Urteil des BVerwG vom 18.07.2006

BVerwG (verfolgung, widerruf, irak, abweisung der klage, anerkennung, bundesamt, gruppe, gefahr, unmenschliche behandlung, staatliche verfolgung)

Rechtsquellen:
AsylVfG
§ 73 Abs. 1 und 2a
AufenthG
§ 60 Abs. 1
AuslG
§ 51 Abs. 1
VwVfG
§ 48 Abs. 4, § 49 Abs. 2 Satz 2
VwGO
§ 124a Abs. 6
Stichworte:
Widerruf der Flüchtlingsanerkennung (Irak); Unverzüglichkeit des Widerrufs;
Jahresfrist für Widerruf; Prognosemaßstab bei andersartiger Rückkehrverfol-
gung; innerer Zusammenhang zwischen früherer Verfolgung und Rückkehrver-
folgung; private Verfolgung; nichtstaatliche Akteure; nichtstaatliche Gruppen-
verfolgung; Gruppenverfolgung durch Private; Maßstab für nichtstaatliche
Gruppenverfolgung; Verfolgungsdichte; Berufungsbegründung.
Leitsätze:
1. Die Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppen-
verfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung (hier: von Christen im
Irak) durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch das Zu-
wanderungsgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist.
2. Droht dem (hier: wegen des subjektiven Nachfluchtgrunds der Asylantrag-
stellung in Deutschland) anerkannten Flüchtling im Falle des Widerrufs bei der
Rückkehr in seinen Heimatstaat keine Verfolgungswiederholung, sondern eine
gänzlich neue und andersartige Verfolgung (hier: wegen der Religionszugehö-
rigkeit durch Private), ist der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrschein-
lichkeit anzuwenden.
Urteil des 1. Senats vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05
I. VG Regensburg vom 22.02.2005 - Az.: VG RN 3 K 04.30720 -
II. VGH München vom 30.05.2005 - Az.: VGH 23 B 05.30230 –
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
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URTEIL
Verkündet
BVerwG 1 C 15.05
am 18. Juli 2006
VGH 23 B 05.30230
von Förster
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juli 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
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die Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund und Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
für Recht erkannt:
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
30. Mai 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Anerkennung als politischer
Flüchtling (Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG, jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG).
Der nach seinen Angaben 1967 in Bagdad geborene Kläger ist irakischer
Staatsangehöriger chaldäischen Glaubens. Er kam im August 2000 auf dem
Landweg nach Deutschland und beantragte Asyl. Mit bestandskräftig geworde-
nem Bescheid vom 3. November 2000 lehnte das Bundesamt für die Anerken-
nung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)
- Bundesamt - den Asylantrag teilweise (zu Art. 16a GG) ab und gab ihm hin-
sichtlich der auf die Anerkennung als politischer Flüchtling gerichteten Feststel-
lung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG)
wegen Verfolgungsgefahren infolge der Asylantragstellung statt. Die Flücht-
lingsanerkennung widerrief das Bundesamt mit Bescheid vom 16. September
2004 (Nr. 1 des Bescheids) und stellte gleichzeitig fest, dass Abschiebungshin-
dernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheids).
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Mit seiner hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, den Bescheid
des Bundesamtes aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzu-
stellen, dass bei ihm Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (jetzt: § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG) vorliegen. Das Verwaltungsgericht hat der Klage statt-
gegeben und den angefochtenen Widerrufsbescheid insgesamt aufgehoben,
weil der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak als Christ einer Gruppenverfol-
gung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c
AufenthG unterliege. Auf die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsge-
richtshof durch das angefochtene Urteil vom 30. Mai 2005 die erstinstanzliche
Entscheidung geändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Der Verwal-
tungsgerichtshof hat ausgeführt, die Berufung sei zulässig und begründet. Die
Bezugnahme der Beklagten auf ihr Vorbringen im Zulassungsverfahren genüge
den Anforderungen an die Berufungsbegründung nach § 124a Abs. 6 Satz 1
VwGO. Der Kläger habe zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zu-
kunft bei Rückkehr in den Irak infolge der inzwischen eingetretenen grundle-
genden Änderung der Verhältnisse keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz
nach § 60 AufenthG. Wegen seines Asylantrages und seiner illegalen Ausreise
drohten ihm nach der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung
des Regimes keine Verfolgungsmaßnahmen im Irak mehr. Weder von den
Koalitionstruppen noch von der irakischen Regierung hätten Exiliraker Gefähr-
dungen zu erwarten. Trotz der schwierig abzuschätzenden künftigen Verhält-
nisse im Irak bestehe für eine Änderung der Situation zum Nachteil des Klägers
kein Anhalt. Zwar fänden vermehrt Anschläge statt, die aber an einer grund-
sätzlichen Kontrolle des Staatsgebiets auch durch alliierte Kräfte nichts änder-
ten. Allerdings seien im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Die
allgemeine Sicherheitslage sei nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen
im Mai 2003 hochgradig instabil geworden. Überfälle und Entführungen - alle
Minderheiten würden überdurchschnittlich Opfer von Entführungen - seien an
der Tagesordnung. Christliche Betreiber von Alkoholgeschäften seien Ziel von
Anschlägen und Plünderungen. Gezielte Anschläge auf Kirchen in Bagdad und
in Mosul hätten zugenommen. Generell komme es immer wieder zu Terroran-
schlägen auch gegenüber Muslimen, seien es Sunniten oder Schiiten, oder an-
deren Bevölkerungsgruppen. Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf
verschiedene Bevölkerungsgruppen seien die Übergriffe gegenüber Christen
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nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig
und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen im Sinne des § 60
Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG begründen könnten. Der Widerruf sei daher
zu Recht erfolgt. Einer Ermessensentscheidung nach dem am 1. Januar 2005
in Kraft getretenen § 73 Abs. 2a AsylVfG habe es nicht bedurft. Des Weiteren
habe der Kläger bei Rückkehr in den Irak weder eine unmenschliche Behand-
lung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu befürchten
(auch nicht wegen seiner Religionszugehörigkeit) noch begründe die allgemei-
ne Sicherheits- und Versorgungslage im Irak einen Anspruch auf Feststellung
der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Das Bayerische
Staatsministerium des Innern habe im Erlasswege die Abschiebung irakischer
Staatsangehöriger ausgesetzt. Diese Erlasslage vermittle derzeit einen wirksa-
men Schutz vor Abschiebung, so dass eine verfassungskonforme Anwendung
des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht in Betracht komme. Im Übrigen sei
nichts dafür ersichtlich, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle konkrete
Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne dieser Bestimmung drohe.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision erstrebt der Kläger, das erstinstanz-
liche Urteil wiederherzustellen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ein Ab-
schiebungsverbot nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG hinsichtlich des Irak
festzustellen. Er trägt vor, der Verwaltungsgerichtshof hätte die Berufung man-
gels ordnungsgemäßer Berufungsbegründung bereits als unzulässig verwerfen
oder jedenfalls als unbegründet zurückweisen müssen. Insbesondere sei der
Widerruf unter Verstoß gegen § 73 Abs. 2a AsylVfG nicht als Ermessensent-
scheidung ergangen.
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Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und weist darauf hin, dass § 73
Abs. 2a AsylVfG nach der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts auf vor dem 1. Januar 2005 erlassene Widerrufs-
bescheide nicht anwendbar sei. Die Berufung sei durch die Bezugnahme auf
den umfangreichen Inhalt des Zulassungsantrags ausreichend begründet wor-
den.
Die Landesanwaltschaft Bayern beteiligt sich am Revisionsverfahren und macht
geltend, § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG sei auf den angefochtenen Widerrufsbe-
scheid, der vor dem 1. Januar 2005 ergangen sei, nicht anwendbar. Auch habe
das Berufungsgericht die Berufung zu Recht als ordnungsgemäß begründet
und zulässig behandelt.
II
Die Revision ist begründet.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nach der unbeschränkten Zulassung
der Revision in erster Linie das mit dem Hauptantrag verfolgte Anfechtungsbe-
gehren des Klägers, gerichtet auf die Aufhebung des Widerrufsbescheids ins-
gesamt, also sowohl des Widerrufs der Anerkennung als politischer Flüchtling
(Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt
§ 60 Abs. 1 AufenthG) in Nr. 1 des Bescheids als auch der (negativen) Feststel-
lung zu § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) in Nr. 2 des Bescheids.
Daneben ist Gegenstand der Revision das Hilfsbegehren auf Verpflichtung der
Beklagten zur (positiven) Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60
Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG.
Die Abweisung der Klage durch das Berufungsgericht ist mit Bundesrecht nicht
vereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Senat kann auf der Grundlage der
Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst ent-
scheiden, ob der angefochtene Widerrufsbescheid rechtmäßig ist. Die Sache
ist deshalb wegen fehlerhafter Ablehnung des Hauptantrags ohne weitere Prü-
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fung des Hilfsantrags an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144
Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung zu Recht als zulässig angese-
hen. Nach § 124a Abs. 6 Satz 1 und 3, Abs. 3 Satz 4 VwGO muss die Beru-
fungsbegründung einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführen-
den Berufungsgründe enthalten. Welche Mindestanforderungen danach an die
Berufungsbegründung zu stellen sind, hängt wesentlich von den Umständen
des konkreten Einzelfalls ab. Das gesetzliche Erfordernis der Einreichung eines
Schriftsatzes zur Berufungsbegründung kann grundsätzlich auch eine auf die
erfolgreiche Begründung des Zulassungsantrags verweisende Begründung er-
füllen, wenn damit hinreichend zum Ausdruck gebracht werden kann, dass und
weshalb das erstinstanzliche Urteil weiterhin angefochten wird (vgl. Beschluss
vom 2. Oktober 2003 - BVerwG 1 B 33.03 - DVBl 2004, 125 unter Hinweis auf
Urteil vom 30. Juni 1998 - BVerwG 9 C 6.98 - BVerwGE 107, 117 <121>; Urteil
vom 8. März 2004 - BVerwG 4 C 6.03 - Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 26 und
Beschluss vom 2. Juni 2005 - BVerwG 10 B 4.05 - juris). So genügt in asyl-
rechtlichen Streitigkeiten eine Berufungsbegründung den Anforderungen des
§ 124a Abs. 6 VwGO regelmäßig etwa dann, wenn sie zu einer entscheidungs-
erheblichen Frage ihre von der Vorinstanz abweichende Beurteilung deutlich
macht, was auch durch die Bezugnahme auf die Begründung des insoweit er-
folgreichen Zulassungsantrags und auf den Zulassungsbeschluss geschehen
kann (stRspr; vgl. den Beschluss des Senats vom 15. Oktober 1999 - BVerwG
9 B 491.99 - Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 13 und das Urteil vom 23. April
2001 - BVerwG 1 C 33.00 - BVerwGE 114, 155 <157 ff.> m.w.N.). Dem wird die
auf den Berufungszulassungsantrag verweisende Berufungsbegründung der
Beklagten vom 13. April 2004 (GA Bl. 37) gerecht.
2. Das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof haben das Klage-
begehren zutreffend nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwande-
rungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage beurteilt (stRspr, vgl.
Urteil vom 8. Februar 2005 - BVerwG 1 C 29.03 - InfAuslR 2005, 339).
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a) Sie sind deshalb zu Recht darauf eingegangen, ob der angefochtene Wider-
rufsbescheid insgesamt nicht schon an dem durch das Zuwanderungsgesetz
neu eingeführten Erfordernis einer Ermessensentscheidung nach § 73 Abs. 2a
AsylVfG scheitert. Nach dieser Bestimmung hat die Prüfung, ob die Vorausset-
zungen für einen Widerruf nach Abs. 1 vorliegen, spätestens nach Ablauf von
drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (Satz 1). Das
Ergebnis ist der Ausländerbehörde mitzuteilen (Satz 2). Ist nach der Prüfung
ein Widerruf nicht erfolgt, so steht eine spätere Entscheidung nach Abs. 1 im
Ermessen des Bundesamtes (Satz 3). Wie der erkennende Senat bereits ent-
schieden hat (Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - ZAR 2006,
107 = DVBl 2006, 511, zur Veröffentlichung in den Entscheidungssammlungen
BVerwGE und Buchholz vorgesehen), findet § 73 Abs. 2a AsylVfG auf Wider-
rufsentscheidungen, die - wie hier - vor dem 1. Januar 2005 ergangen sind,
keine Anwendung. Weiterhin offen bleiben kann, ob § 73 Abs. 2a AsylVfG dar-
über hinausgehend nur für den Widerruf von Anerkennungsbescheiden gilt, die
nach dem 1. Januar 2005 ergangen sind (vgl. Urteil vom 1. November 2005
a.a.O. Rn. 42).
b) Entgegen der vom Kläger noch im Beschwerdeverfahren vertretenen Ansicht
ist der Widerruf auch nicht etwa deshalb insgesamt rechtswidrig, weil er nicht
„unverzüglich“ im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bzw. nicht innerhalb
der Jahresfrist nach § 48 Abs. 4, § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG erfolgt sei. Ob der
Widerruf, wie in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vorgesehen, unverzüglich erfolgt
ist, bedarf keiner Entscheidung. Das Gebot des unverzüglichen Widerrufs dient
nämlich ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein Verstoß dagegen
keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzt (stRspr, vgl. zuletzt Urteil
vom 1. November 2005 a.a.O. Rn. 40 und Beschluss vom 4. November 2005
- BVerwG 1 B 58.05 - juris, je m.w.N.).
Weiterhin offen bleiben kann, ob die
Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG auch bei Widerrufsver-
fügungen nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu beachten ist (vgl. Urteil vom
1. November 2005 a.a.O. Rn. 43 sowie Urteil vom 8. Mai 2003 - BVerwG 1 C
15.02 - BVerwGE 118, 174 <179>). Die Jahresfrist, die frühestens nach einer
Anhörung des Klägers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme zu lau-
fen beginnt (vgl. Urteile vom 1. November 2005 und vom 8. Mai 2003 a.a.O.),
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wäre hier eingehalten. Der Widerruf erfolgte nämlich mit Bescheid vom 26. Juli
2004, nachdem das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
(jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - den Kläger mit
Schreiben vom 24. Mai 2004 angehört und dieser sich innerhalb der ihm ge-
setzten Frist von einem Monat mit Schreiben vom 25. Juni 2004 zu dem beab-
sichtigten Widerruf geäußert hatte.
c) Ob der Widerruf im Übrigen den gesetzlichen Anforderungen aus § 73 Abs. 1
AsylVfG entspricht und das Bundesamt deshalb zugleich befugt war, über das
Bestehen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG) zu entscheiden (vgl. Urteil vom 20. April 1999 - BVerwG 9 C
29.98 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 18), kann der Senat auf der Grundla-
ge des Berufungsurteils nicht abschließend selbst beurteilen.
3. Allerdings verfehlt das angefochtene Urteil nicht bereits in seinem Ansatz die
vom Bundesverwaltungsgericht in dem zitierten Urteil vom 1. November 2005
a.a.O. klargestellten Maßstäbe zur Auslegung der Widerrufsermächtigung in
§ 73 Abs. 1 AsylVfG:
a) Danach ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Asyl- und Flüchtlingsaner-
kennung insbesondere zu widerrufen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Aner-
kennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorü-
bergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in sei-
nen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfol-
gungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausge-
schlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Der Se-
nat hat hierzu offen gelassen, welcher Prognosemaßstab gilt, wenn für die Zu-
kunft befürchtete Verfolgungsmaßnahmen keinerlei Verknüpfung mehr mit den
früheren aufweisen, die zur Anerkennung geführt haben (vgl. Urteil vom 1. No-
vember 2005 a.a.O. Rn. 17 unter Bezugnahme auf das Urteil vom 24. Novem-
ber 1992 - BVerwG 9 C 3.92 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 1). Ändert
sich im Nachhinein lediglich die Beurteilung der Verfolgungslage, so rechtfertigt
dies den Widerruf nicht (vgl. Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. unter Bezug-
nahme auf Urteile vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE
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112, 80 und vom 8. Mai 2003 a.a.O. BVerwGE 118, 174 <177>). Ob dem Aus-
länder wegen allgemeiner Gefahren im Herkunftsstaat (z.B. aufgrund von Krie-
gen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage) eine Rückkehr
unzumutbar ist, ist beim Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach §
73 Abs. 1 AsylVfG nicht zu prüfen. Schutz kann insoweit nach den allgemeinen
Bestimmungen des deutschen Ausländerrechts gewährt werden (vgl. nament-
lich § 60 Abs. 7 Satz 2 und § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Im Übrigen führt der
Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nicht ohne weiteres zum Verlust
des damit verbundenen Aufenthaltstitels (vgl. Urteil vom 1. November 2005
a.a.O. Rn. 24).
b) Nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist von einem Widerruf abzusehen, wenn
sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende
Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen
Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnli-
chen Aufenthalt hatte. Die Bestimmung enthält, wie der Senat in dem Urteil
vom 1. November 2005 (a.a.O. Rn. 36 ff.) näher ausgeführt hat, eine einzelfall-
bezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft. Maßgeb-
lich sind Nachwirkungen einer früheren Verfolgung, aus denen sich zwar für die
Zukunft keine Verfolgungsgefahr mehr ergibt, die aber gegenwärtig eine Rück-
kehr als unzumutbar erscheinen lassen. Dagegen schützt auch diese Vorschrift
nicht gegen allgemeine Gefahren. Ebenso wenig können aus ihr allgemeine,
von den gesetzlichen Voraussetzungen losgelöste Zumutbarkeitskriterien her-
geleitet werden, die einem Widerruf der Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung
entgegenstehen (Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. Rn. 38).
c) Nach diesen Grundsätzen durfte das Berufungsgericht auf der Grundlage
seiner im Revisionsverfahren nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und für
das Revisionsgericht bindenden (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) tatrichterlichen Fest-
stellungen und Prognosen annehmen, dass die im Anerkennungsbescheid an-
genommene ursprüngliche Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Irak
wegen der Asylantragstellung in Deutschland mit der Beseitigung des Saddam-
Regimes inzwischen weggefallen ist und insofern die dargelegten Vorausset-
zungen für einen Widerruf vorliegen. Im Ergebnis zu Recht durfte es auch da-
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von ausgehen, dass der Ausnahmefall einer auf der früheren Verfolgung beru-
henden unzumutbaren Rückkehr im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG hier
nicht geltend gemacht und auch sonst nicht in Betracht zu ziehen ist (vgl. aber
Beschluss vom 28. Juni 2006 - BVerwG 1 B 134.05 - juris).
4. Hingegen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts dazu, dass dem Klä-
ger - bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung En-
de Mai 2005 - bei einer Rückkehr in den Irak nicht erneut eine (andere) Verfol-
gung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht, mit Bundesrecht nicht in vollem
Umfang vereinbar. Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof im Ausgangspunkt
zutreffend geprüft, ob dem Kläger nunmehr bei einer Rückkehr in den Irak eine
(Gruppen-)Verfolgung als Christ durch nichtstaatliche Akteure droht. Die Fest-
stellungen des Verwaltungsgerichtshofs, mit denen er eine derartige Gruppen-
verfolgung der Christen im Irak verneint hat, genügen indes nicht den Anforde-
rungen, die auch an die Prüfung und Ermittlung einer Gruppenverfolgung durch
nichtstaatliche Akteure zu stellen sind.
a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung
sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung für die unmittelbare und die mit-
telbare staatliche Verfolgung grundsätzlich geklärt (vgl. vor allem Urteil vom
5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 m.w.N.). Die Gefahr
eigener Verfolgung des Asylbewerbers, die Voraussetzung sowohl einer An-
erkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG als auch als (Konventi-
ons-)Flüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist, kann sich nicht nur aus gegen
ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung),
sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten
wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt,
und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtig-
keit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung; vgl. BVerfG,
Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. - BVerfGE 83, 216 und
BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. S. 202). Dabei ist je nach den tatsächli-
chen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein
bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die
Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffen-
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heit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen (vgl. Beschluss vom
5. Mai 2003 - BVerwG 1 B 234.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 271 und
Urteil vom 30. April 1996 - BVerwG 9 C 171.95 - BVerwGE 101,
134 <140 f.>).
Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten
Verfolgung setzt ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die
„Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. Urteil vom 5. Juli 1994
a.a.O. S. 203). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffs-
handlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich
dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um
eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen
vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort auf-
haltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer
Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden
Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die ak-
tuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Der Feststellung dicht und eng
gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es jedoch nicht, wenn hinreichend siche-
re Anhaltspunkte für ein (staatliches) Verfolgungsprogramm bestehen, dessen
Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (Urteil vom 5. Juli
1994 a.a.O.; zu der ferner zu beachtenden Möglichkeit einer „Einzelverfolgung
wegen Gruppenzugehörigkeit“ vgl. zuletzt etwa Beschluss vom 5. Mai 2003
- BVerwG 1 B 234.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 271 sowie BVerfG,
Beschluss vom 23. Januar 1991 a.a.O. S. 234, jeweils m.w.N.). Darüber hinaus
gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemei-
nen Grundsatz der Subsidiarität des Asyl- und Flüchtlingsrechts den Betroffe-
nen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunfts-
land landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Flucht-
alternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zu-
fluchtsland aus erreichbar sein muss.
b) Diese Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Grup-
penverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatli-
che Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch das Zuwanderungsgesetz aus-
drücklich als schutzbegründend geregelt ist.
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Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung der Gen-
fer Flüchtlingskonvention (Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstel-
lung der Flüchtlinge, BGBl 1953 II S. 559 - GFK -) nicht in einen Staat abge-
schoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse,
Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozia-
len Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Nach
Satz 4 dieser Bestimmung kann eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 ausge-
hen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder we-
sentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteu-
ren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich
internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht
willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon,
ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es
sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.
Danach ist, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt und untersucht hat,
auch die Verfolgung der Christen im Irak durch fundamentalistische Muslime
und andere private Dritte in den Blick zu nehmen und im Rahmen der stets er-
forderlichen Gesamtschau aller asylrelevanten Bedrohungen zu würdigen. Ent-
gegen der Auffassung der Beklagten und der von ihr angeführten Stimmen in
Rechtsprechung und Literatur erfasst § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG
dabei schon seinem Wortlaut nach alle nichtstaatlichen Akteure ohne weitere
Einschränkung, namentlich also auch Einzelpersonen, sofern von ihnen Verfol-
gungshandlungen im Sinne des Satzes 1 ausgehen.
Die Nachstellungen nichtstaatlicher Akteure- je für sich, soweit sie auf unter-
schiedliche Gruppen gerichtet sind, oder zusammen, soweit sie sich gegen die-
selbe Personengruppe richten - müssen allerdings, um eine private Gruppen-
verfolgung mit der Regelvermutung individueller Betroffenheit annehmen zu
können, auch das Erfordernis der Verfolgungsdichte erfüllen. Ob diese Voraus-
setzungen bei einer Gruppe in einem bestimmten Herkunftsstaat vorliegen, ist
von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne
der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeu-
tung zu entscheiden. Dabei müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungs-
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maßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staats-
ähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a
und b AufenthG zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich
der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von
§ 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet
werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zu-
sammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließ-
lich zur Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte
Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als
bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfü-
gig erscheinen kann (Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. S. 206; zur ausnahmswei-
sen Entbehrlichkeit einer weiteren Quantifizierung der Verfolgungsschläge bei
sehr kleinen Gruppen vgl. zuletzt Beschluss vom 23. Dezember 2002 - BVerwG
1 B 42.02 - Buchholz 11 Art. 16a GG Nr. 49 ). Ob und ggf. inwieweit die ten-
denziell noch weitergehenden Nachweiserleichterungen für eine bevorstehende
Verfolgungsgefahr bei Aufdeckung eines Verfolgungsprogramms ebenfalls auf
eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar sind, bedarf keiner
weiteren Erörterung.
c) Diesen Anforderungen wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Der Verwal-
tungsgerichtshof hätte seine Entscheidung nicht ohne genauere Feststellungen
zu Art, Umfang und Gewicht der Verfolgungshandlungen treffen dürfen und
diese zu der Zahl der irakischen Christen in Beziehung setzen müssen. Um
eine Gruppenverfolgung der Christen im Irak - oder einzelner christlicher Glau-
bensgemeinschaften - ausschließen zu können, hätte sich der Verwaltungsge-
richtshof nicht damit begnügen dürfen, lediglich pauschal festzustellen, Überfäl-
le und Entführungen seien insbesondere bei Minderheiten an der Tagesord-
nung, christliche Betreiber von Alkoholgeschäften seien Ziel von Anschlägen
und Plünderungen sowie gezielte Anschläge auf Kirchen in Bagdad und in Mo-
sul hätten zugenommen (UA S. 9). Für die notwendige Relationsbetrachtung
fehlen außerdem jegliche Feststellungen zur Anzahl der möglicherweise als
Gruppe verfolgten Christen im Irak; sie ergeben sich auch nicht aus der in Be-
zug genommenen Entscheidung eines anderen Oberverwaltungsgerichts. Die
tatrichterliche Erwägung des Verwaltungsgerichtshofs, gemessen an der Viel-
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zahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen seien die Übergrif-
fe gegenüber Christen nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahr-
scheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der
Christen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG begründen könn-
ten, ist ferner auch deshalb mit Bundesrecht nicht vereinbar, weil eine Grup-
penverfolgung der Christen nicht mit der Begründung verneint werden kann,
dass auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten in ähnlicher Weise
drangsaliert werden.
5. Für das weitere Verfahren bemerkt der Senat:
a) Zu Recht hat der Verwaltungsgerichtshof bei der Prüfung, ob dem Kläger
heute bei einer Rückkehr in den Irak einer Gruppenverfolgung als Christ droht,
den allgemeinen (Prognose-)Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit an-
gelegt und nicht den erleichterten sog. herabgesetzten oder herabgestuften
Maßstab der hinreichenden Sicherheit vor erneuter bzw. wiederholter Verfol-
gung. Wie bereits ausgeführt, hat das Bundesverwaltungsgericht bisher offen
gelassen, welcher Prognosemaßstab beim Widerruf gilt, wenn für die Zukunft
befürchtete Verfolgungsmaßnahmen keinerlei Verknüpfung mehr mit den frühe-
ren Maßnahmen aufweisen, die zur Anerkennung geführt haben (vgl. Urteil vom
1. November 2005 a.a.O. Rn. 17). Der Senat hält in solchen Fällen - wie hier -
die Anwendung des allgemeinen Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlich-
keit für richtig, wenn dem Betroffenen keine Verfolgungswiederholung im enge-
ren Sinne droht, sondern eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung, die
in keinem inneren Zusammenhang mit der früheren mehr steht. Nur dann er-
scheint es gerechtfertigt, den subjektiv mit dem „Trauma“ einer Vorverfolgung
belasteten und/oder objektiv einer erhöhten Gefahr der Verfolgungswiederho-
lung ausgesetzten anerkannten Asylberechtigten oder Flüchtling gegenüber
einem nicht oder nicht in gleichartiger Weise vorverfolgten Asylbewerber zu
privilegieren, der bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat derselben Verfol-
gungsgefahr ausgesetzt ist und nach allgemeiner Ansicht asylrechtlichen
Schutz nur erhalten kann, wenn die Rückkehrverfolgung beachtlich wahrschein-
lich ist. Nur das entspricht auch den Grundsätzen der ständigen Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts zur Anwendbarkeit des herabgestuften
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Wahrscheinlichkeitsmaßstabs bei erlittener Vorverfolgung, die voraussetzt,
dass „ein innerer Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und der mit
dem Asylbegehren geltend gemachten Gefahr erneuter Verfolgung dergestalt
besteht, dass bei Rückkehr mit einem Wiederaufleben der ursprünglichen Ver-
folgung zu rechnen ist oder das erhöhte Risiko einer gleichartigen Verfolgung
besteht“
(
vgl. insbesondere Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 -
BVerwGE 104, 97 Leitsatz
).
b) Nach den Feststellungen im Berufungsurteil besteht hier kein Zweifel, dass
die für die Flüchtlingsanerkennung des Klägers ausschlaggebende Annahme
des subjektiven Nachfluchttatbestands der Asylantragstellung in Deutschland
keinerlei Verknüpfung mit der nun bei einer Rückkehr in Betracht kommenden
Gefahr einer Verfolgung durch Private wegen des christlichen Glaubens auf-
weist. Dies gilt im Übrigen, wie in der Revisionsverhandlung erörtert, auch für
den im Anerkennungsverfahren seinerzeit sonst noch vorgebrachten, vom
Bundesamt als nicht asylbegründend bewerteten Verfolgungsvortrag des Klä-
gers. Der Senat weist hierzu aber darauf hin, dass im Widerrufsverfahren
grundsätzlich alle früher geltend gemachten Verfolgungsgründe, gleichgültig ob
sie im Anerkennungsbescheid abgelehnt oder sonst nicht berücksichtigt worden
sind - und auf die sich die Bestandskraft des Anerkennungsbescheids daher
nicht erstreckt -, unter dem Gesichtspunkt eines etwaigen Zusammenhangs mit
einer nunmehr drohenden Rückkehrverfolgung zu untersuchen sind, bevor die
Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs in Bezug auf die Rück-
kehrverfolgung ausgeschlossen werden kann.
c) Der Verwaltungsgerichtshof wird im erneuten Berufungsverfahren auch Ge-
legenheit haben, Feststellungen zu der bisher von ihm ohne nachvollziehbare
eigene Prüfung zugrunde gelegten Religionszugehörigkeit des Klägers nachzu-
holen, die auch das Verwaltungsgericht lediglich auf Angaben in der mündli-
chen Verhandlung gestützt hat.
6. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehal-
ten. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Hierzu weist der Senat
darauf hin, dass es sich bei der Klage gegen den Widerruf einer Flüchtlingsan-
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erkennung um ein Verfahren handelt, das „die Asylanerkennung einschließlich
der Feststellung der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG und die
Feststellung von Abschiebungshindernissen“ betrifft und bei dem der Gegen-
standswert deshalb 3 000 € beträgt, und nicht um „ein sonstiges Klageverfah-
ren“ (mit einem Gegenstandswert von nur 1 500 €), wie der Verwaltungsge-
richtshof wohl angenommen hat. Eine Abänderung der Entscheidung des Ver-
waltungsgerichtshofs kommt insoweit allerdings nicht in Betracht (vgl. § 33
RVG, der keine dem § 63 Abs. 3 GKG n.F., § 25 Abs. 2 GKG a.F. entspre-
chende Regelung enthält).
Eckertz-Höfer Hund Richter
Beck Prof. Dr. Dörig