Urteil des BVerwG vom 17.12.2012

BVerwG: rechtsverletzung, fristablauf, befund, luft, abrede, kontrolle, kunst, gebärdensprache, kamin, bebauungsplan

BVerwG 4 BN 19.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 19.12
Niedersächsisches OVG - 17.11.2011 - AZ: OVG 1 KN 71/08
In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Dezember 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
beschlossen:
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. November 2011
wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das
Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 60 000 €
festgesetzt, wobei auf jeden Antragsteller die Hälfte des Betrages entfällt.
Gründe
1 Die Beschwerde ist mit dem Ergebnis der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz
begründet (§ 133 Abs. 6 VwGO).
2 1. Die Beschwerde macht zu Recht einen Verfahrensfehler im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO geltend. Das Oberverwaltungsgericht hat, indem es den Normenkontrollantrag der
Antragsteller mangels Antragsbefugnis als unzulässig angesehen hat, die Anforderungen an die
Geltendmachung einer Rechtsverletzung im Sinne von § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO überspannt
und damit die prozessuale Bedeutung dieser Vorschrift verkannt.
3 Erforderlich, aber auch ausreichend für die Antragsbefugnis ist, dass der Antragsteller
hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen,
dass er durch die Festsetzungen des Bebauungsplans in einem subjektiven Recht verletzt wird
(Urteil vom 30. April 2004 - BVerwG 4 CN 1.03 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 165; stRspr). An
die Geltendmachung einer Rechtsverletzung sind grundsätzlich auch dann keine höheren
Anforderungen zu stellen, wenn es - wie hier - um das Recht auf gerechte Abwägung geht. Auch
insoweit reicht es aus, dass der Antragsteller Tatsachen vorträgt, die eine fehlerhafte
Behandlung seiner Belange in der Abwägung als möglich erscheinen lassen (Urteil vom 24.
September 1998 - BVerwG 4 CN 2.98 - BVerwGE 107, 215 <218f.>). Antragsbefugt ist hiernach,
wer sich auf einen abwägungserheblichen privaten Belang, d.h. ein mehr als nur geringfügig
schutzwürdiges Interesse des Betroffenen (Beschluss vom 28. Juni 2007 - BVerwG 7 B 4.07 -
juris Rn. 10 m.w.N.), berufen kann; denn wenn es einen solchen Belang gibt, besteht
grundsätzlich auch die Möglichkeit, dass die Gemeinde ihn bei ihrer Abwägung nicht korrekt
berücksichtigt hat (Urteil vom 30. April 2004 a.a.O.). Die bloße verbale Behauptung einer
theoretischen Rechtsverletzung mag allerdings im Einzelfall dann nicht zur Geltendmachung
einer Rechtsverletzung im Sinne von § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO genügen, wenn diese
Behauptung nur vorgeschoben erscheint, das tatsächliche Vorliegen einer Rechtsverletzung
aber offensichtlich ausscheidet. Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben.
4 Das Oberverwaltungsgericht hält es für möglich, dass die Wohngrundstücke der Antragsteller,
die im Falle der Antragstellerin zu 1 1,1 km, im Falle des Antragstellers zu 2 2,1 km vom
Plangebiet entfernt liegen, von planbedingt ermöglichten Immissionen in Form von
Luftschadstoffen betroffen sein können (UA S. 11 Mitte). Es prognostiziert nicht, dass die
Immissionsbelastung nur geringfügig ist, sondern nimmt an, dass die Abluftfahne so
„wesentlichen“ Umfangs auch/schon bei den Wohngebieten auftrifft, die näher am Plangebiet
liegen als die Wohngrundstücke der Antragsteller (UA S. 11 unten). Nach seiner Auffassung
waren diese Grundstücke bei der Abwägungsentscheidung deshalb nicht in den Blick zu
nehmen, weil derjenige, der die Planänderung vollständig/maximal ausnutzen wolle, auf die
Wohngebiete Rücksicht nehmen müsse und dies gar nicht anders tun könne als in einer Weise,
welche - und sei es als Reflex - zum Vorteil der Antragsteller schädliche Umwelteinwirkungen
ausschließe (UA S. 11 unten/12 oben). Diese Begründung überzeugt den Senat nicht. Das
Oberverwaltungsgericht geht selbst davon aus, dass mit zunehmender Schornsteinhöhe die
Entfernung wächst, in der die Abluftfahne wieder zur Erde zurückkehrt (UA S. 11 unten). Dann
aber ist es möglich, dass bei einer entsprechenden Bebauung des Plangebiets die weiter
entfernt liegenden Wohngrundstücke stärker mit Luftschadstoffen beaufschlagt werden können
als die näher gelegenen Wohngebiete, und trifft es nicht zu, dass die Grundstücke der
Antragsteller gleichsam automatisch an dem Schutz der Wohngebiete teilnehmen.
5 Dass der Abstand zwischen dem Plangebiet und den Wohngrundstücken der Antragsteller
nicht nur unter dem Aspekt der Vermeidung schädlicher Luftverunreinigungen, sondern sogar
unter Vorsorgesichtspunkten nach den Erfahrungswerten unbedenklich sein soll, die sich aus
dem nordrhein-westfälischen Abstandserlass ergeben, hat das Oberverwaltungsgericht nur für
den Fall entschieden, dass nach der Planänderung im Plangebiet eine
Abfallverbrennungsanlage mit einer Feuerungswärmeleistung von 120 MW errichtet wird (UA S.
12 Mitte). Auf eine solche Anlage ist die Betrachtung aber nicht zu beschränken, weil die
Antragsgegnerin mit dem geänderten Bebauungsplan kein Sondergebiet für ein
Ersatzbrennstoffkraftwerk (EBS-Kraftwerk) festgesetzt hat, sondern ein Industriegebiet, in dem
nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO Gewerbebetriebe aller Art und damit auch Anlagen zulässig sind,
die nicht in die Abstandsliste aufgenommen worden sind (2.2 Anhang 2 Abstandserlass). Der
vorinstanzlichen Auffassung wäre aber auch dann nicht zu folgen, wenn allein darauf
abzustellen wäre, dass die Planänderung die Zulassung eines EBS-Kraftwerks mit einer
Leistung von 120 MW bezweckt. Zwar hat sich der Abstandserlass ausweislich seiner
Begründung dem vorbeugenden Immissionsschutz verpflichtet und es wird dem
Vorsorgegesichtspunkt Rechnung getragen, wenn bei Anlagen der Abstandsklasse IV, zu denen
nach Anhang 1 lfd. Nr. 37 Anlagen mit einer Feuerungswärmeleistung zwischen 50 MW und 150
MW gehören, zu Wohngebieten ein Abstand von 500 m eingehalten wird. Die Antragsteller
machen aber zu Recht darauf aufmerksam, dass die Abstandsliste nach Nr. 2.2.2.9 des
Abstandserlasses nur für die Planung im ebenen Gelände gilt und bei Tallagen
Einzeluntersuchungen angestellt werden sollten. Sie haben im vorinstanzlichen Verfahren
geltend gemacht, dass ihre Wohngrundstücke in einer lang gestreckten Tallage in West-Ost-
Richtung liegen und wegen der Hauptwindrichtungsverteilung sowie den Entfernungen zum
Plangebiet von dem Emissionen des Plangebiets betroffen werden (Schriftsatz vom 30. Oktober
2008 S. 4, 7). Zur Betroffenheit wegen der Entfernungen zum Plangebiet haben sie im Schriftsatz
vom 22. Oktober 2009 (S. 8) ergänzend vorgetragen: Die Antragsgegnerin habe durch die
Planänderung die Voraussetzung für die Ansiedlung einer industriellen Großanlage geschaffen.
Bei dieser sei eine Emissionsableitung über einen Kamin sehr wahrscheinlich. Wegen der
Tallage sowie bestehender Inversionswetterlagen und Kaltluftströmungen/-becken seien Kamine
mit weniger als 60 m Höhe unwahrscheinlich, weil ansonsten die zwingend erforderliche freie
Abluftströmung nicht gewährleistet werden könne. Wegen der zu erwartenden Schornsteinhöhen
lägen die Hauptaufpunkte der Schadstoffbelastungen deutlich weiter entfernt als rund 350 m, wie
die Antragsgegnerin offenbar annehme (Schriftsatz vom 22. Oktober 2009 S. 7). Damit haben die
Antragsteller ausreichend substantiiert Tatsachen vorgetragen, die es zumindest als möglich
erscheinen lassen, dass sie durch die Festsetzungen des Bebauungsplans in einem subjektiven
Recht verletzt werden. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass das Vorbringen offensichtlich aus
der Luft gegriffen und der Abstand zwischen dem Plangebiet und den Wohngrundstücken der
Antragsteller so groß ist, dass trotz des „immissionsmäßig schwierigen Geländes“ (Schriftsatz
vom 22. Oktober 2009 S. 7) eine mehr als nur geringfügige Beeinträchtigung der Grundstücke
durch Luftschadstoffe ausgeschlossen erscheint.
6 2. Der somit vorliegende Verfahrensfehler kann sich auf die Entscheidung der Vorinstanz
ausgewirkt haben. Ob sich das angefochtene Urteil aus anderen Gründen als richtig erweist (§
144 Abs. 4 VwGO; vgl. zur Anwendbarkeit dieser Norm im Verfahren über die Zulassung der
Revision Beschluss vom 14. Februar 2002 - BVerwG 4 BN 5.02 - BRS 65 Nr. 53 m.w.N.), lässt
sich auf der Grundlage des vom Oberverwaltungsgericht ermittelten Sachverhalts nicht
feststellen.
7 Die im Urteil mitgeteilten Tatsachen reichen zunächst nicht aus, um den Befund zu liefern,
dass die Voraussetzungen des § 47 Abs. 2a VwGO für die Unzulässigkeit des
Normenkontrollantrags erfüllt sind. Sie genügen aber auch nicht, um dem Senat die
abschließende Wertung zu ermöglichen, dass der Normenkontrollantrag jedenfalls unbegründet
ist. Zwar ist davon auszugehen, dass etwaige Mängel im Abwägungsvorgang nach § 215 Abs. 1
BauGB durch rügelosen Fristablauf unbeachtlich geworden sind. Die angegriffene
Planänderung wurde nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts am 29. März 2007
bekannt gemacht. Die Antragsschrift vom 28. März 2008, mit der die Antragsteller erstmals den
Abwägungsvorgang als fehlerhaft beanstandet haben, wurde der Antragsgegnerin am 4. April
2008 zugestellt, und zu diesem Zeitpunkt, auf den es ankommt (Stock, in:
Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Juni 2012, § 215 Rn. 30), war die
Jahresfrist verstrichen. Es ist auch nicht vorgetragen, dass ein anderer Betroffener mit einem
gleich gerichteten Abwägungsinteresse wie die Antragsteller eine fristgerechte Fehlerrüge mit
der Folge erhoben hat, dass diese allgemein und absolut für jedermann („inter omnes“) wirkt (vgl.
dazu Beschluss vom 2. Januar 2001 - BVerwG 4 BN 13.00 - BRS 64 Nr. 57 S. 278). Nicht
möglich sind dem Senat aber die Prüfung der von den Antragstellern in Abrede gestellten
Vereinbarkeit des geänderten Plans mit § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB, die Kontrolle des
Abwägungsergebnisses und die Prüfung der Voraussetzungen des § 4a Abs. 6 BauGB für den
Eintritt der materiellen Präklusion.
8 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 und 7, § 39 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Dr. Bumke