Urteil des BVerwG vom 11.01.2012

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BVerwG 9 B 55.11
Rechtsquellen:
VwGO § 60
ZPO § 85 Abs. 2
Stichworte:
Beschwerdefrist; Versäumung; Verschulden; Wiedereinsetzung; Organisationsmangel;
Fristenkontrolle.
Leitsatz:
Die Berechnung der Frist für die Beschwerdeeinlegung nach § 133 Abs. 2 Satz 1 VwGO gehört -
anders als die Beschwerdebegründungsfrist nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO - zu den Fristen,
deren Überwachung einer zuverlässigen Büroangestellten übertragen werden darf. Die
Versäumung der Beschwerdefrist ist dem Prozessbevollmächtigten dann nicht zuzurechnen,
wenn sie auf dem Verschulden einer sonst zuverlässigen Büroangestellten beruht, ohne dass
ein Organisationsmangel hierfür ursächlich gewesen wäre. Ein Organisationsmangel liegt vor,
wenn nicht durch organisatorische Maßnahmen sichergestellt ist, dass der Tag des
Urteilseingangs dokumentiert und Beginn und Ende der Beschwerdefrist unverzüglich
eingetragen werden. Entsprechende organisatorische Maßnahmen sind insbesondere
erforderlich, wenn die Aufgaben der Posteingangs- und Fristenkontrolle im zeitlichen Wechsel
von verschiedenen Mitarbeitern wahrgenommen werden.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 55.11
VG Gelsenkirchen - 08.05.2009 - AZ: VG 2 K 2295/08
OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 07.04.2011 - AZ: OVG 14 A 1575/09
In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Januar 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. April 2011 wird
verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 273 208,09 €
festgesetzt.
Gründe
1 Die Beschwerde ist unzulässig. Denn sie ist nicht innerhalb der einmonatigen Frist gemäß §
133 Abs. 2 Satz 1 VwGO eingelegt worden. Dem Kläger ist auch nicht auf seinen Antrag hin
wegen der Versäumung der Beschwerdefrist gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand zu gewähren. Er hat nicht glaubhaft gemacht, dass seine
Prozessbevollmächtigten, deren Verhalten ihm gemäß § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §
85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist, ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert waren.
2 Die Prozessbevollmächtigten des Klägers haben mit dem Wiedereinsetzungsantrag unter
Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung vorgetragen, die für die Fristenkontrolle zuständige
Mitarbeiterin habe als Datum für den Beginn der Rechtsmittelfrist versehentlich den Tag nach
dem Eingang des Urteils notiert, weil ihr an diesem Tag das Urteil zur Fristenkontrolle vorgelegt
worden sei und sie das tatsächliche Eingangsdatum nicht wahrgenommen habe. Demzufolge
sei der Fristablauf auch einen Tag zu spät festgelegt worden. Rechtsanwalt E. sei die
Beschwerdeschrift erst an diesem Tag zur Unterschrift vorgelegt worden. Die zuständige
Mitarbeiterin sei im Wechsel mit anderen Mitarbeiterinnen für die Posteingangs- und
Fristenkontrolle zuständig gewesen. Ihre Arbeit habe keine Veranlassung zu Beanstandungen
gegeben. Die Rechtsanwälte der Kanzlei hätten sich darauf verlassen können, dass von ihr
bearbeitete und notierte Rechtsmittelfristen ordnungsgemäß gewesen seien.
3 Damit ist nicht glaubhaft gemacht, dass die Prozessbevollmächtigten des Klägers kein
Verschulden an der Versäumung der Beschwerdefrist trifft (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Zwar darf
der Rechtsanwalt die Bearbeitung prozessualer Fristen und damit auch die Fristenkontrolle
geschultem und bewährtem Büropersonal überlassen, wenn es sich um einfache, in dem Büro
geläufige Fristen handelt. Der Rechtsanwalt muss aber durch organisatorische Vorkehrungen
sicherstellen, dass die jeweilige Frist in geeigneter Form zuverlässig notiert wird (Beschlüsse
vom 26. Juni 1986 - BVerwG 3 C 46.84 - BVerwGE 74, 289 <293 f.> und vom 3. Dezember 2002
- BVerwG 1 B 429.02 - Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 24 S. 27). Er hat darauf zu achten, dass
unverzüglich nach Eingang eines fristauslösenden Schriftstücks Beginn und Ende der Frist in
das Fristenbuch oder den Fristenkalender eingetragen werden (Beschluss vom 29. November
2004 - BVerwG 5 B 105.04 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 255; BGH, Beschluss vom 5. Februar
2003 - VIII ZB 115/02 - NJW 2003, 1815 <1816>; vgl. auch Bier, in: Schoch/Schmidt-
Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand Juni 2011, § 60 Rn. 42). Die
Fristversäumung ist dem Prozessbevollmächtigten dann nicht zuzurechnen, wenn sie auf dem
Verschulden einer sonst zuverlässigen Büroangestellten beruht, ohne dass ein
Organisationsmangel hierfür ursächlich gewesen wäre.
4 Die Prozessbevollmächtigten des Klägers haben keine Tatsachen dargelegt, die den Schluss
zulassen, dass sie diesen Anforderungen genügt haben. Zwar gehört die Frist für die
Beschwerdeeinlegung nach § 133 Abs. 2 Satz 1 VwGO - anders als die
Beschwerdebegründungsfrist nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO - zu den Fristen, deren
Überwachung einer zuverlässigen Büroangestellten übertragen werden darf (vgl. Beschlüsse
vom 4. August 2000 - BVerwG 3 B 75.00 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 235 S. 23 und vom 18.
Juni 2009 - BVerwG 5 B 32.09 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 265 Rn. 2). Dem Vorbringen lässt
sich jedoch nicht entnehmen, durch welche organisatorischen Maßnahmen sichergestellt ist,
dass zugestellte Urteile unverzüglich und unter sorgfältiger Prüfung des Eingangsdatums im
Fristenbuch erfasst werden. Wie die Prozessbevollmächtigten unter Vorlage der eidesstattlichen
Versicherung der zuständigen Mitarbeiterin vorgetragen haben, wurde dieser das Urteil erst am
Tag nach dessen Eingang zur Fristeneintragung vorgelegt. Erst dadurch, verbunden mit dem
Fehlen eines Eingangsstempels auf dem Urteil selbst, konnte bei ihr der Eindruck entstehen,
dass das Urteil an diesem Tag eingegangen sei, weshalb sie die Fristberechnung entsprechend
vornahm. Aus dem Vorbringen ergibt sich jedoch nicht, dass der Eingang jedes fristauslösenden
Schriftstückes sofort durch einen Eingangsstempel oder eine entsprechende Eintragung zu
dokumentieren war. Ebenso wenig ist ihm zu entnehmen, dass Beginn und Ende der Frist
unverzüglich zu notieren waren und welche Vorkehrungen getroffen waren, um für den Fall, dass
dies ausnahmsweise nicht sofort erfolgen konnte, sicherzustellen, dass die Frist später richtig
eingetragen wurde. Derartige organisatorische Maßnahmen sind gerade dann erforderlich,
wenn, wie hier, die Aufgaben der Posteingangs- und Fristenkontrolle im zeitlichen Wechsel von
verschiedenen Mitarbeitern wahrgenommen werden. Die Eintragung in das Fristenbuch am Tag
nach dem Eingang legt den Schluss nahe, dass es keine solche Anweisung gab. Dass bisher
die Tätigkeit der zuständigen Mitarbeiterin zu keinerlei Beanstandungen veranlasst hat, gebietet
keine andere Beurteilung. Selbst wenn es bisher nicht zu Komplikationen bei Fristsachen
gekommen ist, belegt dies die Tauglichkeit der Büroorganisation für eine zuverlässige
Fristenkontrolle nicht.
5 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Wertes des
Streitgegenstands beruht auf § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 und 3 GKG. Dabei wird zugrunde gelegt,
dass im Beschwerdeverfahren nur noch die Vorauszahlungsfestsetzungen in den Bescheiden
vom 12. Dezember 2008 sowie der Bescheid vom 19. Dezember 2008 im Streit stehen.
Dr. Bier
Dr. Nolte
Buchberger