Urteil des BVerwG vom 07.09.2011

BVerwG: rechtliches gehör, treu und glauben, grundsatz der unmittelbarkeit, verwirkung, abnahme, baustelle, verfahrensmangel, absicht, gehalt, link

BVerwG 9 B 66.11
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 66.11
Hessischer VGH - 18.05.2011 - AZ: VGH 5 A 2497/09
In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. September 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen und Dr. Christ
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. Mai 2011 wird
zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Kläger.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 3 042,04 €
festgesetzt.
Gründe
1 Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben.
2 1. Das Beschwerdevorbringen lässt nicht erkennen, dass die angefochtene Entscheidung auf
einem Verfahrensmangel beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
3 a) Entgegen der Ansicht der Beschwerde ist die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht
deswegen verfahrensfehlerhaft, weil der Verwaltungsgerichtshof, nachdem er die Beteiligten
hierzu angehört hat, über die Berufung ohne mündliche Verhandlung im vereinfachten Verfahren
gemäß § 130a VwGO entschieden hat.
4 Ob ein Berufungsgericht den ihm gemäß § 130a VwGO eröffneten Weg einer Entscheidung im
Beschlussverfahren beschreitet, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen, das grundsätzlich
nur auf sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzungen überprüfbar ist; dabei ist
insbesondere die Schwierigkeit der Sache ein im Rahmen der Ermessensausübung zu
berücksichtigender wesentlicher Gesichtspunkt (stRspr, vgl. Urteil vom 30. Juni 2004 - BVerwG
6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <213 f.> = Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 64 S. 52 f. und
Beschluss vom 27. Januar 2011 - BVerwG 3 B 63.10 - NJW 2011, 1830 Rn. 8). Hiernach erweist
sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs für das Beschlussverfahren gemäß § 130a
VwGO nicht als sachfremd oder grob fehlerhaft, insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der
Streitfall einen außergewöhnlichen Schwierigkeitsgrad aufwies. Dass der Kläger einer
Entscheidung gemäß § 130a VwGO ausdrücklich widersprochen hat, ist unerheblich.
5 Der Verwaltungsgerichtshof war - entgegen der Ansicht der Beschwerde - nicht deshalb an
einem Vorgehen gemäß § 130a VwGO gehindert, weil er die Frage der Verjährung der
streitgegenständlichen Straßenbeitragsforderung ohne erneute Anhörung der vom
Verwaltungsgericht zur Frage der Abnahme der Baumaßnahme gehörten Zeugen beurteilt hat,
und zwar mit gegenteiligem Ergebnis als das Verwaltungsgericht. Darin liegt insbesondere kein
Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 VwGO).
6 Eine in der Vorinstanz durchgeführte Beweisaufnahme braucht vom Rechtsmittelgericht
grundsätzlich nicht wiederholt zu werden. Namentlich für den Zeugenbeweis folgt aus § 98
VwGO i.V.m. § 398 Abs. 1 ZPO, wonach die erneute Zeugenvernehmung im Ermessen des
Gerichts steht, dass ein bereits in der ersten Instanz gehörter Zeuge nicht stets in der
Berufungsinstanz erneut zu vernehmen ist. Das Berufungsgericht darf seine Entscheidung
vielmehr grundsätzlich ohne erneute Vernehmung auf das Ergebnis der erstinstanzlichen
Beweisaufnahme stützen (vgl. Beschlüsse vom 11. November 1991 - BVerwG 7 B 123.91 - juris
Rn. 3 und vom 6. Januar 2011 - BVerwG 4 B 51.10 - juris Rn. 16; Geiger, in: Eyermann, VwGO,
13. Aufl. 2010, § 96 Rn. 8). Zur erneuten Beweisaufnahme verpflichtet ist das Berufungsgericht
dagegen, wenn es an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen
Feststellungen der Vorinstanz zweifelt, insbesondere wenn es die Glaubwürdigkeit eines
Zeugen abweichend vom Erstrichter beurteilen will (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom
22. November 2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487). Das ist hier nicht der Fall. Der
Verwaltungsgerichtshof hat weder die Richtigkeit noch die Vollständigkeit der Feststellungen
des Verwaltungsgerichts noch die Glaubwürdigkeit der Zeugen angezweifelt, sondern ist von der
im erstinstanzlichen Urteil niedergelegten Tatsachengrundlage ausgegangen, namentlich von
den vom Verwaltungsgericht im Ortstermin vom 7. November 2008 protokollierten Feststellungen
und Bekundungen sowie von den Aussagen der in der mündlichen Verhandlung vom 25.
November 2008 vernommenen (sachverständigen) Zeugen. Der Verwaltungsgerichtshof hat
aber dahin erkannt, dass diese Tatsachenfeststellungen nicht die vom Verwaltungsgericht
gezogene rechtliche Schlussfolgerung tragen. Er hat bei gleicher Tatsachengrundlage diese
lediglich rechtlich anders beurteilt.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat entscheidungstragend angenommen, dass die
Beitragsforderung der Beklagten bei Erlass des angefochtenen Bescheides noch nicht verjährt
war. Die streitgegenständliche Straße sei nicht bereits im Dezember 2001 fertiggestellt gewesen.
Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts sei die im Dezember 2001 erfolgte Begehung
der Baustelle noch keine förmliche Abnahme im Rechtsinne gewesen. Der
Verwaltungsgerichtshof hat dies eingehend und u.a. damit begründet (BA S. 10 ff.), dass es
bereits an den entsprechenden formellen Voraussetzungen fehle, namentlich an einem
schriftlichen Abnahmebefund, dass die bei der erwähnten Begehung besprochenen Punkte (u.a.
betreffend die noch ausstehenden Arbeiten am Straßenbegleitgrün) im Verlauf der ersten
Jahreshälfte 2002 erledigt und im Wesentlichen durch Rechnung des Bauunternehmers vom 30.
August 2002 besonders berechnet worden seien. Dieses Ergebnis sei - ungeachtet von
Unterschieden im Detail - auch von den vom Verwaltungsgericht vernommenen Zeugen bestätigt
worden. Anhaltspunkte dafür, dass die Baumaßnahme schon abgeschlossen sein sollte und die
im Dezember 2001 übersandte Rechnung des Bauunternehmers bereits die Schlussrechnung
darstellen sollte, ergäben sich aus keiner der Aussagen; vielmehr hätten die Zeugen
übereinstimmend bekundet, dass diese Rechnung wegen der zum Jahresende anstehenden
Währungsumstellung von DM auf Euro erteilt worden sei. Der maßgebliche Unterschied
zwischen den Entscheidungen von Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof liegt - bei
gleicher Tatsachengrundlage - mithin darin, dass Letzterer die Begehung der Baustelle im
Dezember 2001 rechtlich als bloße Teilabnahme gewertet hat, weil das, was bei dieser
Begehung als für eine vollständige Fertigstellung gemäß Bauprogramm noch fehlend festgestellt
wurde, nicht abgenommen sein könne. Diese allein in rechtlicher Hinsicht abweichende
Beurteilung der Zeugenaussagen und der vorliegenden Rechnungen durch den
Verwaltungsgerichtshof liegt - noch - innerhalb der nach den dargestellten Maßstäben einem
Berufungsgericht gezogenen verfahrensrechtlichen Grenzen. Daher liegt in der fehlenden
Vernehmung der von der Beschwerde genannten Zeugen durch den Verwaltungsgerichtshof
auch keine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO).
8 b) Ein Verfahrensfehler durch Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2
VwGO) liegt ebenfalls nicht vor.
9 aa) Da der Verwaltungsgerichtshof seine Auffassung zur Frage der Verjährung den Beteiligten
bereits im Beschluss vom 18. August 2009 über die Zulassung der Berufung dargelegt hat, stellt
die Berufungsentscheidung auch unter dem Gesichtspunkt des Verbots einer
Überraschungsentscheidung keinen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör dar
(vgl. dazu BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Juni 2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524).
10 bb) Die Beschwerde rügt ferner, dass der Verwaltungsgerichtshof einem Antrag des Klägers
auf Akteneinsicht in beigezogene bzw. noch beizuziehende Verwaltungs- und Gerichtsakten
nicht entsprochen hätte. Dieser Vorwurf ist nach Aktenlage unzutreffend. Nachdem sich der
jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof
bestellt und mit Schriftsatz vom 15. Februar 2011 um Zurverfügungstellung näher bezeichneter
Unterlagen gebeten hatte, sind ihm im Parallelverfahren 5 A 2499/09 auf richterliche Anordnung
vom 16. Februar 2011 unter demselben Datum sämtliche zu diesem Verfahren beigezogenen
Verwaltungsvorgänge und eine weitere Gerichtsakte übersandt worden; gleichzeitig wurde ihm
mitgeteilt, dass der Senat für eine Beiziehung weiterer Unterlagen derzeit keinen Anlass sehe.
Selbst wenn hiernach der Umfang der Aktenüberlassung bzw. -beiziehung dem Wunsch des
Klägers nicht vollständig entsprach, wäre es Sache des Klägers gewesen, substantiiert darzutun,
dass und warum er die Beiziehung weiterer Unterlagen für erforderlich hielt, und dies beim
Verwaltungsgerichtshof einzufordern. Dies hat der Kläger indes nicht getan; weder bei der
Rückübersendung der übersandten Akten (Schriftsatz vom 17. März 2011) noch in dem weiteren
Schriftsatz an den Verwaltungsgerichtshof vom 29. April 2011 ist er hierauf zurückgekommen.
Ein Gehörsverstoß bzw. eine Verletzung des Akteneinsichtsrechts nach § 100 VwGO liegt nicht
vor, wenn der Betroffene es im vorinstanzlichen Verfahren selbst in der Hand hatte, den nunmehr
behaupteten Verfahrensmangel zu vermeiden.
11 cc) Der wesentliche Gehalt der klägerischen Ausführungen im Schriftsatz vom 29. April 2011
zu weiteren Einwänden gegen die Beitragserhebung, ist im angefochtenen Beschluss unter I.
der Gründe (BA ab S. 4 unten) aufgeführt, vom Verwaltungsgerichtshof also zur Kenntnis
genommen und unter II. der Gründe beschieden worden, soweit der Verwaltungsgerichtshof sie
für entscheidungserheblich gehalten hat. Eine weitergehende Befassung mit Einzelaspekten der
Grundstücke der zur Beitragszahlung herangezogenen Straßenanlieger hat er aufgrund seiner
rechtlichen Beurteilung nicht für erforderlich gehalten. Auch insoweit ist für eine Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör nichts ersichtlich. Denn dieser verpflichtet ein Gericht nicht, in
der zu treffenden Entscheidung auf jedwedes Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich
einzugehen und dieses im Einzelnen zu bescheiden, namentlich wenn es das Vorbringen aus
Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen
durfte (stRspr, vgl. etwa die Beschlüsse vom 22. Mai 2006 - BVerwG 10 B 9.06 - NJW 2006,
2648 <2650> und vom 23. Juni 2008 - BVerwG 9 VR 13.08 - NVwZ 2008, 1027 <1028>, jeweils
m.w.N.).
12 dd) Entgegen der Ansicht der Beschwerde war der Verwaltungsgerichtshof auch nicht zu
weiteren rechtlichen Hinweisen (§ 86 Abs. 3 VwGO) an den Kläger verpflichtet. Angesichts der
rechtlichen Ausführungen im Beschluss über die Zulassung der Berufung vom 18. August 2009
und im Vergleichsvorschlag des Berichterstatters vom 29. November 2010, ferner angesichts des
Anhörungsschreibens gemäß § 130a VwGO vom 28. März 2011 sowie der Mitteilung vom 2. Mai
2011, dass auch in Ansehung des klägerischen Schriftsatzes vom 29. April 2011 an der Absicht
festgehalten werde, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden, bestand für weitere Hinweise kein
Anlass.
13 2. Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO) scheidet ebenfalls aus.
14 Insoweit genügt das Beschwerdevorbringen trotz seines Umfangs nicht den
Darlegungsanforderungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), weil es sich in der Art eines
zulassungsfreien oder zugelassenen Rechtsmittels in Angriffen gegen die tatsächliche und
rechtliche Beurteilung des Streitfalls durch den Verwaltungsgerichtshof erschöpft, ohne
bestimmte, höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfragen des revisiblen Rechts von
allgemeiner, über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung zu formulieren (vgl. Beschluss vom
19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14). Dafür
genügt nicht der bloße Hinweis, dass „die Frage der Verjährung und der Verwirkung sowie die
Kompensation, Treu und Glauben und Unbilligkeit (…) straßenbeitragsrechtlich nicht
ausreichend durch die Rechtsprechung geklärt“ seien, was durch die Ausführungen der
Beschwerde verdeutlicht werde (Beschwerdebegründung S. 32 unten). Einer Befassung mit den
genannten Fragen in einem Revisionsverfahren steht im Übrigen entgegen, dass sie nicht
revisibles Recht betreffen, weil sich die Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Straßenbeitragsbescheids nach hessischem Landesrecht (§ 11 HessKAG) richtet. Dies gilt auch
für die durch den Rechtsanwendungsbefehl in § 4 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b HessKAG in Bezug
genommenen Verjährungsvorschriften der Abgabenordnung sowie für die in Ergänzung des
Landesrechts angewandten allgemeinen Rechtsgrundsätze von Treu und Glauben und der
Verwirkung; sie alle werden dadurch Teil des irrevisiblen Landesrechts (stRspr, vgl. Urteil vom
19. März 2009 - BVerwG 9 C 10.08 - Buchholz 406.11 § 133 BauGB Nr. 135 S. 8 und Beschluss
vom 1. April 2004 - BVerwG 4 B 17.04 - Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 21 S. 6). Sie
können daher nicht Maßstab revisionsgerichtlicher Prüfung sein (§ 137 Abs. 1 VwGO).
15 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Werts des
Streitgegenstandes folgt aus § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 und 3 GKG und entspricht dem im
Beschwerdeverfahren noch streitigen Betrag.
Dr. Storost
Domgörgen
Dr. Christ