Urteil des BVerwG vom 11.08.1999

BVerwG (rechtliches gehör, beschwerde, kenntnis, ermessen, rechtssatz, bundesverwaltungsgericht, begründung, bewertung, sache, bezug)

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 80.08
VGH 10 UE 1992/07
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. Juni 2009
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen
beschlossen:
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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Beschluss des Hessischen Verwal-
tungsgerichtshofs vom 10. Juni 2008 wird zurückgewie-
sen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens;
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Be-
schwerde ist, soweit die Rügen überhaupt den Darlegungsanforderungen in
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügen, jedenfalls unbegründet. Das Beschwer-
devorbringen führt auf keinen Revisionszulassungsgrund.
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
(§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Die Grundsatzrüge wird schon nicht dem Begründungserfordernis des § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt. Eine solche Darlegung setzt die
Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die
Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und au-
ßerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinaus-
gehende Bedeutung bestehen soll (Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG
7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26). Die Beschwerde wirft
weder ausdrücklich noch sinngemäß eine klärungsfähige und -bedürftige
Rechtsfrage mit einzelfallübergreifender Bedeutung auf. Sie beschränkt sich
stattdessen auf die nicht näher begründete Behauptung, die Revision sei we-
gen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen (vgl.
Beschwerdebegründung Seite 1 und 4) und verhält sich mit ihrem weiteren Vor-
bringen ausschließlich zu den darüber hinaus geltend gemachten (vermeintli-
chen) Revisionszulassungsgründen der Divergenz und des Verfahrensmangels.
2. Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zu-
zulassen.
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Divergenz liegt vor, wenn das vorinstanzliche Gericht in Anwendung derselben
Vorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden (abstrakten) Rechtssatz von
einem in der Rechtsprechung des übergeordneten Gerichts aufgestellten eben-
solchen Rechtssatz abgewichen ist. Die Beschwerdebegründung muss darle-
gen, dass und inwiefern dies der Fall ist (stRspr; z.B. Beschluss vom 11. August
1999 - BVerwG 11 B 61.98 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 19
m.w.N.). Die Darlegungserfordernisse erfüllt die Beschwerde nicht, soweit sie
lediglich § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zitiert (Beschwerdebegründung Seite 2
und 8) oder pauschal behauptet, mit der Entscheidung des Berufungsgerichts
werde „gegen höchstrichterliche Rechtsprechung verstoßen“ (Beschwerdebe-
gründung Seite 6), ohne allerdings eine bestimmte Entscheidung eines überge-
ordneten Gerichts im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zu erwähnen und die
angeblich zueinander in Widerspruch stehenden abstrakten Rechtssätze her-
auszuarbeiten.
Soweit die Beschwerde ausdrücklich auf das Urteil des Bundesverwaltungsge-
richts vom 5. September 2006 - BVerwG 1 C 20.05 - (Buchholz 316 § 48
VwVfG Nr. 115) verweist und behauptet, das Berufungsgericht weiche von die-
ser Entscheidung durch seine Rechtsansicht ab, es sei zulässig, dass der Be-
klagte den angefochtenen Widerruf im Berufungsverfahren auf eine neue, die
richtige Rechtsgrundlage gestützt und sein Ermessen hierzu ausgeübt habe
(Beschwerdebegründung Seite 2), steht dem Erfolg dieser Rüge entgegen,
dass die angeführte Entscheidung eine andere gesetzliche Bestimmung betraf
als die vom Berufungsgericht herangezogene Vorschrift. Gegenstand des vor-
genannten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts war die Rücknahme einer
rechtswidrigen unbefristeten Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung für die Vergan-
genheit nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG für die Zeit bis zur Ausweisungsverfü-
gung. In diesem Zusammenhang stellte das Bundesverwaltungsgericht den
Rechtssatz auf, dass § 114 Satz 2 VwGO die prozessualen Voraussetzungen
lediglich dafür schafft, dass die Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen dafür, dass
sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt. Einen dem entgegenstehenden
Rechtssatz hat das Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung nicht
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aufgestellt. Es ist vielmehr davon ausgegangen, dass die nach § 35 Abs. 1
SGB X erforderliche Begründung gemäß § 41 Abs. 2 SGB X nach materiellem
Recht bis zur letzten Tatsacheninstanz des gerichtlichen Verfahrens, also noch
im Berufungsverfahren nachgeholt werden kann. Im Übrigen unterscheiden sich
die beiden Entscheidungen auch dadurch, dass dem angefochtenen Bescheid
der Ausländerbehörde in dem vorgenannten Klageverfahren nicht zu entneh-
men gewesen ist, dass sich die Ausländerbehörde des Erfordernisses einer
Ermessentscheidung bei Erlass des Rücknahmebescheides überhaupt bewusst
gewesen ist, wogegen dem vorliegend angefochtenen Widerspruchsbescheid
nach den nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen Feststel-
lungen des Berufungsgerichts zu entnehmen ist, dass sich der Beklagte eines
Ermessens bewusst war. Es ging also gerade nicht um den Fall, dass Ermes-
sen erstmals nachträglich ausgeübt worden ist. Die entgegenstehende Bewer-
tung der Klägerin, es habe tatsächlich keine Ermessenserwägung vorgelegen,
ist im Rahmen der Divergenzrüge unerheblich.
3. Die Revision ist schließlich auch nicht wegen der behaupteten Verfahrens-
fehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
a) Der grundrechtlich verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103
Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) und der Grundsatz des fairen Verfahrens ver-
langen von den Gerichten, das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten zur
Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen
(stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2003 - 2 BvR 624/01 - NVwZ-
RR 2004, 3). Dementsprechend erfordert eine entsprechende Rüge die sub-
stantiierte Angabe, welches tatsächliche Vorbringen eines Beteiligten entweder
überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder ersichtlich nicht in Erwägung ge-
zogen worden ist. Das Prozessgrundrecht auf rechtliches Gehör sowie der
Grundsatz des fairen Verfahrens verpflichten die Gerichte indessen nicht, dem
zur Kenntnis genommenen tatsächlichen Vorbringen oder der Rechtsansicht
eines Beteiligten auch in der Sache zu folgen (vgl. bezüglich des Anspruchs auf
rechtliches Gehör etwa BVerfG, Beschluss vom 13. Dezember 1994 - 2 BvR
894/94 - NJW 1995, 2839). Ebenso wenig gewährleisten sie, dass die angegrif-
fene Entscheidung frei von einfach-rechtlichen materiellen Rechtsfehlern er-
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geht. Sie stellen vielmehr grundsätzlich nur sicher, dass die Entscheidung frei
von Rechtsfehlern ergeht, die ihren Grund gerade in der unterlassenen Kennt-
nisnahme oder der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten ha-
ben (Beschluss vom 3. Januar 2006 - BVerwG 7 B 103.05 - ZOV 2006, 40).
Gemessen an diesen Anforderungen legt die Beschwerde die geltend gemach-
te Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und ein faires rechtsstaatli-
ches Verfahren schon nicht entsprechend den Anforderungen des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO dar. Jedenfalls liegen die behaupteten Verfahrensfehler in der
Sache nicht vor.
Es ist nicht ersichtlich, dass das Berufungsgericht das Vorbringen der Klägerin,
sie habe sich mit dem Geld Möbel gekauft und alles verbraucht (Beschwerde-
begründung Seite 6), nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in seine Erwä-
gungen einbezogen hat. Die Beschwerde nimmt in diesem Zusammenhang
ausdrücklich auf die Berufungsbegründung vom 23. Oktober 2007 sowie den
Schriftsatz der Klägerin vom 9. Juni 2008 Bezug. In der Berufungsbegründung
vom 23. Oktober 2007 werden die Kosten für die Anschaffung einer Wohnwand
und die Reparatur des Fernsehgerätes konkret beziffert und geltend gemacht,
dass diese Beträge von dem Rückforderungsbetrag abzuziehen seien. In dem
Schriftsatz vom 9. Juni 2008 wird unter Bezugnahme auf die Klagebegründung
vom 18. Februar 2004 pauschal ausgeführt, dass für Hausrat, Mobiliar und Ein-
richtungsgegenstände Kosten in Höhe von insgesamt 1 184,76 € aufgewandt
worden seien. Nach der Klagebegründung handelt es sich dabei um die Sum-
me der Kosten für die Anschaffung von zwei Schränken, einer Spüle mit Arma-
tur, einem Küchenschrank sowie für die Anschaffung einer Waschmaschine
und einer Wohnwand sowie für einen Herdanschluss, eine TV-Reparatur und
eine Rechnung der Fa. S. Mit den vorstehend aufgelisteten Ausgaben hat sich
bereits das Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 27. September 2006 be-
fasst und festgestellt, welche Ausgaben nach Maßgabe des angefochtenen
Bescheides zweckentsprechend verwandt wurden und welche nicht (UA S. 8, 9
und 11). Das Berufungsgericht nimmt in dem angefochtenen Beschluss auf
dieses Urteil ausdrücklich Bezug und macht sich die Ausführungen des Verwal-
tungsgerichts zu Eigen (BA S. 6 und 7). Die Beschwerde legt nicht dar, dass
über die vorstehend aufgeführten und vom Berufungsgericht berücksichtigten
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Ausgaben hinaus substantiierte Angaben zu weiteren entscheidungserhebli-
chen Ausgaben gemacht und belegt worden wären, die das Berufungsgericht
nicht zur Kenntnis genommen hätte. Dies ist auch im Übrigen nicht ersichtlich.
b) Mit ihren sonstigen zur Begründung der behaupteten Verfahrensmängel ge-
machten Ausführungen wendet sich die Beschwerde der Sache nach gegen die
ihrer Ansicht nach fehlerhafte Rechtsanwendung des Berufungsgerichts im
Einzelfall. Sie legt in der Art einer Revisionsbegründung dar, inwiefern sie die
Auslegung und Anwendung insbesondere der §§ 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 47
Abs. 2 Satz 2 und 3, 47 Abs. 2 Satz 5 i.V.m. 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X durch das
Berufungsgericht für sachwidrig und fehlerhaft hält und setzt der rechtlichen
Bewertung des Berufungsgerichts eine eigene Würdigung entgegen. Damit las-
sen sich indessen die behaupteten Verfahrensmängel um so weniger darlegen,
als hier aufgeworfene Rechtsfragen sich erst stellen, wenn entgegen der vom
Berufungsgericht bereits in dem Beschluss über die Zulassung der Berufung
(Beschluss vom 18. September 2007) vorgenommenen Bewertung von einem
Ermessensausfall ausgegangen wird.
c) Soweit die Beschwerde schließlich einen Verfahrensfehler daraus herleiten
will, dass der Klägerin die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegt wurden,
obwohl das Berufungsgericht „auf S. 5 des Beschlusses feststellt, dass der Be-
klagte erst am 22. Januar 2008 im Berufungsverfahren die Ermessensbegrün-
dung sowie die richtige Rechtsgrundlage für die Vergangenheit nachgeholt ha-
be“ (Beschwerdebegründung S. 1), ist damit ein Verstoß „gegen den Grundsatz
des § 155 Abs. 4 VwGO“ nicht dargetan. Das folgt schon daraus, dass die Auf-
erlegung von Kosten, die durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden
sind, im richterlichen Ermessen des Instanzrichters liegt und die Beschwerde
weder hierzu noch zu einem Verschulden des Beklagten Ausführungen enthält.
4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
VwGO).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskosten-
freiheit auf der entsprechenden Anwendung des § 188 Satz 2 VwGO.
Hund Prof. Dr. Berlit Stengelhofen
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