Urteil des BVerwG vom 21.02.2007

BVerwG (akten, unabhängigkeit, abweichende meinung, akte, verschwiegenheit, unterliegen, mitglied, prüfung, gesetz, beratung)

Rechtsquellen:
GG
Art. 97 Abs. 1, Art. 114 Abs. 2
VwGO
§ 99
BRHG
§§ 3, 4, 8 ff., § 20
DRiG
§ 43
BVerfGG
§ 30 Abs. 2
Stichworte:
Vorlage von Behördenakten im Prozess; Akten des Bundesrechnungshofs; Mit-
glieder des Bundesrechnungshofs; Prüfungsbeamter; richterliche Unabhängig-
keit; Beratungsgeheimnis; Gegenstand der gebotenen Verschwiegenheit.
Leitsatz:
Der Bundesrechnungshof kann die Vorlage seiner Akten verweigern, soweit
darin Äußerungen von Mitgliedern des Bundesrechnungshofs niedergelegt
sind, die den Meinungsbildungsprozess zwischen den Mitgliedern in einem Prü-
fungsverfahren erkennen lassen.
Beschluss des Fachsenats für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
vom 21. Februar 2007 - BVerwG 20 F 9.06 -
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 20 F 9.06
VG 25 K 3808/06
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 21. Februar 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dawin
und Dr. Kugele
beschlossen:
Die Weigerung der Beklagten vom 27. September 2006,
die Akte IX 2 - 2004 - 1313 sowie die Akten
IX 2 - 2004 - 0332 Ablege Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 im
Rechtsstreit VG Köln 25 K 3808/06 vorzulegen, ist
rechtswidrig.
Die Beklagte trägt die Kosten dieses Zwischenverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für dieses Zwi-
schenverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Antrag des Klägers ist begründet. Die Weigerung der Beklagten vom
27. September 2006, die vom Verwaltungsgericht Köln angeforderten Akten
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des Bundesrechnungshofs im Rechtsstreit 25 K 3808/06 vorzulegen, ist rechts-
widrig.
§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO berechtigte den Bundesrechnungshof nicht zu der
Sperrerklärung vom 27. September 2006. Nach dieser Vorschrift kann die zu-
ständige oberste Aufsichtsbehörde oder, falls es sich - wie hier - bei den vom
Gericht erbetenen Urkunden oder Akten um solche einer obersten Bundesbe-
hörde handelt, diese Behörde die Vorlage von Urkunden oder Akten verwei-
gern, wenn das Bekanntwerden ihres Inhalts dem Wohl des Bundes oder eines
deutschen Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge nach ei-
nem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen. Keine
dieser Voraussetzungen für eine Vorlageverweigerung ist erfüllt.
Allerdings vermag der vom Bundesrechnungshof genannte Grund für die Ge-
heimhaltungsbedürftigkeit der Akten, nämlich die Geheimhaltungsbedürftigkeit
der Willens- und Meinungsbildung seiner Mitglieder, eine Zurückhaltung von
Akten nach § 99 Abs. 2 Satz 2 VwGO grundsätzlich zu rechtfertigen. Nach
Art. 114 Abs. 2 GG, § 3 Abs. 4 Satz 1 des Gesetzes über den Bundesrech-
nungshof (Bundesrechnungshofgesetz - BRHG) vom 11. Juli 1985 (BGBl I
S. 1445), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 9. Juli 2001 (BGBl I S. 1510),
besitzen die Mitglieder des Bundesrechnungshofs richterliche Unabhängigkeit.
Auf sie sind die für die Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes gel-
tenden Vorschriften über Unabhängigkeit und Disziplinarmaßnahmen entspre-
chend anzuwenden (§ 3 Abs. 4 Satz 2 BRHG). Mitglieder des Bundesrech-
nungshofs sind nach § 3 Abs. 1 BRHG der Präsident, der Vizepräsident, die
Leiter der Prüfungsabteilungen und die Prüfungsgebietsleiter. Keine Mitglieder
des Bundesrechnungshofs und deshalb auch nicht im Besitz der richterlichen
Unabhängigkeit sind die Prüfungsbeamten des höheren oder gehobenen
Dienstes und die weiteren Bediensteten (§ 4 BRHG). Die Mitglieder des Bun-
desrechnungshofs treffen ihre Entscheidungen als Kollegialorgane. Dies wie-
derum sind die Zweier- und Dreierkollegien (§ 9 BRHG), § 14 der Geschäfts-
ordnung für den Bundesrechnungshof - GO-BRH), die Abteilungssenate (§ 11
BRHG, § 17 GO-BRH) und der Große Senat (§ 13 BRHG, § 19 GO-BRH). In
geheimhaltungsbedürftigen Angelegenheiten entscheidet, wenn dies im Haus-
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haltsplan bestimmt ist, allein der Präsident (§ 19 Satz 1 Nr. 2 BRHG, § 13
Abs. 1 GO-BRH).
Entscheidungen, die von den genannten Kollegien oder - in den besonderen
Fällen - vom Präsidenten in richterlicher Unabhängigkeit getroffen werden, sind
nach § 13 Abs. 2 GO-BRH alle Regelungen und Äußerungen, die dazu be-
stimmt sind, die gesetzlich vorgesehenen Befugnisse und Pflichten des Bun-
desrechnungshofs im konkreten Fall auszuüben und das Verfahren festzule-
gen. Zu dieser Konkretisierung und Festlegung des von der Verfassung und
vom Bundesrechnungshofgesetz vorgegebenen Betätigungsbereichs, in dem
der Bundesrechnungshof in richterlicher Unabhängigkeit handelt, durch die ei-
gene Geschäftsordnung war der Bundesrechnungshof durch § 20 BRHG er-
mächtigt. Um eine Entscheidung im Sinne des § 8 BRHG handelt es sich unter
anderem jeweils dann, wenn der Bundesrechnungshof Arbeitspläne aufstellt,
die Durchführung seiner Prüfung regelt (§ 13 Abs. 2 Nr. 1 GO-BRH) oder wenn
er Sachverhalte feststellt und bewertet (§ 13 Abs. 2 Nr. 2 GO-BRH).
Auf Grund der Anordnung in § 3 Abs. 4 Satz 1 BRHG, dass die „Vorschriften
über Unabhängigkeit“ der Richter für die Mitglieder des Bundesrechnungshofs
gelten, ist auch § 43 des Deutschen Richtergesetzes i.d.F. der Bekanntma-
chung vom 19. April 1972 (BGBl I S. 713), zuletzt geändert durch das Gesetz
vom 19. April 2006 (BGBl I S. 866) - DRiG - entsprechend anzuwenden. § 43
DRiG verpflichtet den Richter, über den Hergang bei der Beratung und Ab-
stimmung zu schweigen. Das Beratungsgeheimnis ist nach der deutschen
Rechtstradition Bestandteil der richterlichen Unabhängigkeit (RGSt 26, 202,
<204>; Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, § 193 Rn. 4; Silberkuhl, in: GKöD
§ 43 DRiG Rn. 3). Es gewährleistet, dass die Diskussion innerhalb des Spruch-
körpers und damit auch die Äußerung jedes einzelnen Mitglieds keinem Au-
ßenstehenden bekannt wird. Diese Absicherung nach Außen verschafft der
Arbeitsweise des Kollegialgerichts eine große Offenheit nach innen. Jeder
Richter kann, da er keine Bekanntgabe von Beratungsinterna durch einen Kol-
legen zu befürchten hat, sich frei, unbefangen, deutlich oder auch überpointiert,
wie es seinem Naturell entspricht, äußern (Silberkuhl, a.a.O.).
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Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Unabhängigkeit der Richter in
Art. 97 Abs. 1 GG ist durch §§ 43, 45 Abs. 1 Satz 2 DRiG, § 30 Abs. 2
BVerfGG einfachgesetzlich konkretisiert und ausgestaltet. Damit ist Gegen-
stand der den Richtern gebotenen Verschwiegenheit der Hergang der Bera-
tung; für das Bundesverfassungsgericht gilt die Besonderheit, dass der in der
Minderheit gebliebene Richter berechtigt ist, seine abweichende Rechtsauffas-
sung bekanntzugeben.
Da nach Art. 114 Abs. 2 GG die Mitglieder des Bundesrechnungshofs ebenfalls
richterliche Unabhängigkeit besitzen, ist die Verpflichtung zur Wahrung des Be-
ratungsgeheimnisses, wie in § 10 der Prüfungsordnung des Bundesrechnungs-
hofes - PO-BRH - im Einklang mit höherrangigem Recht ausgesprochen, Teil
auch der dienstlichen Rechtsstellung der Mitglieder des Bundesrechnungshofs.
Sie haben deshalb das Recht und die Pflicht, mündliche und schriftliche Äuße-
rungen, die sich mit den von ihnen gewonnenen Erkenntnissen zum Sachver-
halt befassen, oder diesen einer Bewertung und Beurteilung unterziehen oder
die Aufstellung von Arbeitsplänen oder die Regelung eines Prüfungsablaufs
zum Gegenstand haben, nicht an außenstehende Dritte gelangen zu lassen.
Der Verschwiegenheit unterliegen hingegen nicht Äußerungen dieses Inhalts,
die nicht von Mitgliedern, sondern von Prüfungsbeamten des Bundesrech-
nungshofs abgegeben werden. Prüfungsbeamte sind eine von den Mitgliedern
deutlich abgegrenzte Gruppe von Bediensteten; insbesondere genießen sie
keine richterliche Unabhängigkeit. Ihre Äußerungen unterliegen auch nicht des-
halb der Verschwiegenheit, weil sie die Entscheidungen der Mitglieder fördern
und vorbereiten und ihre Vorschläge nicht selten von den Mitgliedern als eigene
Entscheidung übernommen werden. Nach dem Beschluss des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 17. Oktober 1986 - BVerwG 7 B 42.86 - (Buchholz 310
§ 100 VwGO Nr. 4) erfasst das richterrechtliche Beratungsgeheimnis nicht den
Sachbericht und das Votum des als Berichterstatter fungierenden Richters. Ob
dieser Entscheidung zu folgen ist oder die gegenteilige Auffassung in der Lite-
ratur (vgl. Sendler, Anspruch auf Gehör und Effizienz richterlicher Tätigkeit, in:
Festschrift für Lerche zum 65. Geburtstag, S. 833 <847>; Silberkuhl, a.a.O.
Rn. 10) Zustimmung verdient, braucht nicht entschieden zu werden. Jedenfalls
vorbereitende Arbeiten, Entwürfe und Stellungnahmen im finanzrechtlichen
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Prüfungsverfahren, die nicht von einem Mitglied des Bundesrechnungshofs,
sondern von einem Prüfungsbeamten verfasst worden sind, liegen außerhalb
des Rahmens, der durch die Begriffe „Entscheidung des Bundesrechnungs-
hofs“ (§ 13 GO-BRH), „Beratung einer Angelegenheit in den Entscheidungs-
gremien des Bundesrechnungshofs“ (§ 10 Satz 1 PO-BRH) sowie „gesamter
Vorgang der Entscheidungsfindung“ (§ 10 Satz 2 PO-BRH) gekennzeichnet ist.
Wesentlich für die so umschriebene gegenständliche Reichweite des Bera-
tungsgeheimnisses ist die unmittelbare Zuordnung der Äußerung zu einem Mit-
glied des Bundesrechnungshofs. Gerade diese fehlt aber bei Äußerungen der
Prüfungsbeamten, die lediglich die Grundlage für die vertrauliche Meinungs-
und Willensbildung innerhalb des Kollegiums bilden (für die Erstreckung des
Beratungsgeheimnisses auf Äußerungen der Prüfungsbeamten wohl Verfas-
sungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluss vom 20. November 1997
- VfGBbg 12/97 - DÖV 1998, 200).
In Anwendung dieses normativen Regelungssystems erweist es sich, dass der
Inhalt der Akte IX 2 - 2004 - 0332 insgesamt nicht dem Beratungsgeheimnis
unterliegt. Die Akte enthält den Schriftwechsel, der zwischen dem Untersu-
chungsführer im förmlichen Disziplinarverfahren gegen den Leiter des Aus-
gleichsamts Saarbrücken und dem Bundesrechnungshof wegen der erbetenen
Vorlage der Prüfungsakten in diesem Disziplinarverfahren entstanden ist. Auch
die weiteren von der Sperrerklärung des Bundesrechnungshofs erfassten Akten
sind zu erheblichen Teilen nicht geheim. Die Akte IX 2 - 2004 - 1313 enthält
neben Äußerungen zum Prüfungsablauf und Zwischenwertungen, die von ei-
nem Mitglied des Bundesrechnungshofs stammen und daher dem Beratungs-
geheimnis unterliegen, die abschließende Mitteilung über die durchgeführte
Prüfung, Schreiben von Bundes- und Landesbehörden und der Stadt Saarbrü-
cken sowie die Ablichtung mehrerer gerichtlicher Entscheidungen. Auch in der
Akte IX 2 - 2004 - 0332 Ablege Nr. 2 finden sich neben geheimhaltungsbedürf-
tigen Stellungnahmen von Mitgliedern des Bundesrechnungshofs Schreiben
von Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden, ferner wiederum Ablichtungen
von Zeitungsartikeln. Die Akte IX 2 - 2004 -0332 Ablege Nr. 1 enthält demge-
genüber neben Ablichtungen weiterer Zeitungsartikel und einem Schreiben des
Präsidenten des Bundesausgleichsamts zahlreiche Entscheidungen des Bun-
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desrechnungshofs im Sinne des § 13 Abs. 2 Nr. 1 und 2 GO-BRH, die insoweit
dem Beratungsgeheimnis unterliegen, als es sich um den Prozess der Mei-
nungs- und Willensbildung zwischen den Mitgliedern des Bundesrechnungs-
hofs handelt. In der Akte finden sich auch schriftliche Äußerungen der bei der
Prüfung eingesetzten Prüfungsbeamten. Diese grundsätzlich nicht der Ver-
schwiegenheit unterliegenden Schriftstücke werden indessen insoweit vom Be-
ratungsgeheimnis erfasst, als das zuständige Mitglied des Bundesrechnungs-
hofs sie genutzt hat, um durch Randvermerke und Ähnliches seine zustimmen-
de oder abweichende Meinung zu ihnen auszudrücken. Dies könnte bei einigen
der schriftlichen Äußerungen von Prüfbeamten in der Akte IX 2 - 2004 -0332
Ablege Nr. 1 geschehen sein. In diesem Umfang sind die Schriftstücke eben-
falls vertraulich.
Die Sperrerklärung des Bundesrechnungshofs vom 27. September 2006 leidet
demnach an dem Rechtsfehler, dass der Bundesrechnungshof den Inhalt der
Verwaltungsakten ausnahmslos als dem Beratungsgeheimnis unterliegend an-
gesehen und deshalb auch die Vorlage einzelner Bestandteile dieser Akten
verweigert hat. So hätte er die Schreiben der anderen Bundes- und Landesbe-
hörden sowie der Stadt Saarbrücken, die Ablichtungen der Zeitungsartikel und
Gerichtsentscheidungen sowie schließlich die vorbereitenden Äußerungen der
Prüfungsbeamten offenbaren müssen, nicht hingegen die Beiträge der Mitglie-
der des Rechnungshofs zur Entscheidungsfindung.
Der danach gebotenen differenzierenden Entscheidung war der Bundesrech-
nungshof auch nicht deshalb enthoben, weil die verfassungsgerichtliche Recht-
sprechung einen „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“ anerkennt, der
die Zurückhaltung behördlicher Akten ohne Rücksicht auf den Gesichtspunkt
des Beratungsgeheimnisses und seine Reichweite zu rechtfertigen vermag
(BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984 - II BvE 11, 15/83 - BVerfGE 67, 100 <139>;
Beschluss vom 30. März 2004 - 2 BvK 1/01 - BVerfGE 110, 199 <214 ff.>;
VerfG Bbg, Urteil vom 20. Juni 1996 - VfGBbg 3/96 - LVerfGE 4, 179 <182>).
Der Kernbestand exekutiver Eigenverantwortung sichert, um die Gewaltentei-
lung zu wahren, einen nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Hand-
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lungsbereich der Regierung gegenüber dem Parlament, wirkt aber nicht im
Verhältnis des Bundesrechnungshofs gegenüber der dritten Gewalt.
Diese gerichtliche Feststellung, dass die Sperrerklärung vom 27. September
2006 rechtswidrig ist, hindert den Bundesrechnungshof nicht, eine neue Sperr-
erklärung abzugeben und in ihr bei der Einstufung als geheimhaltungsbedürftig
nach den - durch die Paginierung der Behördenakten hinreichend gekenn-
zeichneten - Blättern der Akten oder Teilen dieser Blätter zu differenzieren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Festsetzung des
Streitwertes ergibt sich aus § 52 Abs. 2 GKG.
Dr. Bardenhewer Prof. Dawin Dr. Kugele
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