Urteil des BVerwG vom 26.06.2013

BVerwG: verdacht, öffentlichkeit, bundesamt, teleologische auslegung, verfassungsschutz, unterrichtung, rechtsextremismus, ermächtigung, verbreitung, kongress

BVerwG 6 C 4.12
Rechtsquellen:
BVerfSchG §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1, 16
Stichworte:
Verfassungsschutzbericht des Bundes; Bürgerbewegung pro Köln; Verdachtsfall;
Unterlassungsanspruch; Folgenbeseitigungsanspruch; tatsächliche Anhaltspunkte.
Leitsatz:
1. Das Bundesverfassungsschutzgesetz ermächtigt das Bundesministerium des Innern nicht, in
seinen Verfassungsschutzbericht auch solche Vereinigungen aufzunehmen, bei denen zwar
tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische
Grundordnung vorliegen, solche Bestrebungen aber noch nicht sicher festgestellt werden
können (sogenannte Verdachtsfälle).
2. In diesen Fällen darf der Verfassungsschutz die Vereinigung zwar weiter beobachten und
Informationen über sie sammeln, ihre Aufnahme in den Bericht ist aber noch nicht zulässig.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 6 C 4.12
VG Berlin - 16.09.2010 - AZ: VG 1 K 296.09
OVG Berlin-Brandenburg - 23.11.2011 - AZ: OVG 1 B 111.10
In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. Juni 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge, Dr. Graulich, Dr. Möller und
Prof. Dr. Hecker
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-
Brandenburg vom 23. November 2011 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin
vom 16. September 2010 geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, die weitere Verbreitung der Verfassungsschutzberichte
für die Jahre 2008, 2009 und 2010 zu unterlassen, wenn nicht zuvor die Passagen
über den Kläger entfernt oder unkenntlich gemacht werden.
Die Beklagte wird verurteilt, in ihrem nächsten Verfassungsschutzbericht richtig zu
stellen, dass die Aufnahme des Klägers in die Verfassungsschutzberichte der Jahre
2008, 2009 und 2010 unter den Rubriken „Rechtsextremistische Bestrebungen und
Verdachtsfälle“ bzw. „Rechtsextremismus“ unzulässig war.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I
1 Der Rechtsstreit betrifft die Frage der Zulässigkeit einer Berichterstattung im
Verfassungsschutzbericht des Bundes, wenn lediglich ein Verdacht verfassungsfeindlicher
Bestrebungen besteht.
2 Der Kläger ist ein Verein, der sich in der Stadt Köln an Kommunalwahlen beteiligt und seit
2004 mit einer Fraktion im Rat der Stadt Köln vertreten ist. In dem vom Bundesministerium des
Innern herausgegebenen Verfassungsschutzbericht 2008 wird in dem Kapitel
„Rechtsextremistische Bestrebungen und Verdachtsfälle“ über den Kläger berichtet. Unter den
Überschriften „VIII. Internationale Verbindungen“ und „2. Wahlkampfthema ‚Islamisierung
Europas’“ heißt es darin (S. 132 f.):
„Im Vorfeld der Europawahlen haben rechtsextremistische und rechtspopulistische Parteien in
mehreren Staaten der EU die von ihnen behauptete Gefahr einer drohenden ‚Islamisierung
Europas’ zum zentralen Agitationsthema gemacht. Durch das am 17. Januar 2008 in Antwerpen
(Belgien) gegründete Bündnis ‚Städte gegen Islamisierung’, dem als Hauptakteure der belgische
‚Vlaams Belang’ (VB), die ‚Freiheitliche Partei Österreichs’ (FPÖ) und die deutsche ‚Pro-
Bewegung’ angehören, sollen internationale Aktivitäten zur ‚Aufklärung der Öffentlichkeit’
geplant und koordiniert werden. Bereits Ende 2007 wurde erstmals im Internet berichtet, dass in
Köln ein internationaler ‚Kongress’ ausgerichtet werden sollte. Dessen Ziel sei es, einerseits
gegen ‚islamische Parallelgesellschaften’ sowie den Bau von Großmoscheen zu protestieren
und anderseits islamkritischen Gruppen und Verlagen ein Forum zu bieten. Die aufgrund
tatsächlicher Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen und im Hinblick auf die
internationale Anti-Islamisierungskampagne unter Beobachtung des Verfassungsschutzes
stehende ‚Bürgerbewegung pro Köln e.V.’ (‚pro Köln’) trat schließlich als Anmelder der für den
Zeitraum vom 19. bis 21. September 2008 geplanten Veranstaltung auf und kündigte
verschiedene Rahmenaktivitäten sowie eine Zentralkundgebung in der Kölner Innenstadt an.“
3 Einen weitgehend identischen Text enthielt bereits die im Internet veröffentlichte Vorabfassung
des Verfassungsschutzberichts 2008. Allerdings wurde der Kläger darin noch als „die
rechtsextremistische ‚Bürgerbewegung pro Köln’“ bezeichnet. Die gedruckte Version des
Verfassungsschutzberichts 2008 ist inzwischen vergriffen. In der weiterhin abrufbaren
Internetversion hat die Beklagte auf S. 133 neben der soeben zitierten Textpassage nachträglich
die fett gedruckte Randbemerkung „‚Bürgerbewegung pro Köln e.V.’ (Verdachtsfall)“ hinzugefügt.
4 Derartige Randbemerkungen enthalten auch Vorab- und Endfassung des
Verfassungsschutzberichts 2009, in denen der Kläger ebenfalls erwähnt wird. Im Wesentlichen
textgleich wird darin im Kapitel „Rechtsextremismus“ unter den Überschriften „IX. Internationale
Verbindungen“ und „2. Europaweite ‚Anti-Islamisierungskampagne’“ wiederum über das Bündnis
„Städte gegen Islamisierung“ und einen vom Kläger vom 8. bis 10. Mai 2009 organisierten „Anti-
Islamisierungs-Kongress“ berichtet (S. 118 f. der Vorabfassung, S. 135 der Endfassung).
5 Auch im Verfassungsschutzbericht 2010 wird der Kläger im Kapitel „Rechtsextremismus“
erwähnt. Unter „VII. Internationale Verbindungen“ wird er erneut als Partner des Bündnisses
„Städte gegen Islamisierung“ angesprochen und es wird über einen „Anti-Minarett-Kongress“
berichtet, zu dem der Kläger gemeinsam mit der „Bürgerbewegung pro NRW“ vom 26. bis 28.
März 2010 eingeladen habe (S. 124). Der Text ist mit der fett gedruckten Randbemerkung
„‚Bürgerbewegung pro Köln e.V. / ‚Bürgerbewegung pro NRW’ (Verdachtsfall)“ versehen.
6 Der Kläger hat gegen seine Erwähnung in der Vorabfassung des Verfassungsschutzberichts
2008 beim Verwaltungsgericht Klage erhoben, in die er nachträglich die Endfassung des
Verfassungsschutzberichts 2008 sowie Vorab- und Endfassung des Verfassungsschutzberichts
2009 einbezogen hat. Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in Bezug auf die Vorabfassung
des Verfassungsschutzberichts 2008 übereinstimmend für erledigt erklärt hatten, hat das
Verwaltungsgericht das Verfahren insoweit eingestellt; im Übrigen hat es die auf Unterlassung
der Verbreitung der Verfassungsschutzberichte ohne vorherige Entfernung oder
Unkenntlichmachung der Passagen über den Kläger sowie auf Richtigstellung im nächsten
Verfassungsschutzbericht gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers, der im
Berufungsverfahren auch noch die Endfassung des Verfassungsschutzberichts 2010 in seine
Klage einbezogen hat, hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen und zur Begründung
u.a. ausgeführt, die Erwähnung des Klägers in den Verfassungsschutzberichten als
Verdachtsfall für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Bereich
des Rechtsextremismus sei durch § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG gedeckt. Zwar lasse der
Wortlaut dieser Vorschrift offen, ob eine Berichterstattung nur bei festgestellten
verfassungsfeindlichen Bestrebungen und Tätigkeiten im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 4
BVerfSchG oder auch schon bei einem dahingehenden Verdacht in Betracht komme. Für die
Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung sprächen jedoch systematischer Zusammenhang,
Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG. Eine
Berichterstattung sei zulässig, sofern das Bundesamt für Verfassungsschutz zur Aufklärung
verfassungsfeindlicher Bestrebungen und Tätigkeiten tätig geworden sei und habe tätig werden
dürfen, was nach § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte, d.h.
einen entsprechenden Verdacht voraussetze. Eine Verdachtsberichterstattung entspreche auch
dem Sinn und Zweck des Verfassungsschutzberichts, die Öffentlichkeit aufzuklären und zu
warnen.
7 Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision des
Klägers, zu deren Begründung er u.a. vorträgt, § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG ermächtige
ausweislich seines Wortlauts nur zur Berichterstattung über Bestrebungen und Tätigkeiten,
deren verfassungsfeindlicher Charakter erwiesen sei. Eine Berichterstattung über bloße
Verdachtsfälle sei auch deshalb rechtswidrig, weil deren Unterscheidung von den erwiesenen
Fällen in der Öffentlichkeit nicht nachvollzogen werde. Sämtliche von der Berichterstattung
betroffene Organisationen würden unterschiedslos als „im Verfassungsschutzbericht erwähnt“
apostrophiert. Im Übrigen lägen bei ihm, dem Kläger, keine tatsächlichen Anhaltspunkte für
gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen vor. Zu dieser
Grundordnung habe er sich stets und ausdrücklich bekannt.
8 Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils des OVG Berlin-Brandenburg vom 23. November
2011, zugestellt am 19. Januar 2012,
1. die Beklagte zu verurteilen, die weitere Verbreitung des Verfassungsschutzberichts für die
Jahre 2008, 2009 und 2010 zu unterlassen, wenn nicht zuvor die Passagen über den Kläger
entfernt oder unleserlich gemacht werden,
2. die Beklagte zu verurteilen, in ihrem nächsten Verfassungsschutzbericht richtig zu stellen,
dass der Bericht über den Kläger in den Rubriken „Rechtsextremistische Bestrebungen und
Verdachtsfälle“ bzw. „Rechtsextremismus“ in den Verfassungsschutzberichten 2008, 2009 und
2010 rechtswidrig waren.
9 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
10 Sie verteidigt das angefochtene Urteil und trägt weitergehende gesetzessystematische,
entstehungsgeschichtliche und teleologische Erwägungen zu § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG vor.
II
11 Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt
Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO) und stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§
144 Abs. 4 VwGO). Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ermächtigt § 16 Abs.
2 Satz 1 BVerfSchG das Bundesministerium des Innern nicht dazu, die Öffentlichkeit im
Verfassungsschutzbericht über solche Vereinigungen zu unterrichten, bei denen zwar
tatsächliche Anhaltspunkte für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete
Bestrebungen (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG) vorliegen - d.h. ein entsprechender Verdacht
begründet ist -, solche Bestrebungen aber noch nicht mit Gewissheit festgestellt werden können
(unten 1.). Dem Kläger stehen daher die geltend gemachten Ansprüche auf Unterlassung und
Folgenbeseitigung zu (unten 2.). Weil die Klage bereits deshalb begründet ist, bedarf es keiner
Entscheidung darüber, ob überhaupt - wie die Vorinstanz angenommen hat - tatsächliche
Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen des Klägers im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr.
1 BVerfSchG vorliegen.
12 1. Gemäß § 16 Abs. 1 BVerfSchG unterrichtet das Bundesamt für Verfassungsschutz das
Bundesministerium des Innern über seine Tätigkeit. Gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG dient
diese Unterrichtung „auch der Aufklärung der Öffentlichkeit durch das Bundesministerium des
Innern über Bestrebungen und Tätigkeiten nach § 3 Abs. 1, die mindestens einmal jährlich in
einem zusammenfassenden Bericht erfolgt“. Die vorinstanzliche Auslegung, wonach diese Norm
das Bundesministerium des Innern auch zur Unterrichtung über den bloßen Verdacht
verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG ermächtigt,
überschreitet zwar in materieller Hinsicht nicht den verfassungsrechtlich gesteckten Rahmen.
Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2005 in dem Verfahren über
die Verfassungsbeschwerde der „Junge Freiheit“ stehen bei entsprechender gesetzlicher
Ermächtigung verfassungsrechtliche Bedenken einer Unterrichtung der Öffentlichkeit über
Verdachtsfälle nicht entgegen, sofern die tatsächlichen Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche
Bestrebungen hinreichend gewichtig sind, um die Veröffentlichung in
Verfassungsschutzberichten auch angesichts der nachteiligen Auswirkungen auf die Betroffenen
zu rechtfertigen (BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2005 - 1 BvR 1072/01 - BVerfGE 113, 63 <80
ff.>). § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG lässt sich jedoch nicht mit der gebotenen Bestimmtheit
entnehmen, dass er tatsächlich in formeller Hinsicht eine entsprechende Ermächtigung
ausspricht, d.h. das Bundesministerium des Innern über die - eindeutig von der Norm erfassten -
Fälle hinaus, in denen Gewissheit über verfassungsfeindliche Bestrebungen besteht, auch zur
Berichterstattung in Fällen befugt, in denen tatsächliche Anhaltspunkte erst einen
dahingehenden Verdacht begründen.
13 a. Eine Auslegung von § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG dahingehend, dass eine
Berichterstattung bereits im Verdachtsfall zulässig sein soll, wird durch den Wortlaut des
Gesetzes nicht gestützt. Gegenstand des Verfassungsschutzberichtes sind danach
„Bestrebungen im Sinne von § 3 Abs. 1“, d.h. Bestrebungen, die gegen die freiheitlich
demokratische Grundordnung gerichtet „sind“ (vgl. § 3 Abs. 1 BVerfSchG). Die plausibelste
Lesart der Norm ist diejenige, dass die Befugnis zur Berichterstattung erst dann einsetzen soll,
wenn das Vorliegen der in § 3 Abs. 1 BVerfSchG aufgeführten Tatbestandsmerkmale einer
„Bestrebung“ tatsächlich feststeht. § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG weicht in seinem Wortlaut von
Parallelnormen in einigen Landesgesetzen ab, die ausdrücklich bereits das Vorliegen bloßer
tatsächlicher Anhaltspunkte für solche Bestrebungen als Berichtsgegenstand kennzeichnen (vgl.
z.B. Art. 15 Satz 1 BayVerfSchG, § 9 Abs. 3 Satz 1 HessVerfSchG). Auch etwa im Vergleich zu §
15 Abs. 2 VerfSchG NRW, über den das Bundesverfassungsgericht in seinem o.g. Beschluss
zum Fall der „Junge Freiheit“ zu befinden hatte, offenbart sich insofern ein Unterschied, als die
von dieser Vorschrift in Bezug genommene Norm des § 3 Abs. 1 VerfSchG NRW an ihrem Ende
die Wendung enthält „soweit tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht solcher Bestrebungen
und Tätigkeiten vorliegen“. Einen Verweis auf § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG, der für die
Informationssammlung und -auswertung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz das
Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte hinreichen lässt, enthält § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG im
Hinblick auf die dort begründete Unterrichtungsbefugnis des Bundesministeriums des Innern
nicht.
14 b. Eine weitergehende Auslegung ist nicht aufgrund gesetzessystematischer Erwägungen
geboten.
15 aa. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die Verbindung zwischen § 16 Abs. 1 und § 16 Abs. 2
BVerfSchG.
16 Die Unterrichtung des Bundesministeriums des Innern durch das Bundesamt für
Verfassungsschutz über dessen Tätigkeit gemäß § 16 Abs. 1 BVerfSchG schließt auch die
Unterrichtung über die Befassung des Bundesamts mit Fällen des bloßen Verdachts
verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Sinne von § 3 Abs. 1 BVerfSchG ein, die ausweislich
von § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG von seinem Tätigkeitskreis mit umfasst ist. § 16 Abs. 1
BVerfSchG ist keine Eingrenzung dahingehend zu entnehmen, dass insoweit die Tätigkeit des
Bundesamtes von der Unterrichtung des Bundesministeriums auszunehmen wäre. Eine solche
Eingrenzung wäre mit der umfassenden Ressortverantwortung des Bundesministeriums für das
Bundesamt (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG) auch nicht in Einklang zu bringen. Auf Grundlage
von Unterrichtungen durch das Bundesamt erstellt das Bundesministerium den
Verfassungsschutzbericht. Wenn § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG dies ausdrücklich anspricht,
wird hiermit ein einleuchtender arbeitsfunktionaler Zusammenhang herausgestellt; das
Ministerium wäre ohne informatorische Zuarbeiten durch das Bundesamt naturgemäß nicht in
der Lage, den Verfassungsschutzbericht zu erstellen. Dass die interne Unterrichtung durch das
Bundesamt gemäß § 16 Abs. 1 BVerfSchG darüber hinaus weiteren Zwecken dient -
insbesondere der Vorbereitung parlamentarischer Unterrichtungen durch das Ministerium (§ 4
Abs. 1 PKGrG) sowie der fachaufsichtlichen Kontrolle und Steuerung der Tätigkeit des
Bundesamtes -, liegt auf der Hand. Die fehlende ausdrückliche Erwähnung dieser weiteren
Zwecke im Gesetz gebietet freilich nicht den Rückschluss, der Gesetzgeber habe speziell dem
von ihm herausgestellten arbeitsfunktionalen Zusammenhang zwischen den in beiden Absätzen
von § 16 BVerfSchG geregelten Unterrichtungsprozessen irgendeine weitergehende normative
Bedeutung beimessen wollen. Insbesondere ist die Annahme verfehlt, der Gesetzgeber habe
hier - gewissermaßen versteckt - zum Ausdruck bringen wollen, die Berichtsbefugnis des
Bundesministeriums gegenüber der Öffentlichkeit sei im Prinzip auf sämtliche Angaben erstreckt,
die ihm durch das Bundesamt zuvor intern zugeliefert wurden. Diese Annahme liegt deshalb
fern, weil sich zwischen beiden Unterrichtungsprozessen im Hinblick auf ihre
aufgabensystematische Funktion sowie im Hinblick auf die mit ihnen verbundenen rechtlichen
Wirkungen gegenüber den betroffenen Bürgern bzw. Gruppierungen offenkundig wertungsmäßig
bedeutsame Unterschiede auftun. Hätte der Gesetzgeber hierüber tatsächlich hinwegsehen
wollen, hätte es nahegelegen, dies im Text der Norm unzweideutig kenntlich zu machen, um auf
diese Weise die sich andernfalls nach dem oben Gesagten aufgrund des Verweises auf § 3 Abs.
1 BVerfSchG aufdrängende Lesart auszuschalten, Berichtsgegenstand für das
Bundesministerium seien lediglich Bestrebungen, die gegen die freiheitlich-demokratische
Grundordnung gerichtet sind.
17 bb. Soweit die Beklagte vorträgt, die Bezugnahme auf § 3 Abs. 1 BVerfSchG in § 16 Abs. 2
Satz 1 BVerfSchG könne deshalb keine befugnisrechtliche Relevanz haben, weil sie lediglich
dazu diene, die Tätigkeitsfelder des Bundesamtes nach § 3 Abs. 2 BVerfSchG aus dem
Verfassungsschutzbericht auszugrenzen, vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Das § 16
Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG erkennbar zugrundeliegende Konzept eines „Verfassungsschutzes
durch Aufklärung“ kann hinsichtlich dieser Tätigkeitsfelder nicht zum Tragen kommen. Sie
bedurften daher nicht eigens der Ausgrenzung. Dass der Bezugnahme auf § 3 Abs. 1 BVerfSchG
eine befugnisrechtliche Relevanz nicht abgesprochen werden darf, folgt zudem daraus, dass
andernfalls die Frage vollständig offenbliebe, unter welchen Voraussetzungen die
Berichterstattung gegenüber der Öffentlichkeit dann zulässig sein sollte. Dass sich diese Frage
nicht überzeugend unter Rückgriff auf die Verbindung zwischen den Absätzen 1 und 2 des § 16
BVerfSchG beantworten lässt, wurde bereits dargelegt.
18 cc. Der Umstand, dass die Kategorie der erwiesenen Verfassungsfeindlichkeit für das Gesetz
kein systemprägendes Gewicht aufweist - zentrale befugnisrechtliche Kategorie ist das
Vorliegen „tatsächlicher Anhaltspunkte“ im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG -, gebietet
gleichfalls keine weitergehende Auslegung von § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG. Die
Befugnisnormen des Gesetzes sind auf die nachrichtendienstliche Sammlungs- und
Auswertungsfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz zugeschnitten, die ohne eine
Absenkung der Eingriffsberechtigung auf die Schwelle des bloßen Verdachts keine Wirksamkeit
entfalten kann. Für die in § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG geregelte ministerielle Aufklärung der
Öffentlichkeit gelten andere Bedingungen. Sie kann auch dann Wirksamkeit entfalten, wenn das
Ministerium hierbei auf einer stärker abgesicherten Informationsbasis vorzugehen hat.
19 c. Die Entstehungsgeschichte von § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG ist im vorliegenden
Zusammenhang unergiebig.
20 In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es zu der vorgesehenen
Öffentlichkeitsunterrichtung durch das Bundesministerium des Innern (BTDrucks 11/4306 S. 62):
„Die höchstrichterliche Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 40, 287 (292 f.)) hat ausdrücklich
anerkannt, dass die Bundesregierung berechtigt ist, sich öffentlich mit Verfassungsfeinden unter
Verwendung von Informationen des Bundesamts für Verfassungsschutz politisch
auseinanderzusetzen. Dies entspricht der heutigen Praxis, wie sie zum Beispiel in den
jährlichen Verfassungsschutzberichten des Bundesinnenministeriums ihren Niederschlag
gefunden hat. Die öffentliche Bekanntgabe personenbezogener Informationen ist nach Absatz 2
nur zulässig, wenn eine Abwägung ergibt, daß Interessen des Betroffenen nicht berührt sind
oder daß das Allgemeininteresse im konkreten Fall überwiegt.“
21 Diese Passage verdeutlicht den Wunsch der Entwurfsverfasser, die bislang ohne
ausdrückliche Ermächtigung geübte Praxis jährlicher Verfassungsschutzberichte künftig auf
gesetzesnormativer Grundlage fortgesetzt zu sehen. Zu der speziellen Frage, ob eine
Berichterstattung bereits im Vorfeld erwiesener Verfassungsfeindlichkeit einer Bestrebung
zulässig sein soll, verhält sich die Passage nicht; die Verwendung des Begriffs
„Verfassungsfeinde“ spricht zumindest nicht dafür.
22 Dass - wie die Beklagte behauptet - für die Berichtspraxis vor Gesetzeserlass der Einschluss
einer Berichterstattung über Verdachtsfälle kennzeichnend gewesen sein soll, wird durch das in
der Revisionserwiderung der Beklagten angeführte Vorwort zum Verfassungsschutzbericht 1989
nicht belegt. Dort heißt es:
„Der vorliegende Bericht faßt die Ergebnisse der Arbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz
im Jahr 1989 zusammen. Er ... ist als Orientierungshilfe für die politische Auseinandersetzung,
nicht als eine abschließende juristische Würdigung zu verstehen. Dies gilt insbesondere für die
Bewertung der von verfassungsfeindlichen Kräften beeinflußten Organisationen. Die Erwähnung
einer Organisation im Bericht läßt noch keine Rückschlüsse auf die Verfassungstreue der
einzelnen Mitglieder solcher Vereinigungen zu.“
23 Hieraus tritt zutage, dass in der vormaligen Berichtspraxis eine Berichterstattung über
Organisationen erfolgte, die - ohne selbst verfassungsfeindliche Bestrebungen zu verfolgen - von
verfassungsfeindlichen Kräften beeinflusst wurden. Damit ist ein anderer Sachverhalt als der hier
in Rede stehende umschrieben. Ohne durchgreifenden Aussagewert für den hiesigen
Problemkreis ist darüber hinaus die Bemerkung, der Bericht sei nicht als „abschließende
juristische Würdigung“ zu verstehen. Aus ihr kann nicht entnommen werden, dass die
Berichterstattung früher Fälle einschloss, in denen ein bloßer Verdacht verfassungsfeindlicher
Bestrebungen besteht. Naheliegender ist die Annahme, dass mit ihr zum Ausdruck gebracht
werden sollte, die Berichterstattung beschränke sich auf die Darstellung von Beobachtungs- und
Bewertungsergebnissen, ohne die jeweils im Einzelnen zugrunde liegenden empirischen
Begebenheiten aufzuführen.
24 Entgegen der Auffassung der Beklagten lässt sich schließlich für die hier betroffene Frage
aus dem Umstand nichts ableiten, dass im Gesetzgebungsverfahren ein Änderungsantrag keine
Mehrheit fand, der darauf abzielte, die Berichterstattung durch das Bundesministerium des
Innern auf Bestrebungen zu beschränken, bei denen „gerichtsverwertbare Beweise für das
Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 vorliegen“ (BTDrucks 11/7235 S. 105 f.). Der
Begriff der „Gerichtsverwertbarkeit“ spricht dafür, dass die Antragsteller eine Berichterstattung in
Fällen ausschließen wollten, in denen die verfassungsschutzrechtliche Bewertung einer
Bestrebung sich auf Beweismittel stützen würde, die - insbesondere aus
Geheimhaltungsgründen - in das gerichtliche Verfahren nicht unmittelbar eingebracht werden
können. Unabhängig davon wäre selbst bei Annahme des Änderungsantrags die Frage nicht
obsolet geworden, ob infolge der Bezugnahme auf die „Voraussetzungen des § 3 Abs. 1“ Fälle
eingeschlossen sein sollen, in denen lediglich ein Verdacht für das Vorliegen der in dieser
Vorschrift aufgeführten Tatbestandsmerkmale begründet ist.
25 d. Auch die teleologische Auslegung führt zu keinem anderen Ergebnis. Zweifelsohne erhöht
sich die Wirkmacht des Verfassungsschutzes als „Frühwarnsystem der Demokratie“ in gewisser
Hinsicht, wenn die Öffentlichkeit bereits über Verdachtsfälle unterrichtet wird. Andererseits ist
hiermit die Gefahr voreiliger, sich nach intensiverer Informationssammlung im Nachhinein als
unberechtigt erweisender öffentlicher Stigmatisierung und damit einer zum Schutz der
Verfassung nicht erforderlichen, demokratiestaatlich sogar kontraproduktiven Verzerrung des
politischen Wettbewerbs verbunden. Weder § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG noch anderen
Vorschriften des Gesetzes kann entnommen werden, ob bzw. mit welchem Ergebnis der
Gesetzgeber diese gegenläufigen Aspekte gewichtet und untereinander abgewogen hat.
26 2. Ergibt sich somit aus § 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG keine Befugnis der Beklagten,
Vereinigungen bereits bei Verdacht ihrer Verfassungsfeindlichkeit in den
Verfassungsschutzbericht aufzunehmen, hat die Beklagte durch die hier streitbefangene
Berichterstattung über den Kläger in dessen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 GG
eingegriffen, ohne sich hierfür auf eine für einen solchen Eingriff erforderliche gesetzliche
Ermächtigung stützen zu können (vgl. Urteil vom 21. Mai 2008 - BVerwG 6 C 13.07 - BVerwGE
131, 171 = Buchholz 402.7 BVerfSchG Nr. 11 jew. ). Hieraus folgt zum einen, dass
der Kläger von der Beklagten verlangen kann, die weitere Verbreitung der streitbefangenen
Berichte - in welcher Form auch immer - nur mit der Maßgabe vorzunehmen, dass zuvor die
Passagen über den Kläger entfernt oder unleserlich gemacht werden. Da die gegenüber dem
Kläger begangene Rechtsverletzung hiermit hinsichtlich ihrer - in der Vergangenheit bereits
eingetretenen Folgen - allerdings noch nicht vollständig beseitigt wird, hat die Beklagte darüber
hinaus in ihrem nächsten Jahresbericht nach Maßgabe des Tenors richtig zu stellen, dass die
Aufnahme des Klägers in den streitbefangenen Berichten unzulässig war.
27 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Neumann
Büge
Dr. Graulich
Dr. Möller
Prof. Dr. Hecker