Urteil des BVerwG vom 10.07.2003

BVerwG (beschwerde, sachprüfung, rücknahme, rechtssatz, sache, ermessen, bundesverwaltungsgericht, prüfung, gesetz, verwaltungsakt)

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 104.03 (5 PKH 94.03)
OVG 14 A 1496/01
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Februar 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
beschlossen:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Juli 2003 wird zurückgewie-
sen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit
Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen,
der diese selbst trägt.
Damit erledigt sich der Antrag der Kläger auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 8 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf Zulassung der Revision gerichtete Beschwerde ist nicht begründet.
1. Die Revision kann nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher
Bedeutung zugelassen werden.
1.1 Die von der Beschwerde zur Klärung gestellte Frage,
"ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen ein Verfahren im Rahmen
der Prüfung des § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG von Seiten der
Behörde wieder aufgegriffen wird, und ob bzw. unter welchen Voraussetzungen
dadurch eine komplette, d.h. über die Frage der Rechtmäßigkeit der die Aufhe-
bung versagenden Entscheidung hinausgehende gerichtliche Kontrolle auch
des Ursprungsbescheides gerechtfertigt ist", bei der von Interesse sei,
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"wo die Grenze gezogen werden muss, zwischen der Prüfung, ob ein Verfahren
im weiteren Sinne gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG wieder-
aufgegriffen werden soll und der bei einer Bejahung dieser Frage vorzuneh-
menden eigentlichen sachlichen Rücknahme- bzw. Widerrufsprüfung gemäß
§§ 48, 49 VwVfG",
ist in ihrer unspezifischen Allgemeinheit nicht in einem Revisionsverfahren klärungs-
fähig und auch nicht klärungsbedürftig. Sie ist, soweit sie sich nicht unmittelbar aus
dem Gesetz beantwortet und überhaupt eine fallübergreifender Klärung zugängliche
abstrakte Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung in einer den Anforderungen des
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO bezeichnet, in der Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts hinreichend geklärt.
Nach § 51 Abs. 5 VwVfG bleiben die Vorschriften des § 48 Abs. 1 Satz 1 und des
§ 49 Abs. 1 VwVfG von den Regelungen über das Wiederaufgreifen des Verfahrens
(§ 51 Abs. 1 bis 4 VwVfG) unberührt. Es folgt mithin unmittelbar aus dem Gesetz,
dass das Rücknahme- bzw. Widerrufsverfahren, das als Ziel die Beseitigung des
ursprünglichen Verwaltungsaktes in seinem Bestand auf Grund einer Ermessensent-
scheidung hat (Wiederaufgreifen im weiteren Sinne), von einem Wiederaufgreifen
des Verfahrens nach § 51 VwVfG (Wiederaufgreifen im engeren Sinne) zu trennen
ist.
Nach allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht kann mithin, soweit dies nicht durch
eine nach § 1 Abs. 2 Satz 1 VwVfG entgegenstehende Vorschrift ausgeschlossen ist
(vgl. BVerwGE 78, 332 <338 ff.>), eine an Gesetz und Recht gebundene Behörde
aus Gründen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ein Verfahren jederzeit von Amts
wegen wieder aufgreifen mit dem Ziel, einen - möglicherweise rechtswidrigen - Ver-
waltungsakt zugunsten des Betroffenen durch einen der Rechtslage entsprechenden
zu ersetzen (vgl. etwa BVerwGE 10, 12 <13 f.>; 78, 332 <340>: s.a. BVerwG, Be-
schluss vom 15. September 1992 - BVerwG 9 B 18.92 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG
Nr. 69). Dies schließt die Möglichkeit ein, wiederum einen ablehnenden Bescheid in
der Sache zu erlassen und damit wenigstens zugunsten des Betroffenen erneut den
Weg zu einer gerichtlichen Sachprüfung zu eröffnen, es sei denn, es liege bereits ein
den Anspruch verneinendes rechtskräftiges verwaltungsgerichtliches Urteil vor
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(BVerwGE 78, 332 <340> unter Hinweis auf BVerwGE 35, 234 <236>). In der Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist weiterhin geklärt, dass der Betroffene
nach allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht - vorbehaltlich abweichender son-
dergesetzlicher Regelungen - keinen allgemeinen strikten Anspruch auf ein Wieder-
aufgreifen des Verfahrens und den Erlass eines Zweitbescheides hat, und zwar in
der Regel auch dann nicht, wenn der Ursprungsverwaltungsakt rechtswidrig ist (vgl.
BVerwGE 44, 333 <336>; 48, 271 <278 f.>; 60, 316 <325 f.>; s. auch Stelkens/
Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 51 Rn. 13
33>); die Behörde entscheidet im Regelfall über einen Antrag auf Wiederaufgreifen
nach pflichtgemäßem Ermessen, dem grundsätzlich ein Anspruch des Betroffenen
auf ermessensfehlerfreie Entscheidung entspricht, wobei sich das der Behörde ein-
geräumte Ermessen auf Null verengt, wenn die Ablehnung, in eine erneute Sachprü-
fung einzutreten, rechtswidrig wäre (BVerwG, Urteil vom 28. Juli 1976 - BVerwG 8 C
90.75 - Buchholz 412.3 § 16 BVFG Nr. 2).
Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage ist mithin dahin geklärt, dass systema-
tisch zu unterscheiden ist zwischen der Ermessensentscheidung, ob ein Verfahren
im weiteren Sinne wieder aufzugreifen ist, die Behörde mithin in eine Sachprüfung
eintritt, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt aufzuheben ist, oder sie sich auf die
Bestandskraft beruft, und dem Ergebnis einer erneuten Sachprüfung. Tritt eine Be-
hörde nach entsprechender Ermessensentscheidung in eine erneute Sachprüfung
ein und lehnt nach neuerlicher Sachprüfung den Erlass des begehrten begünstigen-
den Verwaltungsaktes unter Aufhebung des ablehnenden Ursprungsbescheides er-
neut ab, ist durch die vorbezeichnete Rechtsprechung geklärt, dass diese neuerliche
Sachentscheidung nach allgemeinen Grundsätzen in vollem Umfange der verwal-
tungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt.
Weiterer oder zusätzlicher Klärungsbedarf ergibt sich aus dem Beschwerdevorbrin-
gen nicht. Dies gilt auch, soweit die Beschwerde - unter Berufung auf Schrifttum
(Selmer JuS 1987, 363) - geltend macht, "der Entschluss einer Behörde, die Be-
standskraft durch eine erneute Entscheidung in derselben Sache zu durchbrechen,
sei es von Amts wegen oder auf Antrag der Betroffenen, zwingend eines
vorgeschalteten Wiederaufgreifens des Verfahrens, d.h. des behördlichen Ent-
schlusses, eine durch einen unanfechtbaren Verwaltungsakt geregelte Angelegen-
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heit erneut sachlich zu prüfen, um eine neue Entscheidung in der Sache zu treffen".
Aus der systematischen Unterscheidung zwischen den zu treffenden Ermessensent-
scheidungen und der logischen Zweistufigkeit des Verfahrens (s. Erichsen/ Ebber
JURA 1997, 424 <424 f.>) folgt nicht, dass die Entscheidung über ein Wiederaufgrei-
fen und - bei positiver Entscheidung über ein Wiederaufgreifen - die erneute (positive
oder negative) Sachentscheidung (Zweitbescheid) zeitlich gestuft und formell in ge-
trennten Bescheiden zu treffen sind und nicht in ein- und demselben Bescheid zu-
sammengefasst werden können. Auch nach dem von der Beklagten herangezoge-
nen Schrifttum "stellt sich die Entscheidung über das Wiederaufgreifen lediglich als
eine interne Entscheidungsstufe dar" (Selmer, JuS 1987. 363 <366>).
1.2 Die weiterhin von der Beschwerde aufgeworfene Frage,
"ob eine Behörde bei der Prüfung von § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG auf-
grund einer fehlerhaften Ermessensausübung, die in einer nicht erkannten
Rechtswidrigkeit des Ursprungsbescheides begründet liegt, nicht nur zu einer
ermessensfehlerfreien Prüfung der Rücknahme bezüglich des ursprünglichen
Ablehnungsbescheides, sondern auch zum Wiederaufgreifen und sodann zu
der Erteilung des in der Sache begehrten, begünstigenden Verwaltungsaktes
(Aufnahme-/ Einziehungsbescheid) verpflichtet werden kann",
stellte sich bereits im Ansatz nicht, weil sie nicht entscheidungserheblich wäre. Denn
das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Beklagte mit dem Wider-
spruchsbescheid u.a. die Rücknahme der ablehnenden Bescheide im Ermessens-
wege gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nach erneuter Sachprüfung abgelehnt hat.
Unabhängig davon wäre auch diese Frage durch die Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts dahin geklärt, dass die Rechtswidrigkeit des Ursprungsverwal-
tungsakts für sich allein das Ermessen der Behörde, das Verfahren im weiteren Sin-
ne wieder aufzugreifen, nicht auf Null reduziert (BVerwGE 44, 333 <336>), indes ein
Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens besteht, wenn die Aufrechterhaltung
des Erstbescheides unerträglich wäre (BVerwG, Urteil vom 28. Juli 1976 - VIII C
90.75 - Buchholz 412.3 § 16 BVFG Nr. 2).
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1.3 Soweit die Beschwerde sinngemäß geltend macht, das Berufungsgericht sei
rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, die Beklagte habe "mit dem Widerspruchsbe-
scheid u.a. die Rücknahme der ablehnenden Bescheide im Ermessenswege gemäß
§ 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nach erneuter Sachprüfung abgelehnt", betrifft dies allein
die einzelfallbezogene Anwendung der in der Rechtsprechung geklärten und von
dem Berufungsgericht nicht bestrittenen Grundsätze. Eine fehlerhafte Würdigung
des Widerspruchsbescheides begründete selbst dann, wenn sie vorläge, keinen
rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf.
2. Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz zuzulassen (Zulassungsgrund des
§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
2.1 Eine Abweichung im Sinne dieser Vorschrift liegt nur vor, wenn das Berufungsge-
richt in Anwendung derselben Vorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden
(abstrakten) Rechtssatz von einem in der Rechtsprechung der dort genannten Ge-
richte aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abweicht; eine fehlerhafte Anwendung
eines nicht bestrittenen Rechtssatzes im Einzelfall rechtfertigt eine Divergenzzulas-
sung nicht (stRspr, BVerwG, Beschluss vom 5. Januar 2001 - BVerwG 4 B 57.00 -
).
2.2 Die geltend gemachte Abweichung von dem Urteil des Bundesverwaltungsge-
richts vom 30. Januar 1974 (- BVerwG 8 C 20.72 - BVerwGE 44, 333) rechtfertigt die
Zulassung der Revision hiernach nicht. Die Beschwerde bezeichnet zwar zutreffend
als einen vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten divergenzfähigen Rechtssatz,
dass die Entscheidung, ob und in welchem Umfang ein rechtsbeständig abgeschlos-
senes Verfahren wieder aufzugreifen ist, im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde
steht, wobei der Betroffene einen Anspruch darauf hat, dass die Behörde über den
erneuten Eintritt in eine Sachbehandlung ermessensfehlerfrei entscheidet und allein
der Umstand, dass der Ursprungsverwaltungsakt - vermeintlich oder tatsächlich -
rechtswidrig ist, das Ermessen, ob erneut in eine Sachprüfung einzutreten ist, (je-
denfalls im Unterhaltssicherungsrecht) nicht auf Null reduziert. Soweit die Beschwer-
de indes geltend macht, das Berufungsgericht habe "im Ergebnis einen strikten An-
spruch auf Rücknahme der entgegenstehenden bestandskräftigen Bescheide/Ent-
scheidung in der Sache und nicht lediglich auf Neubescheidung des Antrages auf
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Wiederaufgreifen bejaht" und hierdurch einen von der Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts abweichenden Rechtssatz aufgestellt, trifft dies nicht zu. Das
Berufungsgericht hat den von der Beschwerde behaupteten, der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts entgegenstehenden Rechtssatz weder ausdrücklich
aufgestellt noch erschließt er sich in hinreichender Deutlichkeit aus lediglich schein-
bar fallbezogenen Ausführungen. Das Berufungsgericht hat vielmehr - ohne erkenn-
bare Abweichung - im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts geprüft, ob die Beklagte in ihrem Widerspruchsbescheid in eine erneute Sach-
prüfung eingetreten ist, und hat in einzelfallbezogener Würdigung des erlassenen
Widerspruchsbescheides dahin erkannt, dass die Beklagte mit dem Widerspruchs-
bescheid "u.a. die Rücknahme der ablehnenden Bescheide im Ermessenswege ge-
mäß § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nach erneuter Sachprüfung abgelehnt", mithin tat-
sächlich einen in vollem Umfange der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterlie-
genden negativen Zweitbescheid erlassen habe. Soweit hierin eine fehlerhafte An-
wendung der von dem Berufungsgericht nicht in Frage gestellten Rechtsprechung
liegen sollte, vermag dies eine Divergenz nicht zu begründen (BVerwG; Beschluss
vom 10. Juli 1995 - BVerwG 9 B 18.95 - ; Beschluss vom
20. Februar 1998 - BVerwG 11 B 39.97 - ; stRspr).
3. Mit der ablehnenden Entscheidung über die Beschwerde der Beklagten erledigt
sich wegen der gesetzlichen Kostenfolge der Prozesskostenhilfeantrag der Kläger.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Streit-
wertfestsetzung auf § 13 Abs. 1 Satz 2, § 14 GKG.
Dr. Säcker
Dr. Franke
Prof. Dr. Berlit