein Sache der
personalbearbeitenden Stelle sei, „sich darüber klar zu werden, ob der Eignungs-
mangel so schwer wiegt“, reicht nicht aus. Denn sie lässt jedenfalls den für eine
solche Schlussfolgerung maßgeblichen Beurteilungsmaßstab nicht in nachvoll-
ziehbarer Weise erkennen.
Prof. Dr. Pietzner Dr. Frentz Dr. Deiseroth