Urteil des BVerwG vom 22.05.2013

BVerwG: häusliche gemeinschaft, lebensgemeinschaft, aufenthaltserlaubnis, zustellung, befristung, wohnung, emrk, rücknahme, widerruf, anhörung

BVerwG 1 B 25.12
Rechtsquellen:
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8
AufenthG § 7 Abs. 2 Satz 2
Stichworte:
eheliche Lebensgemeinschaft; familiäre Lebensgemeinschaft; gemeinsame Wohnung; häusliche
Gemeinschaft; Begegnungsgemeinschaft; Bestandsgemeinschaft; tatsächliche Verbundenheit;
Kriterium; maßgeblicher Zeitpunkt; Sach- und Rechtslage; Befristung; nachträgliche Befristung;
Geltungsdauer; Aufenthaltserlaubnis.
Leitsatz:
1. Für das Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, die aufenthaltsrechtlichen Schutz
nach Art. 6 GG genießt, kommt es auf den nachweisbar betätigten Willen beider Eheleute an, ein
gemeinsames Leben zu führen. Bei der im jeweiligen Einzelfall vorzunehmenden Bewertung, ob
eine aufenthaltsrechtlich beachtliche tatsächliche Lebensgemeinschaft vorliegt oder lediglich
eine Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, verbietet sich eine
schematisierende Betrachtung.
2. Bei der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis auf den
Zeitpunkt der Zustellung des Befristungsbescheids nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist dieser
Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich, wenn er vor dem Zeitpunkt
der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts liegt.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 25.12
VG Stuttgart - 24.10.2011 - AZ: VG 11 K 1597/11
VGH Baden-Württemberg - 19.09.2012 - AZ: VGH 11 S 397/12
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Mai 2013
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
und Dr. Maidowski
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil
des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 19. September 2012 wird
zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 €
festgesetzt.
Gründe
1 Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und der Divergenz gestützte
Beschwerde ist unbegründet.
2 Der Kläger, ein serbischer Staatsangehöriger, reiste im Jahre 2001 nach Deutschland ein. Er
ist seit Januar 2007 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und beantragte im Juli
2007 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug. Im Februar 2008 wurde
ihm eine bis Ende Juni 2008 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die vor Ablauf um drei Jahre
verlängert wurde. Im Hinblick darauf, dass seine Ehefrau im Laufe des Jahres 2009 die
gemeinsame Wohnung in Stuttgart verließ und nach Heilbronn zog, verkürzte die Beklagte durch
Bescheid vom 14. Oktober 2010 gemäß § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG die Befristung der
Aufenthaltserlaubnis nachträglich auf den Zeitpunkt der Zustellung dieses Bescheides. Nach
Erhebung der Anfechtungsklage stellte der Kläger im Juni 2011 einen Antrag auf Verlängerung
seiner Aufenthaltserlaubnis. Klage und Berufung des Klägers blieben sowohl hinsichtlich der
nachträglichen Verkürzung der Frist als auch der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
erfolglos.
3 1. Die Grundsatzrügen des Klägers greifen nicht durch. Eine Rechtssache hat grundsätzliche
Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall
erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden
allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im
Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese
Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Rechtsfrage im
Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des
Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der
Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens
beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Beantwortung nicht zugänglich ist.
4 1.1 Die Frage,
„welches Maß der tatsächlichen Verbundenheit zwischen den Ehegatten den Schutz des Art. 6
Abs. 1 GG auslöst“,
lässt sich, soweit sie nicht bereits geklärt ist und soweit eine abstrakte Beantwortung überhaupt
möglich ist, ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens ohne Weiteres beantworten.
Aufenthaltstitel für den Familiennachzug zu Deutschen werden zur Herstellung und Wahrung der
familiären bzw. ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet erteilt (§ 27 Abs. 1 AufenthG).
Allein das formale Band der Ehe reicht daher für sich genommen nicht aus, um
aufenthaltsrechtliche Wirkungen zu entfalten. Erst der bei beiden Eheleuten bestehende Wille,
die eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet tatsächlich herzustellen oder
aufrechtzuerhalten, löst den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG aus; die Beweislast für das Bestehen
dieses Herstellungswillens als einer inneren Tatsache trägt der Ausländer (Urteile vom 22. Juni
2011 - BVerwG 1 C 11.10 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u Asylrecht Nr. 53 Rn. 14 ff. und vom
30. März 2010 - BVerwG 1 C 7.09 - BVerwGE 136, 222 Rn. 15 = Buchholz 402.242 § 27
AufenthG Nr. 2). Allerdings verbietet es sich angesichts der Vielfalt der von Art. 6 Abs. 1 GG
geschützten Ausgestaltungsmöglichkeiten der familiären Lebensgemeinschaft, schematische
oder allzu enge Mindestvoraussetzungen für das Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft
zu formulieren (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 - NVwZ 2002,
849, Rn. 22). Selbst wenn Eheleute typischerweise ihren Lebensmittelpunkt in einer
gemeinsamen Wohnung haben, kann eine eheliche Lebensgemeinschaft auch dann bestehen,
wenn die Eheleute - etwa aus beruflichen Gründen - in getrennten Wohnungen leben oder aus
gewichtigen Gründen - Berufstätigkeit, Inhaftierung - wenig persönlichen Kontakt haben. In
einem derartigen Fall ist allerdings erforderlich, dass das Bestehen einer über eine bloße
Begegnungsgemeinschaft hinausreichenden familiären Beistandsgemeinschaft auf andere
Weise erkennbar sichergestellt ist, etwa durch eine jedenfalls erforderliche intensive
Kommunikation zwischen den Eheleuten als Indiz für eine gemeinsame Lebensgestaltung,
durch Beistandsleistungen oder Besuche im Rahmen des Möglichen (Urteil vom 22. Juni 2011
a.a.O. Rn. 18; im Übrigen vgl. auch Marx, in: Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der
anwaltlichen Praxis, 4. Aufl. 2011, § 5 Rn. 12 ff., 32 ff., 90 ff.). Maßgeblich ist der nachweisbar
betätigte Wille, mit der Partnerin bzw. dem Partner als wesentlicher Bezugsperson ein
gemeinsames Leben zu führen. Ob dieser Wille vorliegt und praktiziert wird, ist allerdings eine
Frage des jeweiligen Einzelfalls; die abstrakte Festlegung weiterer, über die vom
Berufungsgericht zutreffend zugrunde gelegten Obersätze hinausgehender Kriterien für das Maß
an tatsächlicher Verbundenheit zwischen den Eheleuten ist nicht möglich.
5 Von diesen Grundsätzen ausgehend und unter Berücksichtigung der Wertentscheidung des
Art. 6 Abs. 1 GG, wirft die Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht keine
rechtsgrundsätzlich bedeutsamen Fragen auf. Insbesondere besteht angesichts der in der
mündlichen Verhandlung nach eingehender Anhörung des Klägers sowie seiner Ehefrau als
Zeugin festgestellten Tatsachen kein Anlass, weitere Mindestvoraussetzungen für das Bestehen
einer familiären Lebensgemeinschaft aufzustellen. Denn das Berufungsgericht hat festgestellt,
dass im entscheidungserheblichen Zeitpunkt zwischen den Eheleuten dauerhaft keine auf eine
Lebens- oder Beistandsgemeinschaft deutenden Kontakte mehr bestanden, ohne dass
hiergegen eine durchgreifende Verfahrensrüge erhoben worden wäre.
6 1.2 Auch die weitere Frage,
„welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei Klagen, die sich gegen die
nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer eines Aufenthaltstitels richten und bei denen der
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels
liegt, maßgeblich ist“,
rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, weil sie sich anhand der Rechtsprechung ohne
Weiteres beantworten lässt. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum
maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Aufenthaltsrecht beruht
auf der Annahme, dass im Streit um das Fortbestehen eines Aufenthaltsrechts aus materiell-
rechtlichen Gründen auf einen möglichst späten Beurteilungszeitpunkt abzustellen ist, um die
Berücksichtigung aktueller tatsächlicher Entwicklungen etwa im Lichte des Art. 8 EMRK oder
des Art. 6 GG zu ermöglichen. Deshalb sind Ausweisungen ebenso wie
Abschiebungsandrohungen oder Ermessensentscheidungen über die Erteilung und
Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis sowie Entscheidungen über die Rücknahme oder den
Widerruf eines unbefristeten Aufenthaltstitels auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zu
überprüfen, wie sie sich im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der
Tatsacheninstanz darstellt (Urteile vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE
130, 20 Rn. 12 = Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 7; vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 -
BVerwGE 133, 329 Rn. 37 f. = Buchholz 402.242 § 32 AufenthG Nr. 4; vom 13. April 2010 -
BVerwG 1 C 10.09 - Buchholz 402.242 § 51 AufenthG Nr. 1 und vom 22. März 2012 - BVerwG 1
C 3.11 - BVerwGE 142, 179 Rn. 13 = Buchholz 402.242 § 23 AufenthG Nr. 3). Diese Gründe
treffen auf eine durch nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis
bewirkte zeitliche Verkürzung des Aufenthaltsrechts in gleicher Weise zu. Einer Einbeziehung
tatsächlicher Entwicklungen nach Erlass des angegriffenen Verwaltungsaktes bedarf es
allerdings nicht, wenn die nachträglich eingetretenen Tatsachen sich auf den angegriffenen
Verwaltungsakt nicht mehr auswirken können, sondern - insbesondere nach dem Wegfall des
Aufenthaltsrechts und dem Entstehen einer Ausreisepflicht - Bedeutung lediglich für die
Neuerteilung eines Titels oder die Verlängerung des abgelaufenen Titels haben. Bei der
nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis auf den Zeitpunkt der
Zustellung eines Befristungsbescheids nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist deshalb dieser
Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich, wenn er vor der letzten
mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts bzw. der Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung liegt (ebenso Discher, in: GK zum Aufenthaltsgesetz II, § 7 Rn. 508; vgl. auch VGH
Mannheim, Urteil vom 15. Juli 2009 - 13 S 2372/08 - NVwZ 2009, 1380 Rn. 42; sowie VGH
München, Beschluss vom 16. August 2011 - 10 CS 11.432 - BayVBl 2012, 210 Rn. 30).
7 Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage würde sich im Übrigen - unabhängig von ihrer
mangelnden grundsätzlichen Bedeutung - in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Denn das
Berufungsgericht hat für den Zeitraum von November 2009 bis Juni 2012 festgestellt, dass eine
eheliche Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau nicht mehr bestand,
ohne dass durchgreifende Verfahrensrügen hiergegen erhoben wären. Diese Feststellung
umfasst alle in Betracht kommenden Zeitpunkte (19. Oktober 2010: Zustellung des angegriffenen
Bescheids über die nachträgliche Befristung, 17. Juni 2011: Ablauf des ursprünglichen
Aufenthaltstitels und 19. September 2012: mündliche Verhandlung in der Berufungsinstanz).
8 2. Die vom Kläger behauptete Abweichung (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) des Berufungsurteils
von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -
führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision.
9 Eine Divergenz im Sinne der genannten Vorschrift ist gegeben, wenn das Berufungsgericht in
dem angefochtenen Urteil einen das Urteil tragenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, mit
dem es einem Rechtssatz widersprochen hat, den eines der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO
genannten Gerichte in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat.
10 Die Divergenzrüge ist schon unzulässig, da sie nicht den Darlegungsanforderungen des §
133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entspricht. Sie rügt zwar eine Abweichung des Berufungsgerichts von
der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, arbeitet jedoch die abstrakten,
entscheidungstragenden Rechtssätze der beiden Entscheidungen nicht heraus, deren
Divergenz der Kläger geltend machen möchte. Hiervon unabhängig liegt die gerügte Divergenz
weder ausdrücklich noch unausgesprochen vor. Vielmehr stützt sich das Berufungsgericht auf
die von der Beschwerde benannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und legt
seinem Urteil insbesondere die Annahme zugrunde, dass für das Bestehen einer familiären bzw.
ehelichen Lebensgemeinschaft nicht zwingend eine häusliche Gemeinschaft erforderlich ist,
sondern es im Kern auf den betätigten Willen ankommt, ein gemeinsames Leben zu führen.
Dieser Obersatz genügt dem Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts, eine schematische
Einordnung und Qualifizierung einer tatsächlichen Situation als aufenthaltsrechtlich
schutzwürdige Lebensgemeinschaft oder als bloße Begegnungsgemeinschaft ohne
aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen verbiete sich angesichts der Vielfalt der von Art. 6 GG
erfassten Gestaltungsmöglichkeiten.
11 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über den Streitwert
beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Dr. Maidowski