Urteil des BVerwG vom 14.03.2017

BVerwG: aufenthaltserlaubnis, schutz der familie, eltern, abschiebung, lebensgemeinschaft, straftat, öffentliche sicherheit, europäische konvention, geburt, minderjähriger

Rechtsquellen:
GG Art. 6
EMRK Art. 8
AuslG § 8 Abs. 2 Satz 2; § 17 Abs. 1 und 5; § 21 Abs. 1;
§ 48 Abs. 2 Satz 1
Stichworte:
Aufenthaltserlaubnis; Versagung der Aufenthaltserlaubnis;
Aufenthaltsbeendigung; Ausweisungsgrund; Abschiebungsan-
drohung; Abschiebung; Sperrwirkung der Abschiebung; maß-
geblicher Zeitpunkt; besonders schwere Straftat; Minder-
jähriger; Minderjährigenschutz; besonderer Ausweisungs-
schutz; Familienschutz; familiäre Lebensgemeinschaft; Er-
messensreduzierung auf Null.
Leitsätze:
1. Eine Abschiebung, mit der die durch die Versagung der
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entstandene Ausrei-
sepflicht während des noch laufenden Rechtsmittelverfah-
rens vollzogen worden ist, kann eine Sperrwirkung nach § 8
Abs. 2 Satz 2 AuslG allenfalls dann entfalten, wenn die
Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtmäßig gewesen ist.
2. Die Entscheidung des Gesetzgebers für einen besonderen
Ausweisungsschutz für Minderjährige nach § 48 Abs. 2
Satz 1 AuslG, mit dem der Auftrag zum Schutz der Familie
nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK konkretisiert wird, ist auch
im Rahmen der nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5
AuslG zu treffenden Ermessensentscheidung über die Versa-
gung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu beach-
ten. Einem im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen
minderjährigen Ausländer, dessen Eltern sich hier erlaubt
aufhalten, kann deshalb die Verlängerung der Aufenthalts-
erlaubnis nur unter ähnlich strengen Voraussetzungen ver-
sagt werden, wie sie für die Ausweisung Minderjähriger
gelten.
Urteil des 1. Senats vom 16. Juli 2002 - BVerwG 1 C 8.02 -
I. VG München vom 02.03.2000 – Az.: VG M 17 K 98.3623
und Az.: VG M 17 K 99.2317 -
II. VGH München vom 15.11.2001 – Az.: 10 B 00.1873 -
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IM NAMEN DES VOLKES
- 2 -
URTEIL
BVerwG 1 C 8.02
Verkündet
VGH 10 B 00.1873
am 16. Juli 2002
Stoffenberger
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juli 2002
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht
E c k e r t z – H ö f e r , die Richter am Bundes-
- 3 -
verwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und H u n d ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. E i c h b e r g e r
für Recht erkannt:
Die Revisionen werden zurückgewiesen.
Die Beklagte und die Beteiligte tragen die Kos-
ten des Revisionsverfahrens je zur Hälfte.
G r ü n d e :
I.
Der im Juni 1984 in München geborene und aufgewachsene Kläger
ist ebenso wie seine Eltern und seine beiden Brüder türkischer
Staatsangehöriger. Sein Vater kam 1968 im Alter von 30 Jahren
aus der Türkei nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Zwei
Jahre später holte er seine Ehefrau im Wege des Familiennach-
zuges nach. Beide Eltern leben seitdem in München und sind er-
werbstätig. Seit mehr als zehn Jahren sind sie im Besitz einer
Aufenthaltsberechtigung. Die beiden 1976 und 1979 in Deutsch-
land geborenen Brüder des Klägers sind inzwischen volljährig
und besitzen jeweils eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Der Kläger selbst hielt sich als türkischer Staatsangehöriger
unter 16 Jahren zunächst aufenthaltsgenehmigungsfrei in
Deutschland auf.
Ab 1995 fiel der damals elfjährige Kläger durch zahlreiche
Verstöße gegen Strafvorschriften auf. Neben mehreren Diebstäh-
len beging er immer wieder - oft gemeinsam mit anderen Jugend-
lichen - Gewalttaten wie räuberischen Diebstahl, Raub und Kör-
perverletzung, wobei er gegen die zumeist jugendlichen Opfer
besonders aggressiv vorging. Seine häufigen Fehlzeiten in der
- 4 -
Schule und sein aggressives Verhalten führten zu verschiedenen
schulischen Ordnungsmaßnahmen und zu mehrfachem Schulwechsel.
Seit April 1995 bestand für ihn eine Erziehungsbeistandschaft
des Stadtjugendamtes München. Nachdem der Kläger infolge der
Änderung ausländerrechtlicher Vorschriften im Jahr 1997 auf-
enthaltsgenehmigungspflichtig geworden war, lud die Ausländer-
behörde der Beklagten ihn und seine Eltern wegen der zahlrei-
chen Delikte zur Anhörung vor. Sie erteilte dem Kläger im Juli
1997 auf seinen Antrag hin eine auf ein Jahr befristete Auf-
enthaltserlaubnis und wies zugleich darauf hin, dass weitere
Straftaten aufenthaltsbeendende Maßnahmen zur Folge hätten.
Auch in der Folgezeit besuchte der Kläger die Schule nur unre-
gelmäßig und wurde nach erneutem Schulwechsel wegen Gewalttä-
tigkeiten gegenüber Mitschülern schließlich mit einem Schul-
ausschluss belegt. Im Februar 1998 beging er kurz hintereinan-
der drei weitere Gewalttaten, bei denen er andere Jugendliche
massiv angriff und zusammenschlug. Die Ermittlungsverfahren
wurden auch hier - wie bereits bei den vorangegangenen Taten -
wegen der Strafunmündigkeit des Klägers eingestellt. Ab März
1998 wurde der Kläger vom Diakonischen Werk mit 30 Wochen-
stunden betreut und in diesem Rahmen einzeln beschult.
Aufgrund der erneuten Verfehlungen wies die Beklagte im April
1998 zunächst die Eltern des Klägers aus, weil sie ihre Erzie-
hungspflicht verletzt hätten. Anschließend verfügte sie mit
Bescheid vom 22. Mai 1998 unter Anordnung der sofortigen Voll-
ziehung auch die Ausweisung des Klägers und drohte ihm für den
Fall, dass er das Bundesgebiet nicht bis zum 21. Juli 1998
verlassen sollte, die Abschiebung in die Türkei an. Die Aus-
weisung wurde im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Kläger
durch die Häufigkeit und die Gewichtigkeit seines rechtswidri-
gen Verhaltens eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche
Sicherheit und Ordnung darstelle, die von Mal zu Mal bedrohli-
cher werde. Auf den besonderen Ausweisungsschutz für Minder-
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jährige, deren Eltern sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhiel-
ten, könne sich der Kläger nicht berufen, weil seine Eltern
sich aufgrund der gegen sie gerichteten Ausweisungsverfügungen
nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten. Die gegen
den Kläger und seine Eltern verfügten Ausweisungen wurden spä-
ter - nach erfolgter Abschiebung des Klägers - im Wider-
spruchsverfahren aufgehoben.
Nachdem der Kläger im Juni 1998 14 Jahre alt und damit straf-
mündig geworden war, beging er am 3. Juli 1998 eine weitere
schwere Straftat. Zusammen mit drei anderen Jugendlichen warf
er einen 19-jährigen Schüler zu Boden und trat mit den Füßen
auf ihn ein, nachdem das Opfer sich geweigert hatte, Geld und
Zigaretten herauszugeben. Außerdem schlug er diesem mit einer
Zaunlatte über den Kopf, so dass das Opfer bewusstlos wurde
und eine Gehirnerschütterung, Prellungen sowie Abschürfungen
am ganzen Körper davontrug. Dem Bewusstlosen nahm er eine
Geldbörse mit 80 DM sowie einen Walkman weg. Aufgrund des
Haftbefehls vom 4. Juli 1998 wurde der Kläger am Tag darauf in
Untersuchungshaft genommen.
Die Beklagte ergänzte daraufhin mit Bescheid vom 8. Juli 1998
ihre im Ausweisungsbescheid gegen den Kläger enthaltene Ab-
schiebungsandrohung dahingehend, dass seine Abschiebung aus
der Haft angeordnet wurde. Nur insoweit, nämlich hinsichtlich
der Abschiebungsandrohung und –anordnung, wurde der Bescheid
in dem Widerspruchsbescheid vom 13. April 1999 noch aufrecht-
erhalten.
Die im Juli 1998 vom Kläger beantragte Verlängerung seiner
Aufenthaltserlaubnis lehnte die Beklagte - ohne erneute Anord-
nung der Abschiebung - mit Bescheid vom 24. Juli 1998 ab.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Re-
gierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom 7. August
- 6 -
1998 zurück. In der Begründung hieß es, die Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis sei auch unabhängig von den verfügten
Ausweisungen abzulehnen. Gemäß § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17
Abs. 5 AuslG könne die Aufenthaltserlaubnis versagt werden,
wenn ein Ausweisungsgrund vorliege. Einen solchen Ausweisungs-
grund habe der Kläger mit seinen Straftaten verwirklicht. Da-
bei genüge es, allein auf die nach Erteilung der vorangegange-
nen Aufenthaltserlaubnis, also nach dem 22. Juli 1997 begange-
nen Taten abzustellen. Bei der erforderlichen Ermessensabwä-
gung überwiege das öffentliche Interesse an der Beendigung des
Aufenthalts das private Interesse des Klägers und seiner Fami-
lie am Verbleib in der Bundesrepublik. Dies gelte trotz seines
langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts und der Tatsache, dass
er erst 14 Jahre alt sei und seine Familie ihren Lebensmittel-
punkt in München habe. Angesichts des vom Kläger ausgehenden
Gefährdungspotentials sei es den Eltern auch unter Berücksich-
tigung des Schutzgebots des Art. 6 GG zuzumuten, dem Kläger in
die Türkei zu folgen oder ggf. eine Trennung in Kauf zu neh-
men.
Am 9. Oktober 1998 verurteilte das Amtsgericht München den
Kläger aufgrund des Vorfalls vom 3. Juli 1998 wegen schweren
Raubes, rechtlich zusammentreffend mit gemeinschaftlicher ge-
fährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Diebstahl, zu
einer Jugendstrafe von einem Jahr, wobei die erlittene Unter-
suchungshaft nicht angerechnet wurde. Das Urteil ist wegen der
von beiden Seiten eingelegten Berufung nicht rechtskräftig ge-
worden. Nachdem verschiedene Eilrechtsschutzanträge des Klä-
gers gegen die drohende Aufenthaltsbeendigung erfolglos
geblieben waren, wurde er am 14. November 1998 aus der Haft in
die Türkei abgeschoben. Das Strafverfahren wurde nach der Ab-
- 7 -
schiebung gemäß § 154 b Abs. 3 und 4 StPO vorläufig einge-
stellt.
Die vom Kläger gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis
und gegen die Androhung und Anordnung der Abschiebung erhobe-
nen Klagen hat das Verwaltungsgericht München abgewiesen. In
der Urteilsbegründung heißt es im Wesentlichen: Der Kläger ha-
be allein schon mit der schwerwiegenden Straftat vom 3. Juli
1998 einen Ausweisungsgrund nach § 46 Nr. 2 AuslG geschaffen.
Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei daher nach § 21
Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG ermessensfehlerfrei ab-
gelehnt worden. Die Widerspruchsbehörde habe alle ihr zum
Zeitpunkt ihrer Entscheidung bekannten Umstände in ihr Ermes-
sen eingestellt. Sie habe nicht nur das vom Kläger ausgehende
Gefährdungspotential berücksichtigt, das sich in der Vergan-
genheit durch zahlreiche rechtswidrige Taten offenbart habe.
Sie habe vielmehr auch in ihre Erwägungen eingestellt, dass
der Kläger aufgrund seines jugendlichen Alters und seiner Ge-
wöhnung an hiesige Lebensverhältnisse erhebliche Schwierigkei-
ten bei der Bewältigung des Alltags in der Türkei haben dürf-
te; gleichwohl sei die Erwartung, dass einer der beiden El-
ternteile den Kläger in die Türkei begleiten oder dort zumin-
dest zeitweise betreuen werde oder doch wenigstens die nahen
Verwandten vor Ort ihn aufnehmen würden, berechtigt gewesen.
Dass diese Erwartung sich bislang nicht erfüllt habe, lasse
die Entscheidung der Beklagten nicht rückwirkend ermessensfeh-
lerhaft werden. Die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis ver-
stoße auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Der besondere Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 2 AuslG für Min-
derjährige gelte im Rahmen der Erteilung und Versagung einer
Aufenthaltserlaubnis nicht. Ebenso wenig verletze die ange-
fochtene Entscheidung Art. 6 GG und Art. 8 der Europäischen
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
- EMRK -. Art. 6 GG vermittle ausländischen Familien grund-
sätzlich keinen Rechtsanspruch darauf, die Familieneinheit
- 8 -
ausschließlich im Bundesgebiet verwirklichen zu können. Ange-
sichts der ursprünglich aktenkundigen Absicht der Eltern, in
einigen Jahren ohnehin in die Türkei überzusiedeln, sei es
nicht unzumutbar, dass ein Elternteil mit dem Kläger bereits
vorzeitig dorthin ziehe. Auch im Lichte der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - zu
Art. 8 EMRK habe die Beendigung des Aufenthalts des Klägers im
Bundesgebiet Bestand und sei nicht unverhältnismäßig. Schließ-
lich habe sich der Kläger in seinem Elternhaus seit seiner Ge-
burt auf türkisch verständigt und sich zu Urlaubszwecken be-
reits in der Türkei aufgehalten.
Auf die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof
mit Urteil vom 15. November 2001 das erstinstanzliche Urteil
aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung der entgegenste-
henden Bescheide verpflichtet, die Aufenthaltserlaubnis des
Klägers antragsgemäß zu verlängern. Zur Begründung hat er im
Wesentlichen ausgeführt: Es könne dahinstehen, ob dem Kläger
nach nationalem Recht die Aufenthaltserlaubnis zu Recht ver-
sagt worden sei, denn er habe einen Rechtsanspruch auf Verlän-
gerung seiner Aufenthaltserlaubnis jedenfalls nach Art. 7
Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-
Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 -. Die-
se Vorschrift verleihe den Familienangehörigen türkischer Ar-
beitnehmer nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Euro-
päischen Gemeinschaften - EuGH - bei Vorliegen der Vorausset-
zungen einen unmittelbaren Anspruch auf Bewerbung und Zugang
zu einer Beschäftigung und damit zwangsläufig auch ein Aufent-
haltsrecht in dem Mitgliedstaat. Der Kläger erfülle nach der
Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung
diese Voraussetzungen. Der Anspruch aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80
sei auch nicht durch die Abschiebung des Klägers in die Türkei
im November 1998 und seinen dortigen Aufenthalt seit der Ab-
schiebung entfallen. Das assoziationsrechtliche Aufenthalts-
recht könne nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Be-
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rufungsentscheidung ferner nicht aus Gründen der öffentlichen
Ordnung, Sicherheit und Gesundheit nach Art. 14 Abs. 1 ARB
1/80 beschränkt werden. Denn es müsse derzeit nicht damit ge-
rechnet werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr ins Bundes-
gebiet sein damaliges Verhalten fortsetze und weitere erhebli-
che Straftaten begehe. Dies ergebe sich sowohl aus dem im Be-
rufungsverfahren eingeholten psychiatrischen Sachverständigen-
gutachten als auch aus dem persönlichen Eindruck, den der
seither nicht mehr straffällig gewordene Kläger in der mündli-
chen Verhandlung hinterlassen habe. Auch wenn er noch weiterer
therapeutischer Hilfe und pädagogischer Betreuung bedürfe, be-
stehe derzeit bei ihm keine den Anforderungen des Art. 14
Abs. 1 ARB 1/80 genügende konkrete Wiederholungsgefahr.
Hiergegen richten sich die Revisionen der Beklagten und der
beteiligten Landesanwaltschaft, die geltend machen, das Beru-
fungsgericht habe Art. 7 Satz 1 und Art. 14 ARB 1/80 fehler-
haft ausgelegt und angewandt. Es habe deshalb zu Unrecht das
Vorliegen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts des
Klägers bejaht. Insbesondere hätte es die nur eingeschränkt
günstige Sozialprognose des Sachverständigengutachtens, die
sich lediglich auf einen kurzen Zeitraum bezogen und außerdem
eine kostenintensive pädagogische Betreuung aus öffentlichen
Mitteln nach der Rückkehr des Klägers unterstellt habe, nicht
ausreichen lassen dürfen, um eine Beschränkung des Aufent-
haltsrechts aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ord-
nung nach Art. 14 ARB 1/80 zu verneinen.
II.
Die zulässigen Revisionen sind nicht begründet. Die Verpflich-
tung der Beklagten, die Aufenthaltserlaubnis des Klägers an-
tragsgemäß zu verlängern, und die Aufhebung der entgegenste-
henden Bescheide erweisen sich jedenfalls im Ergebnis als
richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Der Kläger hat nach § 21 Abs. 1
- 10 -
Satz 2 i.V.m. § 17 AuslG einen Anspruch auf Verlängerung sei-
ner Aufenthaltserlaubnis. Damit kann auch die Androhung und
Anordnung der Abschiebung keinen Bestand haben.
1. Ob dem Kläger, wie das Berufungsgericht meint, ein Aufent-
haltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 7
Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-
Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - zu-
steht, weil er Familienangehöriger eines dem regulären Ar-
beitsmarkt in Deutschland angehörenden türkischen Arbeitneh-
mers ist, braucht nicht entschieden zu werden. Es kann daher
auch offen bleiben, ob der Fall des Klägers im Hinblick auf
Art. 7 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 noch nicht geklärte
gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfragen aufwirft, die gegebe-
nenfalls dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 234 Satz 3 EG
zur Vorabentscheidung hätten vorgelegt werden müssen. Darauf
kommt es nicht an, weil dem Kläger bereits nach nationalem
Recht ein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaub-
nis zusteht.
2. a) Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Verlän-
gerung der Aufenthaltserlaubnis ist § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG.
Bei Verpflichtungsklagen, die auf die Erteilung oder Verlänge-
rung einer Aufenthaltsgenehmigung gerichtet sind, ist grund-
sätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung der Tatsacheninstanz
maßgeblich, soweit es darum geht, ob die Aufenthaltsgenehmi-
gung schon aus Rechtsgründen erteilt werden muss oder nicht
erteilt werden darf (vgl. Urteil vom 22. Januar 2002 - BVerwG
1 C 6.01 - NVwZ 2002, 867 = InfAuslR 2002, 281, zur Veröffent-
lichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen, und Urteil
vom 15. Februar 2001 - BVerwG 1 C 23.00 - BVerwGE 114, 9, 12,
jeweils m.w.N.). Hierzu gehört auch der Fall, dass ein an sich
bestehendes Ermessen der Ausländerbehörde "auf Null" reduziert
ist, so dass nur entweder die Erteilung oder die Versagung der
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Aufenthaltserlaubnis rechtmäßig erscheint (vgl. Beschluss vom
20. Mai 1985 – BVerwG 1 B 46.85 – Buchholz 402.24 § 2 AuslG
Nr. 70).
b) Nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG ist die Aufenthaltserlaubnis
eines im Bundesgebiet geborenen Kindes nach Maßgabe des § 17
AuslG zu verlängern, solange die Mutter oder der allein perso-
nensorgeberechtigte Vater eine Aufenthaltserlaubnis oder Auf-
enthaltsberechtigung besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird in
diesen Fällen abweichend von § 17 Abs. 2 Nr. 2 und 3 AuslG er-
teilt, d.h. unabhängig davon, ob ausreichender Wohnraum zur
Verfügung steht und der Lebensunterhalt des Kindes aus eigener
Erwerbstätigkeit, eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen Mit-
teln der Eltern gesichert ist (§ 21 Abs. 1 Satz 3 AuslG). Die-
se erleichterten Voraussetzungen für die Verlängerung der Auf-
enthaltserlaubnis gelten nicht nur in den Fällen, in denen dem
im Bundesgebiet geborenen Kind nach der Geburt von Amts wegen
gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG eine Aufenthaltserlaubnis er-
teilt worden ist und darauf aufbauend eine (erste oder weite-
re) Verlängerung beantragt wird, sondern auch in Fällen wie
dem des Klägers, der bezogen auf den Zeitpunkt seiner Geburt
die Voraussetzungen des - später in Kraft getretenen - § 21
Abs. 1 Satz 1 AuslG erfüllt, aber wegen der Befreiung vom Er-
fordernis einer Aufenthaltsgenehmigung - nach altem Recht -
seinerzeit keine Aufenthaltserlaubnis benötigte. Denn die nach
der Geburt zunächst genehmigungsfrei im Bundesgebiet lebenden
Kinder können nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes hinsicht-
lich ihres weiteren Aufenthalts nicht schlechter gestellt wer-
den als die von ihrer Geburt an aufenthaltsgenehmigungspflich-
tigen Kinder (vgl. auch Nr. 21.1.7 AuslG-VwV vom 28. Juni
2000, GMBl S. 616 <668>; ebenso Igstadt in: Gemeinschaftskom-
mentar zum Ausländerrecht - GK AuslR - § 21 Rn. 39; Renner,
Ausländerrecht, 7. Aufl., § 21 AuslG Rn. 6).
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c) Zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung war die Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis für den Kläger nach § 21 Abs. 1
Satz 2 AuslG nicht bereits durch § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG aus-
geschlossen. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, der
ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, auch bei Vorliegen
der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz keine
Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Diese sog. Sperrwirkung einer
Ausweisung oder Abschiebung entfällt gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3
AuslG erst durch eine Befristung seitens der Ausländerbehörde.
Zwar ist der Kläger in Vollzug des Versagungsbescheides vom
24. Juli 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
7. August 1998 während des Klageverfahrens in die Türkei abge-
schoben worden. Diese Abschiebung hat aber nicht die Sperrwir-
kung nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG ausgelöst. Der Senat kann
dabei offen lassen, ob § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG überhaupt An-
wendung findet, wenn der Ausländer mit seinem Rechtsbehelf in
der Hauptsache die Erteilung derjenigen Aufenthaltsgenehmigung
begehrt, deren Versagung die vollziehbare Ausreisepflicht be-
gründet und zur Abschiebung geführt hat (vgl. Beschluss vom
4. Februar 1998 – BVerwG 1 B 9.98 – Buchholz 402.240 § 8 AuslG
1990 Nr. 15). Denn auch wenn § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG in derar-
tigen Fällen gelten würde, stünde dieser Versagungsgrund vor-
liegend der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nicht ent-
gegen.
aa) Wie der Senat bereits in dem vorgenannten Beschluss ausge-
führt hat, kann die bloße Tatsache der Abschiebung nicht dazu
führen, dass die gerichtliche Überprüfung der Gründe für die
Versagung der Aufenthaltsgenehmigung entfällt. Dies folgt aus
dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in Art. 19
Abs. 4 GG. Die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG greift
danach nur dann ein, wenn die in Streit stehende Versagung der
Aufenthaltsgenehmigung nach der im Zeitpunkt der letzten be-
hördlichen Entscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage
rechtmäßig war und der Kläger deshalb seinerzeit auch zu Recht
- 13 -
abgeschoben worden ist. Stand dem Kläger dagegen nach der da-
maligen Sach- und Rechtslage ein Anspruch auf Verlängerung
seiner Aufenthaltserlaubnis zu, so war auch die Abschiebung
mangels Ausreisepflicht des Klägers rechtswidrig und konnte
deshalb nicht die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG
auslösen. So liegt der Fall hier.
bb) Dem Kläger hätte zum Zeitpunkt der Widerspruchsentschei-
dung am 7. August 1998 die Verlängerung der Aufenthaltserlaub-
nis nicht versagt werden dürfen. Bei ihm lagen - wovon auch
die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden ausgegangen ist -
seinerzeit die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Auf-
enthaltserlaubnis nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG i.V.m. § 17
Abs. 1 AuslG vor. Als minderjähriges, in Deutschland geborenes
Kind (vgl. zum Erfordernis der Minderjährigkeit Urteil vom
22. Februar 1995 - BVerwG 1 C 11.94 - BVerwGE 98, 31, 47),
dessen Mutter seit der Geburt eine Aufenthaltserlaubnis und
seit 1990 eine Aufenthaltsberechtigung besaß, hatte er grund-
sätzlich einen Anspruch auf Verlängerung seines Aufenthalts-
rechts nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AuslG, sofern der
Aufenthalt der Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit
der Mutter (und dem Vater) im Sinne von § 17 Abs. 1 AuslG
diente. Dies war zum damaligen Zeitpunkt der Fall. Auch wenn
der Kläger sich zwischenzeitlich vorübergehend in Heimen auf-
gehalten hatte und sich seit dem 5. Juli 1998 in Untersu-
chungshaft befand, hatte er weiterhin seinen alleinigen Wohn-
sitz bei seinen Eltern, welche auch das Personensorgerecht für
den damals vierzehnjährigen Kläger ausübten. Die vorübergehen-
de, erzwungene Abwesenheit des Klägers war unter den gegebenen
Umständen nicht geeignet, das Fortbestehen einer familiären
Lebensgemeinschaft in Frage zu stellen.
cc) Dem daraus folgenden Anspruch des Klägers auf Verlängerung
seiner Aufenthaltserlaubnis stand entgegen der Ansicht der Be-
klagten auch nicht ein Versagungsgrund nach § 21 Abs. 1 Satz 2
- 14 -
AuslG i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG entgegen. Zwar lagen die tat-
bestandlichen Voraussetzungen für eine Versagung der Aufent-
haltserlaubnis nach dieser Vorschrift vor, weil der Kläger mit
seiner Straftat vom 3. Juli 1998 einen nicht nur geringfügigen
Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen (vgl. § 46 Nr. 2
AuslG) und damit einen Ausweisungsgrund im Sinne von § 17
Abs. 5 1. Alternative AuslG verwirklicht hat. Hierfür genügt
nach ständiger Rechtsprechung des Senats das Vorliegen eines
abstrakten Ausweisungstatbestandes im Sinne der §§ 45, 46
AuslG, ohne dass es darauf ankommt, ob der Ausländer im kon-
kreten Fall auch rechtsfehlerfrei ausgewiesen werden könnte.
In diesem Zusammenhang spielt der besondere Ausweisungsschutz
nach § 48 AuslG deshalb keine Rolle (vgl. etwa Beschluss vom
15. September 1995 - BVerwG 1 PKH 20.05 - Buchholz 402.240
§ 24 AuslG 1990 Nr. 2 m.w.N.; vgl. auch Fraenkel, Einführende
Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 125 ff.).
dd) Die Beklagte hat das ihr nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m.
§ 17 Abs. 5 AuslG eröffnete Ermessen zur Versagung der Aufent-
haltserlaubnis fehlerhaft ausgeübt, weil sie die in § 48
Abs. 2 Satz 1 AuslG getroffene gesetzgeberische Entscheidung
zugunsten eines besonderen Schutzes minderjähriger Ausländer
nicht beachtet hat. Nach dieser Vorschrift kann ein minderjäh-
riger Ausländer, dessen Eltern sich rechtmäßig im Bundesgebiet
aufhalten, nur unter engen Voraussetzungen ausgewiesen werden,
nämlich wenn er wegen serienmäßiger Begehung nicht unerhebli-
cher vorsätzlicher Straftaten, wegen schwerer Straftaten oder
einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt
worden ist.
Die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG für die Aufenthaltsbeendigung
durch Ausweisung getroffene Wertung zugunsten minderjähriger
Ausländer ist bei der im Rahmen der Ermessensentscheidung nach
§ 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG vorzunehmenden Ab-
wägung der gegen den weiteren Aufenthalt eines im Bundesgebiet
- 15 -
geborenen ausländischen Kindes sprechenden öffentlichen Inte-
ressen und der Interessen des Ausländers an der Aufrechterhal-
tung der familiären Lebensgemeinschaft als Leitlinie zu be-
rücksichtigen. Denn mit dem Ausweisungsschutz für Minderjähri-
ge in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG hat der Bundesgesetzgeber den
verfassungsrechtlichen Auftrag zum Schutz der Familie, insbe-
sondere der Beziehung zwischen Eltern und ihren minderjährigen
Kindern (Art. 6 GG, vgl. auch Art. 8 Europäische Konvention
zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK -)
konkretisiert (vgl. Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C
17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 und Urteil vom
19. November 1996 - BVerwG 1 C 25.94 - Buchholz 402.240 § 47
AuslG 1990 Nr. 11 unter Hinweis auf BTDrucks 11/6321 S. 74).
Dabei trägt § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG auch dem Gesichtspunkt
Rechnung, dass jugendliche Straftäter in der Regel im besonde-
ren Maße auf den Familienschutz angewiesen sind, um in ein Le-
ben ohne Straftaten zurückzufinden (vgl. Urteil vom 28. Januar
1997, a.a.O. S. 45 f.). In eine mit der Ausweisung vergleich-
bare Situation gelangt ein im Bundesgebiet geborenes minder-
jähriges Kind sich hier erlaubt aufhaltender Ausländer, wenn
ihm das nach Maßgabe des § 21 Abs. 1 AuslG von Geburt an ein-
geräumte und grundsätzlich auf Dauer angelegte Aufenthalts-
recht versagt wird. Die Trennung eines solchen Minderjährigen
von den Eltern im Falle einer Beendigung des Aufenthalts auf-
grund einer Versagung der Aufenthaltserlaubnis würde sich
praktisch in nahezu gleicher Weise auswirken. Auch unter Be-
rücksichtigung des ebenfalls an Art. 6 GG orientierten Norm-
zwecks des § 21 Abs. 1 AuslG, der der besonderen Schutzbedürf-
tigkeit im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer
Rechnung tragen soll (vgl. auch Igstadt in: GK-AuslR § 21
AuslG Rn. 6; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 21 Rn. 2),
ist die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG getroffene Wertung bei der
in Rede stehenden Ermessensentscheiung heranzuziehen. Schließ-
lich kann nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber min-
derjährigen Ausländern bei Begehung von Straftaten allgemein
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(unabhängig von der Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts und dem
Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft) einen derart
qualifizierten Schutz vor Ausweisung gewähren, zugleich aber
bei besonders schutzwürdigen Minderjährigen im Sinne des § 21
Abs. 1 AuslG - in Kenntnis der Tatsache, dass sie bis zur
Vollendung des 16. Lebensjahres regelmäßig nur eine befristete
Aufenthaltserlaubnis besitzen - die Aufenthaltsbeendigung
durch Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auch
bei Straftaten unterhalb dieser Schwelle zulassen wollte. Da-
bei kann im vorliegenden Verfahren dahingestellt bleiben, ob
und inwieweit die einfachgesetzliche Regelung des § 48 Abs. 2
Satz 1 AuslG das nach Verfassungs- und Völkervertragsrecht un-
abdingbare Schutzniveau überschreitet oder für jede denkbare
Fallgestaltung ausreichend sicherstellt.
Entgegen den Erwägungen des Bayerischen Verwaltungsgerichts-
hofs in seiner den Kläger betreffenden Eilentscheidung vom
19. Oktober 1998 - 10 ZS 98.2537 - (NVwZ 1998, Beilage Nr. 11,
121) ist es nicht systemwidrig, sondern vielmehr aus den dar-
gelegten Gründen geboten, die vom Gesetzgeber für die Aufent-
haltsbeendigung Minderjähriger durch Ausweisung getroffene
Wertung auch in den Fällen zu beachten, in denen im Rahmen ei-
ner Ermessensentscheidung nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17
Abs. 5 AuslG über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
von im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Kindern, de-
ren Eltern sich hier erlaubt aufhalten, (sog. faktische Inlän-
der) zu befinden ist. Zwar hat der Senat wiederholt ausge-
führt, dass die für eine bestimmte Problemlage in einem Ab-
schnitt des Ausländergesetzes getroffenen Regelungen grund-
sätzlich nicht auf die Regelungen eines anderen Abschnitts
übertragen werden können (so für die Heranziehung von Vor-
schriften über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im
Rahmen der Ausweisungsbestimmungen: Urteil vom 28. Januar
1997, a.a.O.). Dieser Grundsatz gilt aber nicht ausnahmslos;
er schließt es nicht aus, die vom Gesetzgeber zur Ausfüllung
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des verfassungsrechtlichen Schutzauftrages des Art. 6 GG für
die Ausweisung getroffene Regelung in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG
wegen der vergleichbaren Interessen- und Abwägungslage als
Leitlinie für die Ermessenausübung nach § 21 Abs. 2 Satz 1
i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG heranzuziehen.
ee) Demnach durfte dem Kläger der Aufenthalt ermessensfehler-
frei nur unter ähnlich strengen Voraussetzungen versagt wer-
den, wie sie für die Ausweisung von Minderjährigen aus dem
Bundesgebiet vorgesehen sind. Im Falle des Klägers lagen die
besonderen Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG weder
zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung über die
Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im August
1998 noch zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung vor. Die vom
Kläger bis zur Vollendung seines 14. Lebensjahres begangenen
Delikte können danach nicht als Grund für eine Aufenthaltsbe-
endigung herangezogen werden, da sie von vornherein nicht zu
einer Verurteilung, wie sie diese Vorschrift verlangt, führen
können (vgl. § 19 StGB). Nach Eintritt der Strafmündigkeit hat
der Kläger nur noch eine festgestellte Straftat, nämlich die
vom 3. Juli 1998, begangen. Nach dem vom Berufungsgericht in
Bezug genommenen - noch nicht rechtskräftigen - Strafurteil
des Amtsgerichts München vom 9. Oktober 1998 stellt sie aber
keine besonders schwere Straftat im Sinne der hier allein in
Betracht kommenden dritten Alternative des § 48 Abs. 2 Satz 1
AuslG dar. Auch wenn diese Tat vom Amtsgericht als schwerer
Raub nach § 250 Abs. 2 Nr. 3 a StGB eingestuft wurde, der abs-
trakt mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren be-
droht ist, handelt es sich nicht allein schon deshalb um eine
besonders schwere Straftat im Sinne dieser Vorschrift (vgl.
auch Nr. 48.2.1.6 AuslG-VwV). Denn das Gewicht der Straftat
ist nicht nach dem für jugendliche Straftäter ohnehin nicht
maßgeblichen Strafrahmen (§ 18 Abs. 1 Satz 3 JGG), sondern
nach den konkreten Umständen der Tatbegehung zu bestimmen
(vgl. auch Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 -
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Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 S. 43). Die vom Amts-
gericht verhängte Jugendstrafe von einem Jahr ohne Bewährung
und die angeführten Gründe belegen zwar einen schweren, aber
noch keinen besonders schweren Unrechtsgehalt der Tat. Berück-
sichtigt man, dass § 47 Abs. 1 i.V.m. § 48 Abs. 1 AuslG als
Voraussetzung für eine Aufenthaltsbeendigung privilegierter
Ausländer aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicher-
heit und Ordnung - abgesehen von den Sonderfällen des § 47
Abs. 1 Nr. 2 AuslG - grundsätzlich eine Freiheits- oder Ju-
gendstrafe von mindestens drei Jahren voraussetzt (vgl. auch
§ 51 Abs. 3 AuslG), so wird deutlich, dass die Tat des Klägers
im Hinblick auf die Höhe der hier verhängten Strafe nicht dem
Bereich der besonders schweren Straftaten im Sinne von § 48
Abs. 2 AuslG zuzurechnen ist. Im Übrigen ist das Strafurteil
auch noch nicht rechtskräftig geworden. Die Beklagte hätte
deshalb nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Wider-
spruchsentscheidung den Aufenthalt des Klägers nicht durch
Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beenden
dürfen. Das ihr nach § 17 Abs. 5 AuslG eingeräumte Ermessen
war insoweit "auf Null" reduziert mit der Folge, dass dem Klä-
ger ein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis
zustand. Die Abschiebung konnte unter diesen Umständen nicht
die Sperrwirkung nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG auslösen.
d) Im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung lagen auch die übri-
gen Voraussetzungen für den Anspruch auf Verlängerung der Auf-
enthaltserlaubnis nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 AuslG
(weiterhin) vor.
aa) Die Mutter des nach wie vor minderjährigen Klägers besaß
noch immer eine Aufenthaltsberechtigung. Der Verlängerungsan-
spruch nach dieser Vorschrift setzt ferner voraus, dass es
sich um die Fortsetzung eines durch die Geburt begründeten
Aufenthaltsrechts nach Satz 1 der Vorschrift handelt. Er er-
fasst dagegen nicht den Fall, dass ein im Bundesgebiet gebore-
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nes Kind nach längerer Abwesenheit in die Bundesrepublik zu-
rückkehren will (vgl. Urteil vom 18. November 1997 - BVerwG
1 C 22.96 - Buchholz 402.240 § 20 AuslG 1990 Nr. 4). Ein sol-
cher Fall liegt hier trotz des zwischenzeitlichen Aufenthalts
des Klägers in der Türkei ab November 1998 aber nicht vor. Da
dem Kläger - wie ausgeführt - seinerzeit ein Anspruch auf Ver-
längerung seiner Aufenthaltserlaubnis zustand und er deshalb
nicht in die Türkei hätte abgeschoben werden dürfen, kann ihm
die dadurch bedingte Abwesenheit vom Bundesgebiet nicht entge-
gengehalten werden. Die Tatsache, dass der Kläger sich gezwun-
genermaßen in der Türkei aufgehalten hat, schließt einen Ver-
längerungsanspruch daher nicht aus.
bb) Wie sich aus der Bezugnahme des § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG
auf § 17 AuslG ergibt, setzt der Verlängerungsanspruch ferner
voraus, dass der Aufenthalt der Herstellung oder Wahrung der
familiären Lebensgemeinschaft im Sinne des § 17 Abs. 1 AuslG
dient. Auch diese Voraussetzung war zum Zeitpunkt der Beru-
fungsentscheidung (weiterhin) erfüllt. Die Annahme einer fami-
liären Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seinen El-
tern ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht bereits des-
halb ausgeschlossen, weil der Kläger nach seinen eigenen Anga-
ben in der Berufungsverhandlung nicht mehr in den elterlichen
Haushalt zurückkehren will. Abgesehen davon, dass das Beru-
fungsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hat und die
personensorgeberechtigten Eltern gegenüber dem minderjährigen
Kläger nach wie vor das Recht zur Bestimmung seines Aufent-
halts hatten, setzt die familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne
des § 17 Abs. 1 AuslG nicht unter allen Umständen notwendig
das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft voraus (vgl. etwa
Urteil vom 27. Januar 1998 - BVerwG 1 C 28.06 - Buchholz
402.240 § 19 AuslG 1990 Nr. 4). Wenn auch die Erziehungs- und
Beistandsgemeinschaft zwischen Eltern und minderjährigen Kin-
dern sich regelmäßig durch ein Leben in häuslicher Gemein-
schaft manifestiert, ist es je nach den Umständen des Einzel-
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falles und insbesondere mit zunehmendem Alter und wachsender
Selbständigkeit der Kinder durchaus denkbar, dass trotz einer
Unterbringung außerhalb des Elternhauses die bestehende fami-
liäre Lebensgemeinschaft auch im Sinne einer Erziehungs- und
Beistandsgemeinschaft fortbesteht. Erschöpft sich der persön-
liche Kontakt dagegen in Besuchen, fehlen aber darüber hinaus-
gehende Beistandsleistungen oder andere Formen des familiären
Kontakts, handelt es sich um eine bloße Begegnungsgemeinschaft
(vgl. Urteil vom 27. Januar 1998, a.a.O.). Ob solche Begeg-
nungsgemeinschaften von § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 1
AuslG unter keinen Umständen erfasst sein können, kann offen
bleiben. Denn im vorliegenden Verfahren bestanden zum Zeit-
punkt der Berufungsentscheidung keinerlei Anhaltspunkte dafür,
dass die Eltern den damals siebzehnjährigen Kläger auch unab-
hängig von der (Wieder-)Aufnahme in ihren Haushalt nicht fi-
nanziell und durch persönlichen Beistand in wichtigen Lebens-
fragen weiterhin unterstützen und ständigen Kontakt mit ihm
pflegen wollten. Ebenso ist auf der Grundlage des Berufungsur-
teils auszuschließen, dass der Kläger seine Beziehungen zum
Elternhaus etwa abbrechen wollte. Es kommt hinzu, dass der vom
Berufungsgericht bestellte Sachverständige wegen der besonde-
ren Familiensituation und des tatsächlichen Umfelds eine Un-
terbringung des Klägers außerhalb seines Elternhauses im Rah-
men eines sozialpädagogischen Gesamtkonzepts sogar empfohlen
hatte.
cc) Dem Anspruch des Klägers auf Verlängerung der Aufenthalts-
erlaubnis stand schließlich auch zum Zeitpunkt der Berufungs-
entscheidung bei Beachtung der Schutzvorschrift des § 48
Abs. 2 Satz 1 AuslG ein Versagungsgrund nach § 17 Abs. 5 AuslG
nicht entgegen. Die Beklagte konnte ihr Ermessen rechtsfehler-
frei nur dahingehend ausüben, die Aufenthaltserlaubnis des
Klägers zu verlängern.
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3. Bestand demnach für den Kläger während des gesamten Zeit-
raums ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis,
ist auch die Aufhebung der Abschiebungsandrohung bzw. -anord-
nung durch das Berufungsgericht revisionsrechtlich nicht zu
beanstanden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Hund
Beck Dr. Eichberger