Urteil des BVerwG vom 31.05.2012

BVerwG: rechtliches gehör, körperliche unversehrtheit, diskriminierungsverbot, disziplinarverfahren, realisierung, amt, nacht, polizei, privatsphäre, missbrauch

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 141.11
OVG 14 LB 2/11
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 31. Mai 2012
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Thomsen und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung
beschlossen:
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 25. August 2011 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückver-
wiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache
gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG und § 41 Abs. 1 LDG an das Oberver-
waltungsgericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf dem
vom Beklagten geltend gemachten Verstoß gegen das aus Art. 103 Abs. 1 GG,
§ 108 Abs. 2 VwGO und § 4 LDG folgende Recht auf rechtliches Gehör.
1. Der 1966 geborene Beklagte steht als Polizeiobermeister (Besoldungsgruppe
A 8) im Dienst des Klägers. Im November 2004 wurde er wegen des Besitzes
kinderpornografischer Schriften zu einer Geldstrafe verurteilt. Bei einer Haus-
durchsuchung war im August 2003 festgestellt worden, dass der Beklagte auf
Festplatten seines privaten Computers 465 kinderpornografische Bild- und Vi-
deodateien gespeichert hatte. Gegenstand der Disziplinarklage ist zum einen
der Besitz kinderpornografischer Schriften und zum anderen der Vorwurf, der
Beklagte habe ohne dienstlichen Anlass polizeiliche Auskunftssysteme abge-
fragt, um das private Umfeld seiner Lebensgefährtin zu ermitteln. Das Verwal-
tungsgericht hat den Beklagten in ein Amt der Besoldungsgruppe A 7 zurück-
gestuft und den Zeitraum der Möglichkeit einer Wiederbeförderung nach Eintritt
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der Unanfechtbarkeit des Urteils auf zwei Jahre verkürzt. Das Oberverwal-
tungsgericht hat den Beklagten aus dem Dienst entfernt. Zur Begründung hat
es ausgeführt:
Der außerdienstlich begangene Besitz kinderpornografischer Schriften weise
einen Bezug zu den dienstlichen Pflichten des Beklagten als Polizeivollzugsbe-
amter auf. Die unberechtigte Abfrage von Daten aus Auskunftssystemen sei
innerdienstlich begangen worden. Das einheitliche Dienstvergehen erfordere
die Entfernung des Beklagten aus dem Dienst. Der sich an der Strafandrohung
ausrichtende Orientierungsrahmen (Zurückstufung) sei lediglich Ausgangspunkt
für die Bemessungsentscheidung. Angesichts des Persönlichkeitsbildes des
Beklagten und des eingetretenen Vertrauensverlustes auf Seiten des Klägers
sei die Zurückstufung als Disziplinarmaßnahme unangemessen. Die mit der
früheren Lebensgefährtin ausgetauschten Kurznachrichten, die auch die Vor-
nahme sexueller Handlungen an minderjährigen Kindern zum Gegenstand ge-
habt hätten, hätten eine erhebliche menschenverachtende Tendenz erkennen
lassen. Bei einem Polizeivollzugsbeamten, der in seiner Gedankenwelt Kinder
zu Objekten seiner sexuellen Begierde herabwürdige, sei das Vertrauensver-
hältnis zum Dienstherrn nachhaltig erschüttert.
2. Die Revision ist nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, § 69 BDG
und § 41 Abs. 1 LDG) zuzulassen. Eine die Revision eröffnende Divergenz ist
nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet,
wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entschei-
dung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem
in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensol-
chen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz
in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. Beschluss
vom 21. Juni 1995 - BVerwG 8 B 61.95 - Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 18 ). Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unter-
bliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in
seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt weder den Zulässigkeitsanforde-
rungen einer Divergenz noch denen einer Grundsatzrüge (vgl. Beschluss vom
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17. Januar 1995 - BVerwG 6 B 39.94 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 342,
S. 55).
Einen prinzipiellen Auffassungsunterschied zwischen dem Oberverwaltungsge-
richt und dem Senat zum Bedeutungsgehalt einer dem § 13 BDG entsprechen-
den Vorschrift des Landesrechts bei der disziplinarischen Würdigung des au-
ßerdienstlich begangenen Dienstvergehens des Besitzes kinderpornografischer
Schriften zeigt der Beklagte nicht auf. Das Oberverwaltungsgericht hat sich bei
der Bestimmung des Orientierungsrahmens an der Strafandrohung und am Vor-
liegen eines Dienstbezugs ausgerichtet. Von diesem Orientierungsrahmen aus-
gehend hat es Gesichtspunkte zum Persönlichkeitsbild des Beklagten in die
Gesamtwürdigung eingestellt. Die fehlerhafte Handhabung von Grundsätzen
zur Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme im konkreten Einzel-
fall ist nicht geeignet, der Divergenzrüge zum Erfolg zu verhelfen (Beschlüsse
vom 3. Juli 2007 - BVerwG 2 B 18.07 - juris Rn. 7
235.1 § 69 BDG Nr. 1 veröffentlicht> und vom 5. Februar 2008 - BVerwG 2 B
127.07 - juris Rn. 4).
3. Grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 69 BDG und § 41
Abs. 1 LDG) hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine - vom Beschwerde-
führer zu bezeichnende - grundsätzliche, bisher höchstrichterlich nicht beant-
wortete Rechtsfrage aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtspre-
chung oder einer Weiterentwicklung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung
bedarf und die für die Entscheidung des Revisionsgerichts erheblich sein wird
(stRspr, u.a. Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE
13, 90 <91 f.>). Das ist hier nicht der Fall.
Die Beschwerde sieht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache in den
Fragen,
„inwieweit sexuelle Fantasien und mit einer anderen Per-
son (Geschlechtspartner) einvernehmlich ausgetauschte
Fantasievorstellungen sexueller Art maßnahmeverschär-
fend zur Bestimmung der konkreten Disziplinarmaßnahme
Berücksichtigung finden dürfen.“
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und
„welchen Inhalt und welche Reichweite der Begriff der se-
xuellen Identität hat und welche Auswirkungen sich im
Hinblick auf das Diskriminierungsverbot im Disziplinarver-
fahren ergeben.“
Diese Fragen rechtfertigen die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache deshalb nicht, weil sie nicht anhand allgemeingül-
tiger Maßstäbe beantwortet werden können. Ob und inwieweit bei der diszipli-
narischen Würdigung eines außerdienstlichen Dienstvergehens auch die Mittei-
lung von der sexuellen Stimulation dienenden Fantasievorstellungen gegenüber
einer anderen Person berücksichtigt werden darf und welche Bedeutung dem
Diskriminierungsverbot der §§ 1 und 2 AGG bei der Bemessung der Diszipli-
narmaßnahme nach Maßgabe des § 13 LDG zukommt, kann nicht generalisie-
rend, sondern nur für den jeweiligen Einzelfall aufgrund der konkreten Umstän-
de beantwortet werden. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass die
Verwaltungsgerichte auch bei der Bestimmung eines Orientierungsrahmens
ebenso wie bei einer Regeleinstufung gehalten sind, über die erforderliche Dis-
ziplinarmaßnahme aufgrund einer prognostischen Gesamtwürdigung unter Be-
rücksichtigung aller im Einzelfall belastenden und entlastenden Gesichtspunkte
zu entscheiden (Urteile vom 19. August 2010 - BVerwG 2 C 5.10 - Buchholz
235.2 LDisziplinarG Nr. 12 Rn. 22 und - BVerwG 2 C 13.10 - Buchholz 235.1
§ 13 BDG Nr. 12 Rn. 25 sowie Beschluss vom 25. Mai 2012 - BVerwG 2 B
133.11 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung Buchholz vorge-
sehen). Die be- oder entlastende Berücksichtigung von Äußerungen oder Hand-
lungen mit sexuellem Bezug hängt von den Umständen des konkreten Einzel-
falles, wie ihrem In- und Gehalt, ihrer Häufigkeit, ihrem Gegenstand und ihrer
Intensität, ab und ist deshalb einer rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zugäng-
lich.
4. Begründet ist jedoch die Verfahrensrüge des Verstoßes gegen das Recht
des Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO
und § 4 LDG).
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Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass der
Einzelne nicht bloßes Objekt des gerichtlichen Verfahrens ist. Der Verfahrens-
beteiligte soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kom-
men, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können
(BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188
<190>). Zwar verlangt Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht, dass das Gericht
vor der Entscheidung auf seine Rechtsauffassung hinweist; ihm ist auch keine
umfassende Frage-, Aufklärungs- und Informationspflicht des Gerichts zu ent-
nehmen (BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 1984 - 1 BvR 272/81 - BVerfGE
66, 116 <147>). Der Schutz vor einer Überraschungsentscheidung verlangt
aber, dass die Beteiligten erkennen können, auf welche tatsächlichen und
rechtlichen Gesichtspunkte es für die Entscheidung nach Ansicht des Gerichts
ankommt (stRspr; vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR
986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.>).
Nach diesen Grundsätzen war das Oberverwaltungsgericht gehalten, den Be-
klagten in der mündlichen Verhandlung darauf hinzuweisen, dass und aus wel-
chen Gründen eine Verschärfung der Disziplinarmaßnahme gegenüber der vom
Verwaltungsgericht ausgesprochenen Zurückstufung in ein Amt der Besol-
dungsgruppe A 7 in Betracht kommt. Ausweislich der Niederschrift über die
mündliche Verhandlung des Oberverwaltungsgerichts vom 25. August 2011 hat
der Vorsitzende den Beschluss des Senats vom 21. Dezember 2010 - BVerwG
2 B 29.10 - auszugsweise verlesen (Rn. 14 und 15) und darauf hingewiesen,
dass eine Würdigung des gesamten Persönlichkeitsbildes des Beklagten zur
Entscheidung beitragen werde.
Angesichts der prozessualen Situation reichte die Wiederholung des Geset-
zeswortlauts des § 13 Abs. 1 Satz 3 LDG, wonach das Persönlichkeitsbild der
Beamtin oder des Beamten bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme an-
gemessen zu berücksichtigen ist, nicht aus. Das Oberverwaltungsgericht hätte
den Beklagten darauf hinweisen müssen, dass es die nicht auf Realisierung
gerichteten Kurznachrichten wegen der Einbeziehung der minderjährigen Kin-
der der Lebensgefährtin vergleichbar dem Besitz von kinderpornografischen Bil-
dern als Ausdruck einer menschenverachtenden Tendenz ansieht, so dass es
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gerechtfertigt sei, bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme über die durch
die Schwere des Dienstvergehens indizierte Maßnahme der Zurückstufung
hinauszugehen. Dies gilt auch für die Würdigung des Vorbringens des Be-
klagten im Disziplinarverfahren, er habe die kinderpornografischen Bilder nur so
lange besitzen wollen, bis er diese gesichtet habe.
Durch einen entsprechenden Hinweis in der Berufungsverhandlung wäre der
Beklagte in der Lage gewesen, zu den vom Urteil des Verwaltungsgerichts ent-
scheidend abweichenden Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts zur Be-
messung der Disziplinarmaßnahme Stellung zu nehmen. Das gilt insbesondere
für das Vorbringen des Beklagten, der Inhalt der Kurznachrichten sei für ihn
persönlichkeitsfremd und er habe sich lediglich in einer Nacht von seiner dama-
ligen Freundin, die ihn kurze Zeit später bei der Polizei angezeigt habe, zu die-
sem nur drei oder vier Tage dauernden Austausch von Kurznachrichten hinrei-
ßen lassen.
Das Oberverwaltungsgericht wird bei seiner erneuten Entscheidung zu berück-
sichtigen haben, dass der Besitz kinderpornografischer Bilder wie der Versand
von Kurznachrichten mit dem im Berufungsurteil wiedergegebenen Inhalt hier
keinen Dienstbezug aufweisen. Zudem ist der Beklagte im Hinblick auf die von
ihm an seine frühere Freundin versandten Kurznachrichten vom Vorwurf der
versuchten Anstiftung zur Vornahme von sexuellen Handlungen an Kindern aus
tatsächlichen Gründen freigesprochen worden. Auch ist zu beachten, dass ein
normabweichendes Verhalten nicht in jedem Fall maßnahmeverschärfend zu
berücksichtigen ist und dass es sich bei den von vornherein nicht auf Realisie-
rung gerichteten Kurznachrichten um Äußerungen des Beklagten im Kernbe-
reich seiner Privatsphäre gehandelt hat. Bei der Würdigung ist ferner zu be-
rücksichtigen, dass der Versand von Kurznachrichten mit dem im Berufungs-
urteil wiedergegebenen Inhalt an einen Sexualpartner jedenfalls nicht mit dem
Besitz kinderpornografischer Darstellungen verglichen werden kann. Der Besitz
kinderpornografischer Schriften ist ein schweres Dienstvergehen, weil der Be-
sitzer durch seine Nachfrage nach solchen Darstellungen zum schweren se-
xuellen Missbrauch von Kindern und damit zum Verstoß gegen ihre Menschen-
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würde und körperliche Unversehrtheit beiträgt (Urteile vom 19. August 2010
- BVerwG 2 C 5.10 - a.a.O. Rn. 16 und - BVerwG 2 C 13.10 - a.a.O. Rn. 19).
Dr. Heitz
Thomsen
Dr. Hartung