Urteil des BVerwG vom 21.05.2013

BVerwG: reformatio in peius, beamter, höchstarbeitszeit, anfechtungsklage, kunst, gerichtsurteil, verfahrensmangel, gebärdensprache, bindungswirkung, genehmigung

BVerwG 2 B 67.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 67.12
Hamburgisches OVG - 06.07.2012 - AZ: OVG 11 Bf 251/10.F
In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Mai 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und Dr. Kenntner
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil
des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 6. Juli 2012 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1 Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und auf Verfahrensfehler (§ 69 BDG
i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO) gestützte Beschwerde des Klägers ist unbegründet.
2 Der Kläger steht als Posthauptschaffner im Dienst der Beklagten. Die Beklagte kürzte die
Dienstbezüge des Klägers durch Disziplinarverfügung um ein Fünfundzwanzigstel für die Dauer
von 25 Monaten, weil der Kläger seine tägliche Zustelltour mehrfach vorzeitig, d.h. vor Erreichen
der täglichen Höchstarbeitszeit, beendet habe, ohne alle Sendungen ausgeliefert zu haben
(Anschuldigungspunkte 1 und 3) und einen Arbeitstag unentschuldigt gefehlt habe
(Anschuldigungspunkt 2).
3 Auf die Anfechtungsklage hat das Oberverwaltungsgericht im Berufungsurteil anstelle der
Gehaltskürzung eine Geldbuße von 500 € verhängt. Dies beruht im Wesentlichen darauf, dass
das Oberverwaltungsgericht die Berücksichtigung des dritten Anschuldigungspunktes aus
verfahrensrechtlichen Gründen für unzulässig gehalten hat.
4 1. Die Grundsatzrüge kann keinen Erfolg haben. Es bedarf keines Revisionsverfahrens, um zu
klären, dass Änderungen der Arbeitszeit nur für den künftigen Dienst, nicht aber rückwirkend für
bereits verstrichene Arbeitstage Geltung beanspruchen.
5 Mit der aufgeworfenen Frage macht der Kläger geltend, bei Anwendung einer später
getroffenen Betriebsvereinbarung hätte er seine Zustelltour nicht vorzeitig beendet
(Anschuldigungspunkt 1). Daher könne ihm nach der Meistbegünstigungsregel des § 2 Abs. 3
StGB keine Dienstpflichtverletzung vorgeworfen werden. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht
zutrifft. Ob ein Beamter seine Dienstleistungspflicht in zeitlicher Hinsicht erfüllt, ist nach den
Arbeitszeitregelungen zu beurteilen, die an dem jeweiligen Arbeitstag gelten. Deren
Missachtung kann nicht nachträglich durch eine Änderung des Arbeitszeitrechts ungeschehen
gemacht werden.
6 Die Arbeitszeit von Zustellern wird grundsätzlich in Dienstplänen festgelegt. Sie dürfen ihre
Arbeit jedoch vor dem vorgesehenen Dienstzeitende beenden, wenn sämtliche Sendungen ihres
Zustellungsbezirkes zugestellt sind. Umgekehrt muss ein Zusteller seinen Dienst über das
vorgesehene Dienstzeitende hinaus versehen, wenn noch Sendungen zuzustellen sind. Nach
der zum Tatzeitpunkt gültigen Betriebsvereinbarung hatte der Kläger in diesen Fällen eine
Tages-Höchstarbeitszeit von zehn Stunden zu leisten. Diese Verpflichtung ist durch die seit 19.
Dezember 2008 geltende Betriebsvereinbarung auf neun Stunden reduziert worden. Ginge man
für die disziplinarrechtliche Bewertung des Verhaltens des Klägers von der nachträglich
eingeführten Arbeitszeitregelung aus, läge ein Dienstvergehen nicht vor. Die danach
erforderlichen neun Stunden Tagesarbeitszeit hat der Kläger geleistet.
7 Nach § 2 Abs. 1 StGB bestimmt sich die Strafe nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.
Ändert sich das Gesetz nachfolgend noch vor der gerichtlichen Entscheidung, ist gemäß § 2
Abs. 3 StGB aber das mildeste Gesetz anzuwenden. Die Norm trifft damit eine Regelung zur
Geltung von Strafgesetzen bei nachträglichen Änderungen der Strafbarkeit oder des
Strafrahmens und ordnet zu Gunsten des Täters ein Meistbegünstigungsprinzip an. § 2 Abs. 3
StGB lässt damit die geänderten Vorstellungen des Gesetzgebers über Recht und Unrecht sowie
die Strafwürdigkeit dem Täter auch für frühere Taten zu Gute kommen (vgl. Dannecker, in:
Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007, § 2 Rn. 56). Dieser Rechtsgedanke gilt auch für
die Bestimmung von Disziplinarmaßnahmen (Urteil vom 19. August 2010 - BVerwG 2 C 5.10 -
Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 12 Rn. 11 m.w.N.).
8 Dies ändert aber nichts daran, dass Beamte verpflichtet sind, ihren Dienst nach den aktuell
geltenden Dienstvorschriften zu verrichten. Deren nachträgliche Änderung kann sich allenfalls je
nach den konkreten Umständen auf die Maßnahmebemessung auswirken. Ein Beamter war
damals und ist verpflichtet, dienstliche Anordnungen seines Vorgesetzten auszuführen und
dessen allgemeine Richtlinien zu befolgen. Hierzu gehört auch die Einhaltung der geltenden
Arbeitszeit (§ 55 Satz 2 BBG a.F., § 62 Abs. 1 Satz 2 BBG n.F.). Er war (§ 73 Abs. 1 Satz 1 BBG
a.F.) und ist (§ 96 Abs. 1 Satz 1 BBG) unverändert nicht berechtigt, dem Dienst ohne
Genehmigung fernzubleiben oder ihn vorzeitig zu beenden. Ein für die Anwendung des
Rechtsgedankens aus § 2 Abs. 3 StGB erforderlicher Wandel der gesetzgeberischen
Vorstellungen über Recht und Unrecht oder die Disziplinarwürdigkeit von Verstößen gegen die
Gehorsamspflicht liegt nicht vor (vgl. Urteile vom 19. August 2010 - BVerwG 2 C 5.10 - Buchholz
235.2 LDisziplinarG Nr. 12 Rn. 11, vom 25. März 2010 - BVerwG 2 C 83.08 - BVerwGE 136, 173
= Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 11 Rn. 17 und vom 25. August 2009 - BVerwG 1 D 1.08 -
Buchholz 232.0 § 77 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 33).
9 Die vom Kläger in Bezug genommene Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitregelung dagegen
betrifft die Frage, welche Anordnungen zur zeitlichen Dienstleistungspflicht für den Kläger
gelten. Sie konkretisieren damit den Inhalt seiner Dienstleistungspflicht. Diese Vorgaben haben
sich geändert. Während der Kläger im Jahr 2004 noch verpflichtet war, eine Höchst-
Tagesarbeitszeit von zehn Stunden zu erbringen, ist dieser Umfang durch die später geänderte
Betriebsvereinbarung reduziert worden. Die Tatsache, dass der Kläger nach der seit 19.
Dezember 2008 geltenden Betriebsvereinbarung nur noch eine Höchst-Tagesarbeitszeit von
neun Stunden zu erbringen hat und unter Geltung dieser Anordnung ein Zustellabbruch nach
neun Stunden zulässig ist, ändert aber nichts daran, dass der Kläger am 21. April 2004 eine
Höchst-Tagesarbeitszeit von zehn Stunden zu erbringen hatte und ein vorzeitiges Dienstende
damit nicht den gültigen Anordnungen entsprach.
10 2. Der Kläger hat keine Verfahrensmängel (vgl. § 69 BDG i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO)
dargelegt.
11 a) Der behauptete Verstoß gegen das Verbot der reformatio in peius liegt nicht vor. Das
Oberverwaltungsgericht hat die von der Beklagten verhängte Disziplinarmaßnahme nicht
verschärft, sondern von einer Gehaltskürzung auf eine Geldbuße abgemildert.
12 Soweit die Beschwerde darauf verweist, das Verwaltungsgericht habe den Schwerpunkt der
Verfehlungen in den Zustellabbrüchen (Vorwurf 3) gesehen, deren Einbeziehung das
Oberverwaltungsgericht als unzulässig angesehen habe, ist damit kein Verstoß gegen das
Verschlechterungsverbot aufgezeigt. Aus dem nach § 3 BDG anwendbaren § 129 VwGO folgt
zwar, dass die Änderungsbefugnis des Berufungsgerichts an die Anträge gebunden ist, so dass
der Tenor insoweit nicht mehr zu Lasten des Berufungsführers abgeändert werden kann. Eine
Bindungswirkung für einzelne Begründungselemente folgt aus der Anordnung indes nicht (vgl.
hierzu etwa Blanke, in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 3. Aufl. 2010, § 129 Rn. 5
m.w.N.). Eine abweichende Einschätzung zum Gewicht der einzelnen Dienstvergehen ist dem
Berufungsgericht durch § 129 VwGO daher nicht verwehrt.
13 Im Übrigen hat das Oberverwaltungsgericht zu Recht gemäß § 60 Abs. 3 BDG auch die
Zweckmäßigkeit der angefochtenen Disziplinarentscheidung überprüft. Anders als sonst bei
einer Anfechtungsklage ist das Gericht nicht darauf beschränkt, rechtswidrige Verfügungen
aufzuheben. Es trifft in Anwendung der in § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG niedergelegten
Grundsätze vielmehr eine eigene Bemessungsentscheidung (Urteil vom 15. Dezember 2005 -
BVerwG 2 A 4.04 - Buchholz 235.1 § 24 BDG Nr. 1 Rn. 23). Unter Beachtung des
Verschlechterungsverbots kann das Gericht die angefochtene Disziplinarverfügung daher auch
abändern, wenn es die vom Dienstherrn festgelegte Maßnahme für unangemessen hält. Dies gilt
auch im Berufungsverfahren (vgl. § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG).
14 b) Soweit mit der Beschwerde vorgetragen wird, das Oberverwaltungsgericht habe die
Angaben zum Grund des vorzeitigen Abbruchs des Dienstes am 21. April 2004 nicht zutreffend
gewürdigt, ist ein Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht aufgezeigt.
15 Das Oberverwaltungsgericht hat die Angabe des Klägers, er sei aus gesundheitlichen
Gründen nicht in der Lage gewesen, die Zustelltour zu beenden, zur Kenntnis genommen und
sich mit ihr ausführlich auseinander gesetzt (S. 26 ff. des Urteils). Eine Verletzung des Gebotes
der Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO ist damit weder
dargelegt noch sonst ersichtlich. Aus Art 103 Abs. 1 GG folgt nicht, dass der klägerische Vortrag
einem Gerichtsurteil als zutreffend zugrunde gelegt werden muss.
16 Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zeigt
die Beschwerde indes nicht auf. Sie begnügt sich vielmehr damit, ihre Einschätzung an die
Stelle derjenigen des Oberverwaltungsgerichts zu setzen. Damit ist den Anforderungen an die
Darlegung eines Verfahrensfehlers nicht genügt.
17 c) Entsprechendes gilt für die vom Kläger beanstandete Würdigung seines Vortrags, er sei
irrtümlich davon ausgegangen, am 24. Mai 2004 nicht zum Dienst eingeteilt gewesen zu sein.
Mit dem Vorbringen, eine andere Würdigung der Angaben des Klägers und der Zeugen sei
durchaus denkbar, ist kein Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dargelegt.
18 Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des
Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensmängel im Sinne des § 132 Abs.
2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur
ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Derartige Mängel liegen insbesondere vor, wenn
das angegriffene Urteil von einem falschen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, also etwa
entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder auf einer aktenwidrigen
Tatsachengrundlage basiert (Beschluss vom 18. November 2008 - BVerwG 2 B 63.08 -
Buchholz 235.1 § 17 BDG Nr. 1 Rn. 27 f.).
19 Einen derartigen Verfahrensmangel zeigt die Beschwerde nicht auf. Mit dem Vortrag, aus
dem Sachverhalt hätten auch andere Schlussfolgerungen gezogen werden können, wird
vielmehr nur die Würdigung selbst in Frage gestellt. Verfahrensfehlerhaft könnte dies nur dann
sein, wenn die Schlussfolgerung bereits aus Gründen der Logik nicht gezogen werden könnte
(Beschluss vom 26. Oktober 2011 - BVerwG 2 B 4.11 - juris Rn. 12). Derartiges behauptet auch
die Beschwerde nicht.
20 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs. 1 BDG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO. Ein
Streitwert für das Beschwerdeverfahren muss nicht festgesetzt werden, weil sich die Höhe der
Gerichtskosten streitwertunabhängig aus dem Gesetz ergibt (vgl. § 78 Satz 1 BDG i.V.m. Nr. 15
und 62 des Gebührenverzeichnisses der Anlage zu diesem Gesetz).
Domgörgen
Dr. Heitz
Dr. Kenntner