Urteil des BVerwG vom 31.01.2013

BVerwG: bindungswirkung, leistungserbringer, öffentlich, hessen, kunst, ausnahmefall, gebärdensprache, willkür, polizeirecht, gerichtsakte

BVerwG 3 AV 4.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 AV 4.12
VG Gießen - 07.11.2012 - AZ: VG 4 K 3021/12.GI
In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 31. Januar 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
beschlossen:
Als zuständiges Gericht des ersten Rechtszuges wird das Verwaltungsgericht
Gießen bestimmt.
Gründe
I
1 Der Kläger nimmt die Beklagte auf Zahlung von Krankentransportkosten für einen
Rettungsdiensteinsatz im April 2011 in Anspruch. Der Rechtsstreit ist im Juli 2012 beim
Amtsgericht Friedberg (Hessen) anhängig geworden, nachdem die Beklagte gegen den vom
Amtsgericht Hünfeld - Mahnabteilung - auf Antrag des Klägers erlassenen Mahnbescheid
Widerspruch eingelegt hatte. Nach Anhörung der Beteiligten hat das Amtsgericht mit Beschluss
vom 9. Oktober 2012 den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und
den Rechtsstreit nach § 17a Abs. 2 GVG an das Verwaltungsgericht Gießen verwiesen. Hierbei
hat es unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss
vom 17. Dezember 2009 - III ZB 47/09 - GesR 2010, 271) darauf abgestellt, dass es sich bei
Streitigkeiten über das Entgelt einer Notfallversorgung nach dem Hessischen
Rettungsdienstgesetz um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit handele (vgl. Hinweisverfügung
des Amtsgerichts vom 1. Oktober 2012, Bl. 30 der Gerichtsakte).
2 Das Verwaltungsgericht Gießen hat den Verwaltungsrechtsweg mit Beschluss vom 7.
November 2012 für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit dem Bundesverwaltungsgericht zur
Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
II
3 Das Bundesverwaltungsgericht ist für die Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts
zwischen dem Verwaltungsgericht Gießen und dem Amtsgericht Friedberg (Hessen) in
entsprechender Anwendung von § 53 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 VwGO zuständig. Danach entscheidet
bei negativen rechtswegübergreifenden Zuständigkeitskonflikten dasjenige oberste
Bundesgericht, das einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angerufen wird
(vgl. Beschlüsse vom 17. Februar 2012 - BVerwG 6 AV 2.11 - Buchholz 402.41 Allgemeines
Polizeirecht Nr. 93 , vom 31. Mai 2011 - BVerwG 8 AV 1.11 - Buchholz 310 § 53 VwGO
Nr. 35 und vom 15. April 2008 - BVerwG 9 AV 1.08 - Buchholz 310 § 53 VwGO Nr. 32
, jeweils m.w.N.).
4 Für die Klage auf Zahlung von Kosten für den Rettungsdiensteinsatz des Klägers am 3. April
2011 ist das Verwaltungsgericht Gießen zuständig. Der Verweisungsbeschluss des
Amtsgerichts, den die Beteiligten nicht mit der Beschwerde angefochten haben, ist für das
Verwaltungsgericht gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG hinsichtlich des
Rechtsweges bindend. Die Bindungswirkung nach § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG besteht selbst bei
einer rechtsfehlerhaften Verweisung. In Anbetracht der durch § 17a Abs. 4 GVG eröffneten
Überprüfungsmöglichkeit kommt eine Durchbrechung der gesetzlich bestimmten
Bindungswirkung des rechtskräftigen Verweisungsbeschlusses lediglich in extremen
Ausnahmefällen in Betracht, etwa wenn sich die Verweisungsentscheidung bei der Auslegung
und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz
des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entfernt hat, dass sie schlechthin nicht
mehr zu rechtfertigen ist. Hiervon kann jedoch allenfalls ausgegangen werden, wenn die
Verweisung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht
mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. Beschlüsse vom 17. Februar
2012 a.a.O. Rn. 6 und vom 31. Mai 2011 a.a.O. Rn. 10 f. m.w.N.; BGH, Beschluss vom 8. Juli
2003 - X ARZ 138/03 - NJW 2003, 2990 m.w.N.).
5 Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Es mögen zwar vertretbare Gründe für die
Annahme des Verwaltungsgerichts sprechen, dass nicht der Verwaltungsrechtsweg (§ 40 Abs. 1
Satz 1 VwGO), sondern der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten (§ 13 GVG) gegeben sei,
weil der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung für die Erbringung von
Rettungsdienstleistungen nach dem Hessischen Rettungsdienstgesetz zivilrechtlicher Natur sei.
Das Verwaltungsgericht stützt sich hierfür auf Rechtsprechung des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs, der in Bezug auf das seit 1. Januar 2011 gültige Hessische
Rettungsdienstgesetz (HRDG) vom 16. Dezember 2010 (GVBl I S. 646) ausgeführt hat, dass es
sich bei dem von einem privaten Leistungserbringer gegenüber dem Leistungsempfänger
(Geretteten) erhobenen Benutzungsentgelt für einen Rettungsdiensteinsatz um ein
privatrechtliches Entgelt handele. Das bestätige § 10 Abs. 1 HRDG, der den Leistungserbringern
ausdrücklich ermögliche, für die ihnen im Rahmen der bedarfsgerechten rettungsdienstlichen
und notärztlichen Aufgabenerfüllung entstehenden Kosten im eigenen Namen privatrechtliche
Benutzungsentgelte zu erheben (vgl. VGH Kassel, Urteil vom 22. März 2012 - 8 A 2255/10 - juris
Rn. 31).
6 Das rechtfertigt jedoch keine Durchbrechung der gesetzlichen Bindungswirkung nach § 17a
Abs. 2 Satz 3 GVG. Selbst wenn die vom Amtsgericht vorgenommene rechtliche Beurteilung
fehlerhaft sein sollte, kann sie doch nicht im Sinne eines extremen Rechtsverstoßes als nicht
mehr verständlich oder offensichtlich unhaltbar angesehen werden. Das Amtsgericht hat sich für
seine Verweisungsentscheidung auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 17. Dezember
2009 (- III ZB 47/09 - a.a.O.) gestützt, mit dem dieser entschieden hat, dass für Streitigkeiten über
das Entgelt für die Notfallversorgung nach dem Hessischen Rettungsdienstgesetz vom 24.
November 1998 (HRDG a.F., GVBl I S. 499) nicht der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten,
sondern zu den Verwaltungsgerichten eröffnet sei. Zur Begründung hat der Bundesgerichtshof
im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die Notfallversorgung eine Aufgabe der
Gefahrenabwehr sei und daher die Rechtsbeziehung zwischen dem Leistungserbringer und dem
Leistungsempfänger auch hinsichtlich der Zahlungsansprüche öffentlich-rechtlicher Natur sei.
Die Benutzungsentgelte nach § 8 HRDG a.F. würden einheitlich bestimmt und einheitlich für alle
Benutzer gelten (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2009 a.a.O. Rn. 9 ff., Rn. 17 ff.).
7 Vor diesem Hintergrund erscheint der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts weder als
schlechthin unverständlich noch als völlig abwegig. Dem steht nicht entgegen, dass sich der
Beschluss nicht ausdrücklich zu der Novellierung des § 8 HRDG a.F. (nunmehr § 10 HRDG n.F.)
und der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. März 2012 (- 8 A
2255/10 -) verhält. Dies ist schon deshalb nicht geeignet, die in § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG
angeordnete Bindungswirkung zu beseitigen, weil der bodengebundene Rettungsdienst auch
nach der Gesetzesnovelle eine öffentliche, von den Landkreisen und kreisfreien Städten als
Selbstverwaltungsangelegenheit wahrzunehmende Aufgabe ist (vgl. § 1 und § 5 Abs. 1 HRDG)
und die einheitliche Geltung der Benutzungsentgelte beibehalten wird (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 2,
Abs. 2 und Abs. 5 HRDG). Damit hat der rechtliche Ausgangspunkt, den der Bundesgerichtshof
seiner Rechtswegbeurteilung zugrunde gelegt und den sich das Amtsgericht zu eigen gemacht
hat, nach wie vor Bestand. Dass der Gesetzgeber den Leistungserbringer nunmehr in § 10 Abs.
1 HRDG ausdrücklich ermächtigt, in eigenem Namen privatrechtliche Nutzungsentgelte zu
erheben, stellt diese Beurteilung zwar in Frage, rechtfertigt aber nicht den gegenüber dem
Amtsgericht erhobenen Vorwurf objektiver Willkür.
Kley
Liebler
Dr. Kuhlmann