Urteil des BVerwG vom 14.03.2017

VG Prof: politische rechte, ausweisung, öffentliche sicherheit, achtung des privatlebens, schutz des familienlebens, ablauf der frist, europäisches niederlassungsabkommen, wiederholungsgefahr

Rechtsquellen:
Beschluss Nr. 1/80 des Assozi-
ationsrats EWG-Türkei über die
Entwicklung der Assoziation
- ARB 1/80 -
Art. 6, Art. 7, Art. 14 Abs. 1
AufenthG
§ 7 Abs. 1 Satz 3, § 11 Abs. 1 Satz 3,
§ 37 Abs. 1 und 2, § 55, § 56 Abs. 1
EMRK
Art. 8
Europäisches Niederlassungs-
abkommen - ENA
Art. 3 Abs. 3
GG
Art. 2 Abs. 1, Art. 6, Art. 101 Abs. 1 Satz 2
EG
Art. 234 Abs. 3
Internationaler Pakt über bürger-
liche und politische Rechte
- IPBPR
Art. 12 Abs. 4
RL 64/221/EWG
Art. 8, Art. 9
RL 2004/38/EG
Art. 28 Abs. 3, Art. 40
VwGO
§ 114 Satz 1
Stichworte:
Assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, Ausweisung, Ausweisungsschutz,
Befristung, eigenes Land, Ermessensentscheidung, Recht auf Privatleben,
Sperrwirkung, türkische Staatsangehörige, Übermaßverbot, Verhältnismäßig-
keit, Verwurzelung, Wiederholungsgefahr, Wiederkehr.
Leitsätze:
1. Die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der ein Aufenthaltsrecht
nach dem ARB 1/80 besitzt, kann wegen der drohenden Gefahr erneuter schwe-
rer Wirtschaftsstraftaten gerechtfertigt sein.
2. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 steht der Ausgestaltung der Ausweisung als behördli-
cher Ermessensentscheidung im nationalen Recht nicht entgegen.
3. Ob die Wirkungen einer Ausweisung schon zum Zeitpunkt der Ausweisung
oder erst später zu befristen sind, ist eine Frage des Einzelfalls. Sie hängt unter
anderem vom Ausmaß der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr für die öf-
fentliche Sicherheit und Ordnung, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwick-
lung dieser Gefahr sowie den schutzwürdigen Belangen des Betroffenen und
seiner Angehörigen ab.
4. Die Ausweisung eines Ausländers, der die Staatsangehörigkeit seines Ur-
sprungslands behalten hat, verletzt nicht Art. 12 Abs. 4 des Internationalen
Paktes über bürgerliche und politische Rechte - IPBPR -.
Urteil des 1. Senats vom 2. September 2009 - BVerwG 1 C 2.09
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I. VG Düsseldorf vom 13.08.2008 - Az.: VG 22 K 4179/05 -
II. OVG Münster vom 29.12.2008 - Az.: OVG 18 A 2369/08 -
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 2.09
OVG 18 A 2369/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
ohne mündliche Verhandlung am 2. September 2009
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft sowie
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen den Beschluss des Ober-
verwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 29. Dezember 2008 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der im Januar 1955 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet
sich gegen seine Ausweisung aus Deutschland.
Er reiste nach Vollendung des 16. Lebensjahres im November 1971 zu seiner
Familie in das Bundesgebiet ein und lebte bei seinen Eltern. Nach der Einreise
wurde ihm eine befristete Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung
erteilt. Im Januar 1976 verließ der Kläger das Bundesgebiet, um in der Türkei
seinen Wehrdienst abzuleisten. Nach seiner Wiedereinreise im April 1978 er-
hielt er zunächst befristete Aufenthaltserlaubnisse und im Mai 1983 eine unbe-
fristete Aufenthaltserlaubnis; im Dezember 1984 wurde ihm eine Aufenthaltsbe-
rechtigung erteilt. Der zuerst abhängig beschäftigte Kläger betrieb ab 1985 eine
Bausparagentur, die 1997 in Konkurs fiel.
Aus der am 1. April 1974 eingegangenen Ehe mit einer türkischen Staatsange-
hörigen sind fünf mittlerweile volljährige Kinder hervorgegangen. Die Eheleute
lebten seit März 1996 getrennt und die Ehe wurde im Jahr 2002 geschieden.
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Der Kläger ist strafrechtlich wie folgt aufgefallen:
Am 7. März 1996 verurteilte ihn das Amtsgericht Dortmund wegen unerlaubten
Waffenbesitzes zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen und wegen fahrlässi-
ger Gefährdung des Straßenverkehrs infolge Trunkenheit und unerlaubten Ent-
fernens vom Unfallort in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu
einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen. Wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt
in vier Fällen wurde er am 9. März 1998 zu einer Geldstrafe von 60 Tagessät-
zen verurteilt. Am 16. Juli 1998 wurde der Kläger wegen Betrugs mit einem
Schaden von 171 500 DM zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt,
deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Das Landgericht Duisburg verurteilte den Kläger am 5. Mai 2003 wegen Be-
trugs zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten. Nach den
Feststellungen im Strafurteil entschloss sich der Kläger nach dem Konkurs sei-
ner Bausparagentur, ein neues Unternehmen für hoch spekulative Anlagenge-
schäfte im Immobilienbereich zu gründen. Er ließ insbesondere bei türkischen
Landsleuten ohne Hinweis auf Risiken Geld durch Beteiligung als stille Gesell-
schafter mit hohen Renditeversprechen anwerben, über das er seinen Lebens-
unterhalt finanzierte. Als Vorstand leitete er die Gesellschaft alleine; Sitzungen
des Aufsichtsrats fanden nicht statt. Um eine ordnungsgemäße Buchführung
und Sicherung der Gelder bemühte sich der Kläger nicht. Die Einnahmen von
mindestens drei Millionen DM wurden für laufende Kosten ausgegeben; der
Kläger bezog ein monatliches Gehalt von 4 000 DM und fuhr Fahrzeuge der
Luxusklasse. Die Gesellschaft nahm nur ein Immobilienprojekt in Angriff; die
Zahlung des Kaufpreises für das entsprechende Grundstück wurde jedoch
nicht veranlasst. Als der Geschäftsbetrieb der Firma im Frühjahr 2002 endete,
waren die Konten abgeräumt. Die meisten der rund eintausend geschädigten
Anleger verloren sämtliche Einlagen, die zum Teil ihr gesamtes Vermögen dar-
stellten. Die Strafzumessung beruhte u.a. darauf, dass der Kläger zu Beginn
des Tatzeitraums noch unter laufender Bewährung stand und mit großer krimi-
neller Energie vorgegangen ist.
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Nach Gelegenheit zur Äußerung wurde der Kläger mit Bescheid vom 16. Juli
2004 ausgewiesen und ihm wurde die Abschiebung in die Türkei angedroht.
Den Widerspruch des Klägers wies die Bezirksregierung Düsseldorf mit Be-
scheid vom 31. August 2005 zurück. Sie stützte den Bescheid darauf, dass der
Kläger aufgrund des ARB 1/80 nur auf der Grundlage einer Ermessensent-
scheidung ausgewiesen werden könne. Es liege ein besonders schwerer Ver-
stoß gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung vor. Die Gefahr neuer Straf-
taten bestehe, da der Kläger bereits zuvor wegen Betrugs verurteilt worden sei
und sich dadurch nicht habe beeindrucken lassen. Trotz des langjährigen Auf-
enthalts und der Trennung von seiner Familie sei die Ausweisung angesichts
der vom Kläger ausgehenden Gefahr verhältnismäßig.
Mit Beschluss vom 4. Mai 2006 setzte das Oberlandesgericht Düsseldorf die
Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung aus. Zur Begründung hat es darauf
abgestellt, dass bei erstmaliger Verbüßung einer Freiheitsstrafe im Regelfall
davon auszugehen sei, dass die Strafe ihre spezialpräventive Wirkung entfalte.
Aufgrund der an sich positiven Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt sei die
Aussetzung der Vollstreckung vertretbar. Nachdem ein Verfahren des vorläufi-
gen Rechtsschutzes keinen Erfolg hatte, hat der Kläger das Bundesgebiet im
März 2008 verlassen.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 13. August 2008 ab. Es
begründete seine Entscheidung wie folgt: Der Kläger besitze ein Aufenthalts-
recht gem. Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, das er durch die Erfüllung der gesetzlichen
Wehrpflicht in der Türkei nicht verloren habe. Demzufolge komme nur eine Er-
messensausweisung nach § 55 AufenthG in Betracht, die den Anforderungen
des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 entsprechen müsse. Das sei der Fall. Es bestehe
aufgrund der wiederholten Straftaten und ihres Unrechtsgehalts, der Art und
Höhe der verhängten Strafen sowie des Verhaltens des Klägers mit Blick auf
seine Gesamtpersönlichkeit die konkrete Gefahr, dass er erneut vergleichbare
Taten begehen werde. Der Kläger habe sich durch die erste Verurteilung we-
gen Betrugs nicht beeindrucken lassen, sondern noch während der laufenden
Bewährungszeit weitere Straftaten begangen und sei dabei mit großer kriminel-
ler Energie vorgegangen. Umstände für eine davon abweichende günstigere
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Prognose seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch der Beschluss des
Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 4. Mai 2006 lasse keine individuelle, auf
die Person des Klägers abstellende positive Sozialprognose erkennen. Er-
schwerend sei zu berücksichtigen, dass sich an den beengten finanziellen Ver-
hältnissen des Klägers nichts geändert habe. Private Interessen stünden der
Ausweisung nicht entgegen. Das Gericht verkenne zwar nicht, dass der im Alter
von 17 Jahren in die Bundesrepublik eingereiste Kläger sich hier rund 36 Jahre
aufgehalten habe. Dennoch sei es ihm nicht gelungen, sich wirtschaftlich zu
integrieren. Die Verbindung zu den mittlerweile volljährigen Kindern genieße
nur geringeres Gewicht. Es sei nicht erkennbar, dass dem Kläger der Aufbau
einer Existenz in der Türkei und eine Integration in die dortige Gesellschaft
nicht zugemutet werden könne. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen
Art. 8 EMRK. Der Kläger könne sich als nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberech-
tigter türkischer Staatsangehöriger nicht auf Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie
2004/38/EG berufen. Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung sei die Klage
unzulässig, denn infolge der freiwilligen Ausreise sei die Abschiebungsandro-
hung gegenstandslos geworden und das Rechtsschutzinteresse entfallen.
Die Berufung hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 29. Dezem-
ber 2008 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Aus-
weisung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht
rechtswidrig sei. Hinsichtlich der § 55 Abs. 1 AufenthG erfolgten Ausweisung
gehe der Senat mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass im Rahmen der
gemäß Art. 14 ARB 1/80 zu stellenden Gefahrenprognose gegenwärtig die kon-
krete Gefahr bestehe, dass der Kläger erneut schwere Straftaten begehen wer-
de. Private Interessen, die seinen Verbleib in Deutschland trotz der bestehen-
den Wiederholungsgefahr erforderten, stünden ihm nicht in beachtlichem Um-
fang zur Seite. Die Ausweisung verstoße weder gegen § 56 Abs. 1 Satz 1 Auf-
enthG noch gegen Art. 8 EMRK und die von der Bezirksregierung im Wider-
spruchsbescheid getroffene Ermessensentscheidung sei nicht zu beanstanden.
Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG sei auf assoziationsberechtigte türki-
sche Staatsangehörige nicht anzuwenden. Angesichts der Zulassung der Revi-
sion sei das Berufungsgericht nicht zur Anrufung des Europäischen Gerichts-
hofs wegen dieser Frage verpflichtet.
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Der Prozessbevollmächtigte des Klägers begründet die vom Oberverwaltungs-
gericht zugelassene Revision im Wesentlichen damit, dass § 56 AufenthG die
Ausweisung nicht rechtfertigen könne, weil Art. 14 ARB 1/80 zwingende Gründe
verlange. Darüber hinaus gehe das Berufungsgericht auch zu Unrecht davon
aus, eine Ermessensentscheidung über die Ausweisung des nach Art. 7 Satz 1
ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten Klägers treffen zu dürfen. Wie bei der Fest-
stellungsentscheidung zum Verlust des Freizügigkeitsrechts gegenüber Uni-
onsbürgern sei der Behörde auch bei der Ausweisung assoziationsberechtigter
türkischer Staatsangehöriger kein Ermessen eingeräumt. Art. 28 Abs. 3 der
Richtlinie 2004/38/EG sei auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehö-
rige anzuwenden und das Berufungsgericht habe das Recht des Klägers auf
den gesetzlichen Richter verletzt, weil es diese Frage nicht dem Europäischen
Gerichtshof vorgelegt habe. Schließlich verstoße das Berufungsgericht gegen
Art. 12 Abs. 4 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte,
demzufolge niemandem willkürlich das Recht entzogen werden dürfe, in sein
eigenes Land einzureisen. Aufgrund des langen Aufenthalts sei Deutschland
für den Kläger sein eigenes Land.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen und verteidigt die Entscheidung des
Berufungsgerichts.
II
Die Revision des Klägers, über die der Senat im Einverständnis mit den Betei-
ligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141
Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist unbegründet. Das Berufungsgericht
hat zutreffend entschieden, dass die angefochtene Ausweisung revisibles
Recht nicht verletzt (1.). Die Verfahrensrüge greift nicht durch (2.).
1. a) Prüfungsmaßstab für die angefochtene Ausweisung ist § 55 Abs. 1
AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats
EWG - Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80. Denn der Klä-
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ger besitzt eine Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, da er 1971 als
Minderjähriger zur Familienzusammenführung in das Bundesgebiet eingereist
ist und zu diesem Zweck eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hat. Die Vorinstan-
zen haben festgestellt, dass er während der für die Mindestaufenthaltszeiten
des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erforderlichen Zeiträume bei seinen Eltern gelebt
und sein Vater dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat.
b) Demzufolge kann der Kläger nur ausgewiesen werden, wenn sein persönli-
ches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung dar-
stellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Prüfung dieser
Voraussetzungen darf eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit berücksich-
tigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhal-
ten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ord-
nung darstellt und auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen
der öffentlichen Ordnung hindeutet; aufenthaltsbeendende Maßnahmen dürfen
daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum
Zweck der Generalprävention angeordnet werden (EuGH, Urteil vom 4. Oktober
2007 - C-349/06 - Polat - NVwZ 2008, 59 Rn. 28 ff. m.w.N.). Diese Schwelle
wird hier erreicht, so dass im Übrigen auch schwerwiegende Gründe der öffent-
lichen Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG und des
Art. 3 Abs. 3 ENA (vgl. Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - Buch-
holz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 S. 36 <49>) gegeben sind.
Der Betrug zum Nachteil der geschädigten Anleger, den das Landgericht als
besonders schweren Fall eingestuft hat, bildet einen Ausweisungsanlass von
besonderem Gewicht. Das im Strafurteil vom 5. Mai 2003 geahndete Verhalten
des Klägers begründet eine - über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene
Störung der öffentlichen Ordnung hinausgehende - tatsächliche und hinrei-
chend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Dieser spezifische Rechtsgüterschutz (vgl. Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG
1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <304 f.>) erfasst auch das Eigentum und das
Vermögen, wenn von dem Betreffenden Wirtschaftsstraftaten drohen, die - wie
hier - zu beträchtlichen Schäden für eine Vielzahl von Personen führen können.
In dem vorliegenden Fall kommt hinzu, dass das betrügerische Verhalten des
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Klägers bis hin zur wirtschaftlichen Existenzvernichtung einzelner Geschädigter
geführt hat, die ihr gesamtes Vermögen verloren haben.
Die Beurteilung, ob eine hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, erfordert
darüber hinaus eine tatrichterliche Prognose, die sich auf das persönliche Ver-
halten des Betroffenen stützt. Für die Feststellung der Wiederholungsgefahr gilt
ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens
abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (vgl. Urteil vom
3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - a.a.O. S. 305 f.). Diesem Erfordernis ge-
nügt die von den Vorinstanzen gestellte Prognose einer konkreten Wiederho-
lungsgefahr beim Kläger. Diese haben die bereits vorangegangene Verurtei-
lung wegen Betrugs, die Tatumstände, die erneute Straffälligkeit während der
noch laufenden Bewährungszeit, die in der Zahl der Geschädigten und dem
Schadensausmaß zum Ausdruck kommende kriminelle Energie des Klägers
sowie dessen durch fehlende Einsicht gekennzeichnete Persönlichkeit umfas-
send gewürdigt. Auf der Grundlage dieser den Senat bindenden tatrichterlichen
Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) ist nicht zu erkennen, dass das Beru-
fungsgericht seiner Prognose zulasten des Klägers einen unzutreffenden, zu
niedrigen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt hat.
Der Annahme einer Wiederholungsgefahr steht auch nicht entgegen, dass das
Oberlandesgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 4. Mai 2006 die Vollstreckung
der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt hat. Ausländerbehörden und Verwal-
tungsgerichte haben eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu
treffen und sind an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte
rechtlich nicht gebunden (zu § 56 StGB: Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG
1 C 17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 S. 36 <41>). Entschei-
dungen der Strafgerichte nach § 57 Abs. 1 StGB stellen bei der Prognose zwar
ein wesentliches Indiz dar, aber eine Vermutung für das Fehlen einer Rückfall-
gefahr im Sinne einer Beweiserleichterung begründen sie nicht. Voneinander
abweichende Prognoseentscheidungen können gerade bei einer Aussetzung
des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB u.a. wegen des unter-
schiedlichen zeitlichen Prognosehorizonts in Betracht kommen (dazu ausführ-
lich Urteil vom 16. November 2000 - BVerwG 9 C 6.00 - BVerwGE 112, 185
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<193 m.w.N.>). Das Berufungsgericht hat sich mit der Entscheidung des Ober-
landesgerichts auseinandergesetzt und nachvollziehbar dargelegt, warum es
dessen Annahme nicht zu folgen vermag. Das ist revisionsgerichtlich nicht zu
beanstanden.
Die ausführliche Würdigung der Persönlichkeit des Klägers und die konkrete
Ableitung der Wiederholungsgefahr belegen, dass jedenfalls die Wider-
spruchsbehörde nicht allein die strafrechtliche Verurteilung zum Anlass für die
ausschließlich spezialpräventiv motivierte Ausweisung genommen, sondern die
zukünftig von seiner Person ausgehende Gefahr in den Blick genommen hat.
c) Da der Kläger ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzt, darf er nur
auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Bei
deren gerichtlicher Überprüfung ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt
der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts
abzustellen (Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121,
315 <320 f.>).
Die vom Kläger unter Berufung auf Renner (ZAR 2005, 295 <298>) vertretene
Auffassung, der Aufenthalt von türkischen Staatsangehörigen, die ein Aufent-
haltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, könne nur im Wege einer Feststel-
lungs- und nicht einer Ermessensentscheidung beendet werden, teilt der Senat
nicht. Nach bisherigem Verständnis wird durch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 die be-
hördliche Entscheidung über die Aufenthaltsbeendigung aus Gründen der öf-
fentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im nationalen Recht nicht als
feststellender Verwaltungsakt vorgezeichnet. Aus der Rechtsprechung des Ge-
richtshofs der Europäischen Gemeinschaften ergibt sich, dass Art. 14 Abs. 1
ARB 1/80 zum einen Anforderungen an die Tatbestandsvoraussetzungen der
Aufenthaltsbeendigung in Form der unter b) genannten Schwelle stellt. Demzu-
folge muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen,
die aus dem persönlichen Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und die ein
Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum anderen muss die Ausweisung
den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007
- Rs. C-325/05 - Derin - Slg. 2007, I-6495 Rn. 74 mit Verweis auf Urteil vom
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26. November 2002 - Rs. C-100/01 - Olazabal - Slg. 2002, I-10981 Rn. 43 f.).
Des Weiteren gelten die Verfahrensgarantien des Art. 8 und Art. 9 der Richtlinie
64/221/EWG, die eine erschöpfende Prüfung aller tatsächlichen Umstände so-
wie der Zweckmäßigkeit der Maßnahme durch eine andere behördliche Stelle
sichern (EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03 - Dörr und Ünal -
Slg. 2005, I-4759 Rn. 55 und 65 ff.). Diese gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben
stehen der Ausgestaltung der Ausweisung von nach dem ARB 1/80 privilegier-
ten türkischen Staatsangehörigen als behördlicher Ermessensentscheidung
nicht entgegen, zumal das deutsche Recht nur in diesem Entscheidungsmodus
Raum für die Berücksichtigung von Zweckmäßigkeitserwägungen bietet. Dabei
unterliegt die Ausweisung hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und
des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle.
Die Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde erfordert eine sachgerech-
te Abwägung der gegenläufigen öffentlichen Interessen an der Ausreise des
Ausländers mit dessen privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt im
Bundesgebiet. Dabei darf sich die Ausländerbehörde in ihrer Abwägung auch
an den in §§ 53 bis 55 AufenthG aufgeführten Ausweisungsgründen als - weder
abschließenden noch zwingenden - Wertungen des Gesetzgebers orientieren.
Die darin normierten Tatbestände dürfen allerdings nicht im Sinne einer Regel-
vermutung oder einer sonstigen schematisierenden Entscheidungsdirektive an-
gewendet werden, die auch nur den Anschein eines Automatismus begründet.
Vielmehr ist stets auf die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles abzu-
stellen (Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - a.a.O. S. 307). Zu-
gunsten des Ausländers sind die Gründe für einen besonderen Ausweisungs-
schutz (§ 56 AufenthG) sowie die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts und
seine schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen
im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Auswei-
sung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bun-
desgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in die
Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie
Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des
Privat- und Familienlebens sind dabei entsprechend ihrem Gewicht und unter
Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamtab-
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wägung zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei im Bundesgebiet gebo-
renen und hier aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn diese über keine
Bindungen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen.
Im Hinblick auf diese Vorgaben ist die Ermessensausübung im Widerspruchs-
bescheid nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht ist entgegen der An-
nahme des Klägers nicht davon ausgegangen, selbst eine Ermessensentschei-
dung über die Ausweisung treffen zu dürfen. Es hat vielmehr die von der Be-
zirksregierung im Widerspruchsbescheid getroffene Ermessensentscheidung
gemäß § 114 Satz 1 VwGO gerichtlich überprüft.
Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens werden angesichts der vom Kläger
ausgehenden konkreten Gefahr der Begehung neuer Wirtschaftsstraftaten er-
heblichen Ausmaßes nicht überschritten. Es begegnet keinen Bedenken, dass
der Beklagte das durch den Rechtsgüterschutz begründete öffentliche Interes-
se an einer Ausreise des Klägers aus dem Bundesgebiet höher gewichtet hat
als dessen Interesse am Verbleib. Zwar schlagen sein ca. vierunddreißigjähri-
ger rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und die wäh-
rend dieser Zeit geknüpften sozialen Bindungen erheblich zu seinen Gunsten
zu Buche. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass der erst kurz vor Vollendung
des 17. Lebensjahres in das Bundesgebiet eingereiste Kläger seine frühkindli-
che Prägung und Sozialisation bis ins Jugendalter in der Türkei erfahren hat.
Zudem hat er die Zeit der Wehrdienstableistung wiederum in der Türkei ver-
bracht. Er verfügt über ausreichende persönliche Bindungen in die Türkei, so
dass ihm die Ausreise dahin nicht unzumutbar ist. Der Schutz des Familienle-
bens genießt mit Blick darauf, dass die Kinder des geschiedenen Klägers voll-
jährig sind, kein überragendes Gewicht. Die Kontakte zu seiner Familie lassen
sich auch von der Türkei durch Kommunikationsmittel wie Telefon, Internet und
Briefverkehr sowie gelegentliche Besuche aufrechterhalten. In der Gesamt-
schau aller Umstände des vorliegenden Falles erscheint die Ausweisung daher
nicht unverhältnismäßig.
Dem steht auch nicht entgegen, dass die Ausweisung „unbefristet“ erfolgte
(Nr. 2 des Bescheids vom 16. Juli 2004). Aus der Begründung des Bescheids
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wird deutlich, dass der Beklagte mit dieser missverständlichen Formulierung
nur auf die Möglichkeit der nachträglichen Befristung der Wirkungen der Aus-
weisung (nunmehr: § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) verweisen wollte. Zudem
kann die Ausländerbehörde ihre durch einen entsprechenden Befristungsantrag
ausgelöste Prüfungs- und Entscheidungsverpflichtung und das damit korres-
pondierende subjektive Recht des Antragstellers nicht im Vorhinein ausschlie-
ßen. Die Wirkungen der Ausweisung mussten nicht bereits bei Erlass des
streitgegenständlichen Bescheids befristet werden. Nach der Rechtsprechung
des Senats hängt es von den gesamten Umständen des Einzelfalls, insbeson-
dere dem Ausmaß der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr, der Vorher-
sehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr und den schutzwürdigen
Belangen des Betroffenen und seiner Angehörigen ab, ob eine Befristung
schon bei der Ausweisung von Amts wegen geboten ist oder eine nachträgliche
Befristung auf Antrag § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausreicht (Urteile vom
15. März 2005 - BVerwG 1 C 2.04 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 42
und vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 <371
Rn. 18> sowie Beschluss vom 20. August 2009 - BVerwG 1 B 13.09 - zur Ver-
öffentlichung vorgesehen). Wegen der Wiederholungsgefahr und der damit
vom Kläger ausgehenden, auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungs-
gerichts noch nicht kalkulierbaren Risiken brauchten die Wirkungen der spezi-
alpräventiv motivierten Ausweisung im vorliegenden Fall nicht bereits mit Erlass
befristet zu werden. Vielmehr ist der Kläger angesichts der negativen Prognose
trotz seiner persönlichen Bindungen an das Bundesgebiet auf das Befristungs-
verfahren § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu verweisen. Der in dieser Vorschrift
niedergelegte Regelanspruch auf nachträgliche Befristung der Wirkungen der
Ausweisung nach Wegfall der gefahrbegründenden Umstände erweist sich für
ihn jedenfalls im Hinblick auf die Ermöglichung von Besuchsaufenthalten im
Bundesgebiet auch als praktisch wirksam.
Ob nach einer Befristung die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für eine
zukünftige dauerhafte Rückkehr nach Deutschland vorliegen, kann im vorlie-
genden Fall für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung auch
mit Blick auf die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 8 EMRK gebotene Achtung
des Privatlebens dahinstehen. Denn der Kläger ist weder im Bundesgebiet ge-
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boren noch hier aufgewachsen, sondern erst kurz vor Vollendung des 17. Le-
bensjahres eingereist. Zudem hat er seinen Wehrdienst in der Türkei abgeleis-
tet, so dass er sich erst seit seinem 23. Lebensjahr durchgehend in Deutsch-
land aufgehalten hat. Damit sind weder Umstände dafür vorgetragen noch er-
sichtlich, dass ein Fall einer tiefgreifenden Verwurzelung in Deutschland und
gleichzeitiger Entwurzelung vom Herkunftsland vorliegt, in dem ggf. das Über-
maßverbot einer Ausweisung entgegenstehen oder aber Anlass dazu geben
könnte, dem Betroffenen nach Ablauf der Frist einen Anknüpfungspunkt für die
Neubegründung eines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet - möglicherweise
§ 37 Abs. 1 und 2 oder § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG - einzuräumen.
d) Die weiteren Rügen der Revision sind unbegründet.
Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG, der gemäß Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie
bis zum 30. April 2006 umzusetzen war, ist schon aus Gründen intertemporaler
Rechtsgeltung auf die hier streitgegenständliche, im Juli 2004 verfügte und im
September 2005 mit der Klage angegriffene Ausweisung nicht anwendbar (vgl.
Urteil vom 3. Dezember 2008 - BVerwG 1 C 35.07 - NVwZ 2009, 326 Rn. 10 f.
und EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 - Rs. C-349/06 - Polat - a.a.O.
Rn. 26 f.). Die Ausweisung des Klägers ist daher unter keinen Umständen an
den Regelungen der Unionsbürgerrichtlinie zu messen. Deshalb stellt sich im
vorliegenden Verfahren auch nicht die von den Beteiligten sowie in Rechtspre-
chung und Literatur kontrovers beurteilte gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfra-
ge, ob und inwieweit Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG auf assoziations-
rechtlich aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige Anwendung findet
(vgl. dazu das Vorabentscheidungsersuchen des Senats, Beschluss vom
25. August 2009 - BVerwG 1 C 25.08 - m.w.N.).
Die Ausweisung verletzt auch nicht Art. 12 Abs. 4 des Internationalen Pakts
über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl II 1973
S. 1534 und 1976, S. 1068) - IPBPR. Danach darf niemandem willkürlich das
Recht entzogen werden, in sein eigenes Land einzureisen. Der Kläger ist der
Ansicht, Deutschland sei für ihn wegen seiner langen Aufenthaltszeit „sein ei-
genes Land“.
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Der Revision ist einzuräumen, dass der Ausschuss für Menschenrechte, der
u.a. im Individualbeschwerdeverfahren nach dem Fakultativprotokoll zum Inter-
nationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte angerufen werden kann,
in neuerer Zeit davon ausgeht, dass sich nicht nur Staatsangehörige des jewei-
ligen Landes auf Art. 12 Abs. 4 IPBPR berufen können (zur Entwicklung vgl.
M. Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights - CCPR Commentary,
2nd edition, 2005, Art. 12 CCPR Rn. 52 ff.). Nach Auffassung des Ausschusses
erfasst der Schutzbereich der Vorschrift auch Personen, die wegen ihrer spe-
ziellen Bindungen zu einem vorgegebenen Land dort nicht als bloße Fremde
gelten könnten. Als Beispiel wurde auf Staatenlose abgestellt, denen ihre
Staatsangehörigkeit auf völkerrechtswidrige Weise entzogen worden ist oder
deren Staat in einen anderen Staat einverleibt wurde, welcher ihnen die
Staatsangehörigkeit verweigert. Darüber hinaus hat der Ausschuss staatenlose
Personen in den Blick genommen, denen willkürlich das Recht vorenthalten
wird, die Staatsangehörigkeit des Landes ihres Wohnsitzes zu erwerben. Be-
hält jemand allerdings die Staatsangehörigkeit seines Ursprungslandes und
erwirbt nicht die des Wohnsitzlandes, obwohl ihm dies nicht willkürlich verwehrt
wird, wird das Land der Einwanderung nicht sein eigenes Land i.S.d. Art. 12
Abs. 4 IPBPR. Dabei werden Einbürgerungshindernisse aufgrund strafgerichtli-
cher Verurteilungen vom Ausschuss nicht als unvernünftige Schranken ange-
sehen (Auffassung vom 1. November 1996 - Case Nr. 538/1993 - Stewart v.
Canada - U.N. Doc. CCPR/C/58/D/538/1993 (1996) Nr. 12.2 bis 12.9, zit. nach:
http://humanrights.law.monash.edu.au/undocs/538-1993.html; wiederholt in der
Auffassung vom 3. April 1997 - Case Nr. 558/1993 - Canepa v. Canada - U.N.
Doc. CCPR/C/59/D/558/1993 (1997) Nr. 11.3, zit. nach:
http://humanrights.law.monash.edu.au/undocs/558-1993.html). Demzufolge
kann sich der Kläger schon wegen seiner fortbestehenden türkischen Staats-
angehörigkeit nicht auf Art. 12 Abs. 4 IPBPR berufen. Unabhängig davon könn-
te die Ausweisung im vorliegenden Fall nicht als willkürlicher Entzug des Einrei-
serechts angesehen werden.
2. Der Kläger rügt eine Verletzung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter
gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Berufungsgericht habe dem Europäi-
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schen Gerichtshof nicht Art. 234 Abs. 3 EG die Frage zur Vorabentscheidung
vorgelegt, ob Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG auf türkische Staatsangehö-
rige anzuwenden sei, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 genießen.
Diese Verfahrensrüge greift nicht durch. Das Berufungsgericht war nicht zur
Vorlage gem. Art. 234 Abs. 3 EG verpflichtet, weil es nicht letztinstanzlich tätig
geworden ist. Im Übrigen ist die Unionsbürgerrichtlinie bereits aus intertempora-
len Gründen auf die streitgegenständliche Ausweisung nicht anzuwenden
(s.o.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Eckertz-Höfer Prof. Dr. Dörig Beck
Prof. Dr. Kraft Fricke
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Eckertz-Höfer Prof. Dr. Kraft Fricke
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