Urteil des BVerwG vom 29.06.2009

BVerwG: richteramt, ausländer, hauptsache, wiederholungsgefahr, erfüllung, asyl, zustellung, form, verordnung, rechtskraft

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 60.08 (10 C 11.09)
OVG 15 A 620/07.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29.06.2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen über die Zulassung der Revisi-
on gegen sein Urteil vom 29. Juli 2008 wird aufgehoben,
soweit sie sich auf die - hilfsweise begehrte - Verpflichtung
der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsver-
bots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG bezieht.
Insoweit wird die Revision zugelassen.
Im Übrigen wird die Beschwerde des Klägers zurückge-
wiesen.
Der Kläger trägt zwei Drittel der Kosten des Beschwerde-
verfahrens. Die Entscheidung über die restlichen Kosten
des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung
in der Hauptsache.
G r ü n d e :
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1. Die Beschwerde ist begründet, soweit sie sich auf das Hilfsbegehren bezieht,
das auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbo-
tes nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG gerichtet ist. Insoweit wird die
Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung
der Rechtssache zugelassen. Sie kann dem Bundesverwaltungsgericht Gele-
genheit zur Klärung der Frage geben, nach welchen Maßstäben die Rückkehr-
gefahren nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 i.V.m. Abs. 11 AufenthG zu beurtei-
len sind, wenn der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist, seine Asyl- und Flücht-
lingsanerkennung aber nach § 60 Abs. 8 AufenthG widerrufen worden ist.
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2. Dagegen ist die Beschwerde nicht begründet, soweit sie sich auf das mit
dem Hauptantrag verfolgte Anfechtungsbegehren gegen den Widerrufsbe-
scheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. Oktober 2005
(Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter in Nr. 1 und der Feststellung
nach § 51 Abs. 1 AuslG in Nr. 2 sowie Verneinung der Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 AufenthG in Nr. 3 des Bescheides) richtet.
Die Beschwerde macht geltend, dass das Berufungsurteil insoweit von der Ent-
scheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2000 - BVerwG
9 C 6.00 - BVerwGE 112, 185 im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ab-
weicht. Sie trägt hierzu vor, das Berufungsgericht führe die in dieser Entschei-
dung enthaltenen Grundsätze über die Prognose einer Wiederholungsgefahr im
Rahmen von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG an und stelle darüber hinaus hin-
sichtlich dieser Prognose mit den folgenden Ausführungen zusätzliche Anforde-
rungen auf:
Demgegenüber haben Ausländerbehörde und Verwal-
tungsgerichte ausschließlich ordnungsbehördliche Über-
legungen anzustellen, in deren Mittelpunkt der Schutz der
Gesellschaft vor weiteren Straftaten des Ausländers steht.
Sie sind, da Resozialisierungsgesichtspunkte bzw. den
obigen Überlegungen vergleichbare Vorgaben des Ver-
hältnismäßigkeitsgrundsatzes im vorliegenden Zusam-
menhang keine Rolle spielen, bei der Einschätzung des
Maßes der Wiederholungsgefahr nicht gehalten, ein
gleichgroßes Restrisiko in Kauf zu nehmen wie die Straf-
gerichte. Ihre Prognose orientiert sich daher im Regelfall
an strengeren Kriterien. Unabhängig davon erfordert die
ausländerrechtlich erforderliche Prognose - im Gegensatz
zu der der Strafgerichte im Rahmen des § 57 Abs. 1 Nr. 2
StGB - eine über die Bewährungsdauer hinausgehende
längerfristige Gefahrenprognose (UA S. 15).
Die Beschwerde macht geltend, derartige „strengere“ Kriterien seien den Grün-
den des Urteils vom 16. November 2000 nicht zu entnehmen.
Eine die Revision eröffnete Divergenz liegt nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts vor, wenn das Berufungsgericht in Anwendung
derselben Rechtsvorschrift von einem in der Rechtsprechung des Bundesver-
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waltungsgerichts aufgestellten Rechtssatz mit einem widersprechenden
Rechtssatz abgerückt ist. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. In
der von der Beschwerde angeführten Passage des Berufungsurteils liegt keine
rechtssatzmäßige Abweichung von dem in Rede stehenden Urteil des Bundes-
verwaltungsgerichts, auch soweit dort ausgeführt wird, die Prognose der Aus-
länderbehörden und Verwaltungsgerichte orientiere sich bei bestimmten von
ihnen vorzunehmenden Beurteilungen im Regelfall an strengeren Kriterien als
die der Strafgerichte. Damit wird lediglich die vom Bundesverwaltungsgericht
vertretene Auffassung mit anderen Worten wiedergegeben. Gegen eine Diver-
genz spricht auch der Umstand, dass das Berufungsgericht im Anschluss an
die zitierte Passage wie folgt fortfährt:
Das bedeutet, dass auch die Frage prognostisch zu be-
antworten ist, ob der Ausländer sich nach Ablauf der Be-
währungszeit, d.h. wenn der Druck der bei Bewährungs-
versagen drohenden Verbüßung der Reststrafe weggefal-
len ist, voraussichtlich straffrei verhalten wird.
Dies entspricht den im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Novem-
ber 2000 angeführten Anforderungen (vgl. BVerwGE 112, 185, 193).
3. Die Beschwerde ist auch nicht begründet, soweit sie die - gegenüber Ab-
schiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG nachrangi-
gen - Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG betrifft
(zum Rangverhältnis der dem subsidiären Schutz nach der Richtlinie
2004/83/EG - Qualifikationsrichtlinie - zuzuordnenden Abschiebungsverbote
nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zu den sonstigen nationalen aus-
länderrechtlichen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1
AufenthG vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131,
198 Rn.11 ff.). Insoweit macht die Beschwerde die grundsätzliche Bedeutung
der Rechtssache geltend, ohne sie in einer den Darlegungsanforderungen des
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise zu bezeichnen. Die von ihr
aufgeworfene Frage, welcher Prognosemaßstab der Prüfung von (Rückkehr-)
Gefahren im Rahmen der ausländerrechtlichen Abschiebungsverbote bei vor-
verfolgt ausgereisten Ausländern zugrunde zu legen ist, ist für die allein auf
nationalem Recht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und
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Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Da-
nach ist in diesen Fällen stets der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit
anzuwenden, unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist
oder nicht (stRspr, etwa Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 -
BVerwGE 99, 324 <330> und Beschluss vom 24. März 1998 - BVerwG 9 B
995.97 - juris m.w.N.). Einen erneuten Klärungsbedarf aus Anlass des Falles
des Klägers zeigt die Beschwerde nicht auf.
4. Mit der Zurückweisung der Beschwerde ist das Berufungsurteil insoweit
rechtskräftig, als es das Anfechtungsbegehren gegen den Widerrufsbescheid
vom 11. Oktober 2005 und der Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung
von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG betrifft.
Hinsichtlich des letztgenannten Streitgegenstands ist die Rechtskraft des Beru-
fungsurteils allerdings auflösend bedingt durch den Erfolg des Klägers mit sei-
nem noch nicht rechtskräftig beschiedenen vorrangigen Begehren auf Ver-
pflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60
Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG.
5. Soweit die Beschwerde hinsichtlich des Widerrufs der Asyl- und Flüchtlings-
anerkennung (s.o. zu 2.) zurückgewiesen wird, trägt der Kläger gemäß § 154
Abs. 2 VwGO die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Hierauf entfallen zwei
Drittel der Kosten des Beschwerdeverfahrens. Im Übrigen - hinsichtlich der
noch offenen Entscheidung über das Begehren des Klägers zur Feststellung
eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einer-
seits und hinsichtlich des erfolglos gebliebenen (Hilfs-)Begehrens auf Feststel-
lung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ande-
rerseits, auf die jeweils ein Sechstel der Kosten des Beschwerdeverfahrens
entfallen - folgt die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens
der Kostenentscheidung in der Hauptsache. Gerichtskosten werden gemäß
§ 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
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Rechtsbehelfsbelehrung
Soweit die Revision zugelassen worden ist, wird das Beschwerdeverfahren als
Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 10 C 11.09 fortgesetzt;
der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu
begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simson-
platz 1, 04107 Leipzig, schriftlich oder in elektronischer Form (Verordnung vom
26. November 2004, BGBl I S. 3091) einzureichen.
Für die Beteiligten besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung
der Revision. Die Beteiligten müssen sich durch einen Rechtsanwalt oder einen
Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmen-
gesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen.
Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der
von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammen-
schlüsse können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richter-
amt einschließlich Diplomjuristen im höheren Verwaltungsdienst oder durch
Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt einschließlich Diplomjuristen im
höheren Verwaltungsdienst anderer Behörden oder juristischer Personen des
öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen
Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.
Dr. Mallmann Beck Prof. Dr. Kraft