Urteil des BVerwG vom 14.03.2017

BVerwG: anspruch auf rechtliches gehör, gemeinde, begriff, rüge, anfang, befragung, satzung, erfüllung, öffentlich, deckung

Rechtsquellen:
BauGB
§ 123 Abs. 1 und 2, § 132 Nr. 4, § 133 Abs. 2 Satz 1
Stichworte:
Erschließung; Erschließungslast; Erschließungsanlage; erstmalige Herstellung;
Erstherstellung; Träger der Erschließungslast; Bund; Erschließungsbeitrag;
endgültige Herstellung; Merkmale; Satzungsregelung; Verfahrensmangel; recht-
liches Gehör; Überraschungsentscheidung.
Leitsätze:
1. Die erstmalige Herstellung einer Erschließungsanlage, die ein anderer
Hoheitsträger als die Gemeinde in Erfüllung seiner Erschließungslast durch-
führt (§ 123 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Halbs. 2 BauGB), muss nicht den Merkma-
len der endgültigen Herstellung im Sinne von § 132 Nr. 4, § 133 Abs. 2
Satz 1 BauGB entsprechen, die die Gemeinde, in deren Straßenbaulast die
Erschließungsanlage nach ihrer Erstherstellung fällt, in ihrer Erschließungs-
beitragssatzung festgelegt hat.
2. Hat der andere Hoheitsträger seine Erschließungsaufgabe in einer den An-
forderungen des § 123 Abs. 2 BauGB genügenden Weise erfüllt, kann die
Gemeinde für erstmals durch sie durchgeführte (weitere) Ausbaumaßnah-
men nicht mehr Erschließungsbeiträge, sondern nur noch Ausbaubeiträge
erheben.
Beschluss des 9. Senats vom 6. Mai 2008 - BVerwG 9 B 18.08
I. VG Darmstadt vom 06.09.2006 - Az.: VG 4 E 2344/03 (1) -
II. VGH Kassel vom 05.12.2007 - Az.: VGH 5 UE 136/07 –
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 18.08
VGH 5 UE 136/07
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In der Verwaltungsstreitsache
hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. Mai 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 5. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.
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Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Klägerin.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdever-
fahren wird auf 232 325,59 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf sämtliche Revisionszulassungsgründe gemäß § 132 Abs. 2 VwGO ge-
stützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Der Rechtssache kommt nicht die von der Beschwerde geltend gemachte
grundsätzliche Bedeutung zu (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Die Beschwerde kritisiert, dass das Berufungsgericht die im Streitfall vom Bund
zur Erfüllung der ihm obliegenden Erschließungslast vorgenommene Befesti-
gung der streitgegenständlichen „Industriestraße“ mit Mineralbeton und Kies als
ausreichend für die erstmalige Herstellung angesehen hat, obwohl sie „nicht
den erschließungsbeitragsrechtlichen Voraussetzungen an die erstmalige Her-
stellung einer Erschließungsanlage nach § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB“ entspre-
che. Daraus mag zugunsten der Beschwerde - abweichend von den von ihr for-
mulierten und von der Beklagten als so nicht verständlich beanstandeten Fra-
gen - geschlossen werden, dass die Beschwerde sinngemäß die Frage für klä-
rungsbedürftig hält,
ob die Anforderungen an die erstmalige Herstellung einer
Erschließungsanlage, die ein anderer Hoheitsträger als
die Gemeinde in Erfüllung seiner Erschließungslast ge-
mäß § 123 Abs. 2 BauGB durchführt, gleichzusetzen sind
mit den Anforderungen an die endgültige Herstellung der
Erschließungsanlage gemäß § 132 Nr. 4 BauGB, § 133
Abs. 2 Satz 1 BauGB.
Diese Frage würde jedoch nicht die Zulassung der Revision rechtfertigen, weil
sie unmittelbar anhand des Gesetzes beantwortet werden kann. Sie ist zu ver-
neinen.
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§ 123 Abs. 2 BauGB beschreibt den Inhalt und Umfang der Erschließungslast.
Danach sollen Erschließungsanlagen entsprechend den Erfordernissen der Be-
bauung und des Verkehrs kostengünstig hergestellt werden und spätestens bis
zur Fertigstellung der anzuschließenden baulichen Anlagen benutzbar sein. Die
Erschließungslast zielt auf die e r s t m a l i g e Herstellung der Erschlie-
ßungsanlage (vgl. Löhr, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 10. Aufl. 2007,
§ 123 Rn. 15). Die Erschließung ist gemäß § 123 Abs. 1 BauGB Aufgabe der
Gemeinden, soweit sie nicht nach anderen gesetzlichen Vorschriften oder öf-
fentlich-rechtlichen Verpflichtungen einem anderen obliegt. Ist aufgrund dieser
Einschränkung die Erschließungslast - ausnahmsweise - dem Bund oder den
Ländern übertragen, können für eine von ihnen durchgeführte erstmalige Her-
stellung der Erschließungsanlage keine Erschließungsbeiträge erhoben wer-
den. Denn diese Befugnis weist das Gesetz allein den Gemeinden zu (§ 127
Abs. 1 BauGB), und zwar lediglich zur Deckung ihres (eigenen) anderweitig
nicht gedeckten Erschließungsaufwands, also wenn ihnen die Erschließung als
eigene Aufgabe obliegt (Urteil vom 25. November 1981 - BVerwG 8 C 10.81 -
Buchholz 406.11 § 123 BBauG Nr. 22 S. 15 f.). Das Gesetz verpflichtet die Ge-
meinden weiter, durch Satzung die Merkmale der e n d g ü l t i g e n Herstel-
lung der Erschließungsanlage zu regeln (§ 132 Nr. 4 BauGB), und macht das
Entstehen der sachlichen Beitragspflichten (u.a.) davon abhängig, dass die Er-
schließungsanlage endgültig hergestellt ist (§ 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB).
Danach folgt bereits unmittelbar aus dem Gesetz, dass bei einer erstmaligen
Herstellung einer Erschließungsanlage durch einen anderen Träger als die
Gemeinde die in § 123 Abs. 2 BauGB genannten Erfordernisse der Bebauung
und des Verkehrs nicht identisch sein müssen mit den Merkmalen der endgülti-
gen Herstellung im Sinne von § 132 Nr. 4, § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB, die die
Gemeinde, in deren Straßenbaulast die Erschließungsanlage nach ihrer Erst-
herstellung (später) fällt, in ihrer Erschließungsbeitragssatzung festgelegt hat.
Denn diese Anforderungen sind nur Voraussetzung für die Erhebung von Er-
schließungsbeiträgen durch die Gemeinden und gelten nur für die dem jeweili-
gen gemeindlichen Satzungsrecht unterworfenen Beitragspflichtigen. Sie rich-
ten sich nicht an andere Träger der Erschließungslast.
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Der nach § 123 Abs. 1 BauGB zuständige Träger soll die Erschließungsanlage
nach Maßgabe von § 123 Abs. 2 BauGB „entsprechend den Erfordernissen der
Bebauung und des Verkehrs“ herstellen. Danach muss die Erschließungsanla-
ge den Anforderungen gerecht werden, die durch den zu erwartenden Verkehr
in dem betreffenden Gebiet gestellt werden, und sie muss das zu vermitteln
geeignet sein, was eine Bebauung der anliegenden Grundstücke und in der
Folge die funktionsgerechte Nutzbarkeit der auf den Grundstücken genehmig-
ten baulichen Anlagen ermöglicht. Mit den in § 123 Abs. 2 BauGB genannten
Herstellungserfordernissen sind lediglich Mindestbedingungen beschrieben (vgl.
Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 8. Aufl. 2008, § 5 Rn. 18). Aus
der weiteren Vorgabe, dass die Erschließungsanlagen spätestens bis zur Fer-
tigstellung der anzuschließenden baulichen Anlagen nutzbar sein sollen, folgt,
dass sie noch nicht e n d g ü l t i g hergestellt sein müssen im Sinne von
§ 133 Abs. 2 BauGB, sondern lediglich eine gefahrlose und funktionsfähige Er-
schließung gewährleisten sollen (vgl. Löhr, a.a.O. Rn. 14). Hat danach derjeni-
ge Träger, der gemäß § 123 Abs. 1 BauGB für die Erschließung zuständig ist,
seine Aufgabe in einer den Anforderungen des konkreten Einzelfalls genügen-
den Weise erfüllt, erlischt seine Aufgabe mit der Folge, dass sich die Beantwor-
tung aller Fragen, die die Aufrechterhaltung der Erschließung (vgl. § 128 Abs. 2
Satz 1 und § 123 Abs. 4 BauGB) betreffen, nicht mehr nach den bundesrechtli-
chen Vorschriften des Erschließungs-(beitrags-)rechts, sondern nach Landes-
recht richtet (vgl. Driehaus, a.a.O. § 5 Rn. 2 a.E, Rn. 20 a.E.).
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist durch den Planfeststel-
lungsbeschluss für den Bau der parallel verlaufenden Bundesstraße dem Bund
(u.a.) die Erschließungslast für die erstmalige Herstellung der streitgegenständ-
lichen „Industriestraße“ auferlegt und auch der Umfang der Herstellung im Sin-
ne von § 123 Abs. 2 BauGB festgelegt worden, wie sie sich nach den damali-
gen Erfordernissen der Bebauung und des Verkehrs mit Blick auf die angren-
zenden Grundstücke ergab. Nach diesen Feststellungen ist die Industriestraße
bereits Anfang der 1970er Jahre erstmalig hergestellt gewesen. Daraus folgt,
dass für die späteren von der Beklagten durchgeführten Ausbaumaßnahmen, in
deren Straßenbaulast die „Industriestraße“ nach ihrer Erstherstellung gefallen
ist, keine Erschließungsbeiträge mehr erhoben werden können, sondern nur
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noch Ausbaubeiträge. Das Beschwerdevorbringen zeigt nicht auf, dass dieses
Ergebnis in einem Revisionsverfahren einer rechtsgrundsätzlichen Überprüfung
bedürfte.
2. Die erhobene Divergenzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) genügt nicht den
Darlegungsanforderungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Diese verlangen, dass
die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, das angefochtene Urteil tragenden
abstrakten Rechtssatz benennt und diesem einen in einer Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts enthaltenen ebensolchen Rechtssatz gegenüber-
stellt (zu diesem Erfordernis vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B
261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14).
Entgegen der Ansicht der Beschwerde hat das Berufungsgericht in dem ange-
fochtenen Urteil nicht den abstrakten Rechtssatz aufgestellt, dass die Voraus-
setzungen für die Herstellung einer Erschließungsanlage nach § 123 Abs. 2
BauGB nicht notwendig identisch seien mit denen nach § 127 Abs. 2 BauGB;
ein dahingehender Rechtssatz ist dem Berufungsurteil nicht zu entnehmen; im
Übrigen benennt die Beschwerde auch keine Entscheidung des Bundesverwal-
tungsgerichts, die einen gegenteiligen Rechtssatz enthielte.
Soweit die Beschwerde weiter eine Divergenz zu einem von ihr wiedergegebe-
nen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts (im Urteil vom 6. Dezember
1996 - BVerwG 8 C 32.95 - BVerwGE 102, 294 ff.) zum Begriff der beitragsfähi-
gen Anbaustraße rügt, stellt sie diesem keinen gegenteiligen abstrakten
Rechtssatz des Berufungsgerichts gegenüber. Die von ihr in diesem Zusam-
menhang wiedergegebene Passage des Berufungsurteils betrifft allein die kon-
krete Rechtsanwendung im Streitfall. Der Vorwurf der Beschwerde, bei Anwen-
dung der von ihr zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hät-
te das Berufungsgericht zu einem anderen Ergebnis gelangen müssen, belegt,
dass die Beschwerde in Wahrheit allein eine fehlerhafte oder unterbliebene An-
wendung von Rechtssätzen des Bundesverwaltungsgerichts rügt; damit ist eine
Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht dargetan (vgl. Be-
schluss vom 19. August 1997 a.a.O.).
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3. Die Revision ist auch nicht wegen des geltend gemachten Verfahrensman-
gels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) eines Verstoßes gegen den Anspruch auf
rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) zuzulassen. Die
Beschwerde rügt, das Berufungsurteil stelle insoweit eine Überraschungsent-
scheidung dar, als nach dessen tragender Begründung die im Jahr 1972 im Zu-
sammenhang mit der Planfeststellung der parallel verlaufenden Bundesstraße
erfolgte Herstellung der östlichen Teilstrecke der streitgegenständlichen Straße
allein mit Mineralbeton und Kies als Erschließung im Sinne von § 123 Abs. 2
BauGB anzusehen sei. Diese zentrale Erwägung habe das Berufungsgericht zu
keinem Zeitpunkt erkennen lassen. Nach dem Verlauf sowohl des Erörterungs-
termins vom 16. August 2007 als auch der mündlichen Verhandlung vom 5. De-
zember 2007, insbesondere angesichts der Befragung des Bürgermeisters der
Beklagten, habe es vielmehr den Eindruck erweckt, es käme auf den konkreten
Straßenzustand zum Zeitpunkt der späteren gemeindlichen Ausbaumaßnahme
an. Diese Rüge steht indes im Widerspruch zum Inhalt der Gerichtsakten. Aus-
weislich des Protokolls über den o.a. Erörterungstermin (S. 2) hat der Berichter-
statter des Berufungsgerichts die Beteiligten auf Zweifel des Senats an der Auf-
fassung der Beklagten und des Verwaltungsgerichts hingewiesen, dass die Er-
schließungslast für die erstmalige Herstellung der streitgegenständlichen Stra-
ße bei der Beklagten gelegen habe, und sodann die sich daraus ergebenden
Rechtsfolgen aufgezeigt, je nachdem, ob sich die Erschließungslast des Bun-
des auf die gesamte Straße oder nur auf deren westlichen Teil erstreckt habe.
Ausweislich des Protokolls haben die Beteiligten „auch zu diesen Fragen“ ihre
Argumente ausgetauscht. Danach entbehrt die Gehörsrüge, namentlich der
Vorwurf, die tragenden Erwägungen des Berufungsurteils seien für die Klägerin
überraschend gewesen, jeder Grundlage.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Werts des Streitgegenstandes entspricht der Höhe des nach dem Urteil des
Berufungsgerichts von der Klägerin zu zahlenden Straßenausbaubeitrags (§ 52
Abs. 3, § 47 Abs. 1 und 3 GKG).
Dr. Storost Domgörgen Buchberger
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