Urteil des BVerwG vom 22.10.2009

BVerwG (ausweisung, gerichtshof für menschenrechte, wirkung ex nunc, abweisung der klage, ex nunc, verwaltungsgericht, emrk, deutschland, antrag, zeitpunkt)

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 18.08
VGH 11 S 759/06
Verkündet
am 22. Oktober 2009
von Förster
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 22. Oktober 2009
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter und
Prof. Dr. Kraft sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 30. April 2008
wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein 1975 in Deutschland geborener italienischer Staatsangehöriger,
erstrebt die rückwirkende Aufhebung der gegen ihn verfügten Ausweisung.
Als Fünfjähriger zog er mit seiner Mutter für zehn Jahre nach Italien. 1990 kehr-
te er nach Deutschland zurück. Hier arbeitete er bis 1994 als Gipser, musste
diese Tätigkeit aber nach einem Sportunfall aufgeben. Er ist Vater zweier Kin-
der mit deutscher Staatsangehörigkeit, nämlich eines im Juni 1996 geborenen
Sohnes und einer im November 2001 geborenen Tochter. Für seine Tochter übt
er gemeinsam mit deren Mutter das Sorgerecht aus.
Im April 1997 wurde der Kläger wegen gemeinschaftlichen Handeltreibens mit
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 16 Fällen - unter Einbeziehung
einer vorausgegangenen Verurteilung - zu einer Jugendstrafe von vier Jahren
und sechs Monaten verurteilt. Davon hat er die Hälfte verbüßt; die Vollstre-
ckung der Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Das Regierungspräsidium Karlsruhe wies den Kläger mit Bescheid vom 22. Juli
1997 aus und drohte ihm die Abschiebung an. Sein Widerspruch wurde im No-
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vember 1997 zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Klage hatte beim Ver-
waltungsgericht keinen Erfolg. Im Oktober 1998 lehnte der Verwaltungsge-
richtshof den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ab. Daraufhin
reiste der Kläger im Dezember 1998 freiwillig nach Italien aus. Auf Antrag des
Klägers befristete das Regierungspräsidium die Sperrwirkungen der Auswei-
sung 1999 auf den 6. Dezember 2008.
Nach seiner Ausreise hielt sich der Kläger mehrmals unerlaubt im Bundesgebiet
auf. Er wurde deswegen 2002 zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen
und 2003 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren
Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. 2005 wurde ein weiteres
Verfahren wegen unerlaubter Einreise nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt und
dem Kläger für die erlittene Untersuchungshaft Entschädigung gewährt.
Am 5. November 2004 beantragte der Kläger die Rücknahme der Auswei-
sungsverfügung von 1997. Er begründete dies wie folgt: Das Bundesverwal-
tungsgericht habe mit Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - unter
Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass freizügigkeits-
berechtigte Unionsbürger nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung
ausgewiesen werden dürften. Außerdem sei für die Beurteilung der Rechtmä-
ßigkeit der Ausweisung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts abzustellen. Daher sei die auf
den zwingenden Ausweisungstatbestand des § 47 AuslG gestützte Ausweisung
rechtswidrig. Auch habe man bei der Ausweisung der Verwurzelung des Klä-
gers in Deutschland nicht hinreichend Rechnung getragen.
Daraufhin befristete das
sung weitergehend auf den 23. Februar 2005, lehnte aber ein Wiederaufgreifen
des Ausweisungsverfahrens mit Bescheid vom 17. März 2005 ab. Es begründe-
te dies wie folgt: Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Ver-
fahrens nach § 51 Abs. 1 LVwVfG nicht zu, da in der Änderung der Rechtspre-
chung grundsätzlich keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1
Nr. 1 LVwVfG zu sehen sei. Soweit daneben die Möglichkeit bestehe, das Ver-
waltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen wieder aufzugreifen, beste-
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he dafür kein hinreichender Anlass. Die Verfügung von 1997 sei rechtmäßig.
Sie wäre auch erlassen worden, wenn damals die Maßstäbe des Urteils des
Bundesverwaltungsgerichts vom August 2004 angewendet worden wären.
Denn vom Kläger sei eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgegangen. Im anschließenden Kla-
geverfahren hat sich das Regierungspräsidium ergänzend auf die Rechtskraft
des klageabweisenden verwaltungsgerichtlichen Urteils von 1998 berufen, in
dem die Ausweisung als rechtmäßig beurteilt worden war.
Die vom Kläger gegen den ablehnenden Bescheid erhobene Klage wies das
Verwaltungsgericht ab. Die dagegen eingelegte Berufung hat der Verwaltungs-
gerichtshof mit Urteil vom 30. April 2008 zurückgewiesen. Er begründet seine
Entscheidung zusammengefasst wie folgt: Der Kläger habe keinen Anspruch
auf die rückwirkende Rücknahme seiner Ausweisung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1
LVwVfG. Denn die Rechtskraft des die Ausweisung bestätigenden Urteils von
1998 stehe einer neuerlichen gerichtlichen Entscheidung entgegen, die von der
Rechtswidrigkeit der Ausweisung i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ausgehe.
Eine erneute rechtliche Bewertung sei daher nur im Wege des Wiederaufgrei-
fens des Verfahrens möglich. Die Voraussetzungen für einen Anspruch des
Klägers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens betreffend die Ausweisungsverfü-
gung von 1997 lägen allerdings nicht vor. Einem Wiederaufgreifensanspruch
aus § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 LVwVfG stehe insbesondere entgegen, dass in der
Änderung der Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Ausweisung frei-
zügigkeitsberechtigter Unionsbürger keine Änderung der Rechtslage i.S.v. § 51
Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG zu sehen sei. Auch ein Anspruch auf Wiederaufgreifen
nach Ermessen liege nicht vor. Das Regierungspräsidium habe eine erneute
Sachentscheidung ermessensfehlerfrei abgelehnt. Die Voraussetzungen für
eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung des Beklagten, eine zwar gerichtlich
bestätigte, aber materiell gemeinschaftsrechtswidrige Ausweisungsentschei-
dung zu überprüfen, seien nicht gegeben. Der Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften fordere eine Durchbrechung der Rechtskraft nur, wenn das
letztinstanzliche nationale Gericht eine Vorlage nach Art. 234 Abs. 3 EG unter-
lassen habe, obwohl es hierzu verpflichtet oder jedenfalls berechtigt gewesen
sei. Diese Voraussetzung sei hier nicht erfüllt gewesen. Der Verwaltungsge-
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richtshof sei im Rahmen seiner Entscheidung über die Berufungszulassung im
Jahr 1998 zur Vorlage nach Art. 234 Abs. 3 EG nicht berechtigt gewesen, da
das Zulassungsbegehren des Klägers damals nicht auf europarechtliche Zwei-
felsfragen gestützt gewesen sei. Auch habe die Ablehnung des Wiederaufgrei-
fens nationales Recht nicht verletzt. Der Beklagte habe sich auf die Rechtskraft
der die Ausweisung bestätigenden Gerichtsentscheidung von 1998 berufen
können. Eine Ermessensreduzierung habe nicht vorgelegen, denn die Auf-
rechterhaltung der Ausweisung sei nicht schlechthin unerträglich. Das die Aus-
weisung bestätigende Urteil habe der damaligen Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts entsprochen.
Der Kläger erstrebt mit seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revi-
sion, den Beklagten zur rückwirkenden Aufhebung der Ausweisungsverfügung
zu verpflichten. Nach seiner Auffassung übersieht das Berufungsurteil, dass die
gemeinschaftskonforme Auslegung den Vorrang genieße, wenn eine Vorschrift
gemeinschaftskonform und gemeinschaftswidrig ausgelegt werden könne. Da
nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Wiederaufgreifen
des Verfahrens zu Gunsten des Betroffenen auch nach rechtskräftiger Klage-
abweisung zulässig sei, bestehe im Rahmen des Art. 10 EG eine entsprechen-
de Pflicht. Das folge aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäi-
schen Gemeinschaften. Die Aufrechterhaltung einer rechtswidrigen Gerichts-
entscheidung widerstreite dem Rechtsstaatsgedanken.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen.
II
Die Revision ist unbegründet. Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht in
Übereinstimmung mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Es besteht ein
Rechtsschutzbedürfnis für die Klage (1.). Der Kläger hat aber in der Sache kei-
nen Anspruch auf die von ihm begehrte rückwirkende Aufhebung der Auswei-
sungsverfügung (2.).
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1. Für das auf rückwirkende Aufhebung der Ausweisung gerichtete Begehren
besteht ein Rechtsschutzbedürfnis trotz der zwischenzeitlichen Befristung der
Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Durch die Be-
fristung ist zwar das mit der Ausweisung kraft Gesetzes eingetretene Einreise-
und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit Wirkung ex nunc
entfallen. Auch steht der Erteilung eines (neuen) Aufenthaltstitels nicht mehr die
Sperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegen. Die Befristung führt aber
nicht zu einem Wiederaufleben des mit der Ausweisung kraft Gesetzes (§ 44
Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990, inzwischen: § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) erloschenen
Aufenthaltstitels. Die mit der Ausweisung verbundenen belastenden Rege-
lungswirkungen sind daher durch die Befristung nur teilweise entfallen. Im Fall
des Klägers hat die Aufrechterhaltung der Ausweisung zur Folge, dass seine
Aufenthalte in Deutschland in der Zeit vor der Befristung nach der von einem
beachtlichen Teil der Rechtsprechung vertretenen Auffassung als unerlaubt
anzusehen sind und strafrechtliche Konsequenzen haben (vgl. allgemein zur
strafrechtlichen Beachtlichkeit behördlicher Verfügungen: BGH, Beschluss
vom
23. Juli 1969 - 4 StR 371/68 - NJW 1969, 2023; a.A. für den Fall einer gemein-
schaftsrechtswidrigen Ausweisung: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. Dezem-
ber 2006 - 3 Ws 346/05 - InfAuslR 2007, 118). Mit Recht kommt das Beru-
fungsgericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger durch die Ausweisungsverfü-
gung, die Grundlage seiner strafrechtlichen Verurteilungen in den Jahren 2002
und 2003 wegen unerlaubten Aufenthalts war, weiterhin belastet ist. Das
Rechtsschutzbedürfnis des Klägers folgt daraus, dass er einen Antrag auf Wie-
deraufnahme dieser Strafverfahren stellen kann und es jedenfalls nicht von
vornherein als ausgeschlossen erscheint, dass für ihn in diesem Rahmen die
nachträgliche Aufhebung der Ausweisung von Vorteil ist.
2. Die Klage ist aber in der Sache nicht begründet. Denn der Kläger hat keinen
Anspruch auf rückwirkende Aufhebung der Ausweisungsverfügung. Die Vor-
aussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 des hier maßgeblichen Landesverwal-
tungsverfahrensgesetzes Baden-Württemberg (LVwVfG) liegen nicht vor (2.1).
Der Kläger kann eine Rücknahme der Ausweisung auch nicht über ein Wieder-
aufgreifen des Verfahrens nach § 51 LVwVfG erreichen. Die Voraussetzungen
für einen gesetzlichen Wiederaufgreifensanspruch nach § 51 Abs. 1 bis 3
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LVwVfG sind nicht gegeben (2.2). Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach
§ 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48, 49 LVwVfG (sog. Wiederaufgreifen im weite-
ren Sinne) hat die Behörde ermessensfehlerfrei abgelehnt (2.3).
2.1 Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die tat-
bestandlichen Voraussetzungen für eine Rücknahme der Ausweisung nach
§ 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann ein
rechtswidriger belastender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar ge-
worden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergan-
genheit zurückgenommen werden. Nachdem der Kläger die Ausweisungsverfü-
gung gerichtlich angefochten und das Verwaltungsgericht deren Rechtmäßig-
keit - rechtskräftig - bestätigt hat, steht zwischen den Beteiligten - ungeachtet
der tatsächlichen Rechtslage - bindend fest, dass die Ausweisung im für die
damalige gerichtliche Überprüfung maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündli-
chen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz rechtmäßig war.
Gemäß § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre
Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden ist. Wie der
Senat in seinem Urteil vom selben Tag in der Sache BVerwG 1 C 26.08 (zur
Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) im
Einzelnen ausgeführt hat, kann die Rechtskraftbindung des § 121 VwGO nur
auf gesetzlicher Grundlage überwunden werden. Dies ist der Fall, wenn der
Betroffene nach § 51 LVwVfG einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des
Verfahrens hat oder die Behörde das Verfahren im Ermessenswege wieder
aufgreift (vgl. nachfolgend 2.2 und 2.3). Solange diese Voraussetzungen nicht
vorliegen, steht § 121 VwGO einer Rücknahme der Ausweisung entgegen.
Die Rechtskraft wirkt - entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten
des Klägers (vgl. Schriftsatz vom 3. Februar 2009, Bl. 180 d.A.) - auch gegen-
über einer etwaigen, nach Wohnsitzwechsel des Ausländers zuständig gewor-
denen Behörde. Denn diese würde insoweit in der Funktionsnachfolge der den
Ausweisungsbescheid erlassenen Erstbehörde stehen (so auch Groschupf,
DVBl 1963, 661 <663>; Clausing in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO,
Stand Oktober 2008, § 121 Rn. 102; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl.2009
§ 121 Rn. 24 und 26).
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2.2 Mit Recht ist das Berufungsgericht auch zu dem Ergebnis gekommen, dass
die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG für einen gesetzlichen An-
spruch auf Wiederaufgreifen des (Ausweisungs-)Verfahrens nicht vorliegen.
a) Ohne Erfolg beruft sich der Kläger auf eine Änderung der Rechtsprechung
hinsichtlich der sich aus dem Gemeinschaftsrecht und aus Art. 8 EMRK erge-
benden Anforderungen an die Ausweisung eines in Deutschland geborenen
und aufgewachsenen Unionsbürgers und damit zumindest sinngemäß auf den
Wiederaufgreifensgrund einer Änderung der Rechtslage nach § 51 Abs. 1 Nr. 1
LVwVfG. Sowohl die nachträgliche Klärung einer gemeinschaftsrechtlichen Fra-
ge durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und eine
hierauf beruhende Änderung der höchstrichterlichen nationalen Rechtspre-
chung als auch die zwischenzeitliche Konkretisierung der Anforderungen an die
Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung nach Art. 8 EMRK in der Rechtspre-
chung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des
Bundesverfassungsgerichts haben jedoch nicht zu einer Änderung der Rechts-
lage geführt. Eine solche erfordert Änderungen im Bereich des materiellen
Rechts, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommt. Eine Ände-
rung der Rechtsprechung führt eine Änderung der Rechtslage grundsätzlich
nicht herbei. Vielmehr bleibt die gerichtliche Entscheidungsfindung grundsätz-
lich eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebe-
nen Rechtsordnung (vgl. hierzu das Urteil des Senats vom selben Tag in der
Sache BVerwG 1 C 26.08).
b) Der Kläger erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 3
LVwVfG. Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO liegen nicht vor.
Soweit nach § 580 Nr. 8 ZPO die Restitutionsklage stattfindet, wenn der Euro-
päische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer
Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht, setzt dies
nach dem Wortlaut der Vorschrift und der Begründung des Gesetzgebers (vgl.
BTDrucks 16/3038 S. 38 ff.) voraus, dass sich die Feststellung der Konventi-
onsverletzung auf den konkreten Fall bezieht. Hieran fehlt es. Im Übrigen findet
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dieser Restitutionsgrund nach der Überleitungsvorschrift zum 2. Justizmoderni-
sierungsgesetz in § 35 EGZPO ohnehin keine Anwendung auf Verfahren, die
vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind.
c) Zu Recht ist das Berufungsgericht mit Blick auf den grundsätzlich abschlie-
ßenden Charakter der gesetzlichen Wiederaufgreifensgründe des § 51 Abs. 1
Nr. 1 bis 3 LVwVfG davon ausgegangen, dass die Behörde im Fall der nach-
träglichen Klärung einer gemeinschaftsrechtlichen Frage auch nicht verpflichtet
ist, das Verfahren in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift wiederauf-
zugreifen. Die Gründe hierfür hat der Senat in seinem Urteil vom selben Tag in
der Sache BVerwG 1 C 26.08 im Einzelnen ausgeführt; hierauf wird Bezug
genommen.
2.3 Liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG nicht vor, kann
die Behörde ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem
Ermessen zugunsten des Betroffenen wiederaufgreifen und eine neue - der ge-
richtlichen Überprüfung zugängliche - Sachentscheidung treffen (sog. Wieder-
aufgreifen im weiteren Sinne). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts
geht der Senat davon aus, dass es sich bei dieser Möglichkeit des Wiederauf-
greifens nicht um einen ungeschriebenen Rechtsgrundsatz des Verwaltungs-
verfahrensrechts handelt, sondern sie nach Inkrafttreten der Verwaltungsverfah-
rensgesetze ihre Rechtsgrundlage in § 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48 und 49
LVwVfG findet. Die Gründe hierfür sowie die Voraussetzungen für einen An-
spruch auf Wiederaufgreifen nach Ermessen nach den genannten Vorschriften
hat der Senat ebenfalls in seinem Urteil in der Sache BVerwG 1 C 26.08 im
Einzelnen ausgeführt; auch insoweit wird auf das Urteil Bezug genommen.
a) Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraus-
setzungen für eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung des Beklagten zur
Überprüfung der nach innerstaatlicher Erschöpfung des Rechtswegs bestands-
kräftigen Ausweisung nicht vorliegen. Die vom Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften (EuGH) in der Rechtssache „Kühne & Heitz“ (Urteil vom
13. Januar 2004 - Rs. C-453/00 - Slg. 2004, I-00837) aufgestellten und in der
Rechtssache „Kempter“ (Urteil vom 12. Februar 2008 - Rs. C-2/06 - Slg. 2008,
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I-00411) weiter konkretisierten Voraussetzungen für die Überprüfung einer nach
innerstaatlicher Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftigen, aber gemein-
schaftswidrigen Verwaltungsentscheidung liegen nicht vor. Es fehlt jedenfalls an
einer Verletzung der Verpflichtung zur Einholung einer Vorabentscheidung des
Gerichtshofs nach Art. 234 Abs. 3 EG. Denn ein Verstoß gegen die Verpflich-
tung der nationalen Gerichte zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof nach
Art. 10 EG liegt nur dann vor, wenn der gemeinschaftsrechtliche Gesichtspunkt,
dessen Auslegung sich in Anbetracht eines späteren Urteils des Gerichtshofs
als unrichtig erwiesen hat, von dem in letzter Instanz entscheidenden nationa-
len Gericht entweder geprüft wurde oder von Amts wegen hätte aufgegriffen
werden können. Das Gemeinschaftsrecht gebietet den nationalen Gerichten
nicht, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtli-
che Bestimmungen zu prüfen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die von
den Parteien bestimmten Grenzen des Rechtsstreits überschreiten müssten.
Sie müssen die rechtlichen Gesichtspunkte, die sich aus einer zwingenden
Gemeinschaftsvorschrift ergeben, aber von Amts wegen aufgreifen, wenn sie
nach dem nationalen Recht verpflichtet oder berechtigt sind, dies im Falle einer
zwingenden Vorschrift des nationalen Rechts zu tun (vgl. EuGH, Urteil vom
12. Februar 2008 a.a.O. Rn. 44 und 45).
Letztinstanzliches nationales Gericht bei der gerichtlichen Überprüfung der
Ausweisungsverfügung war hier nicht das Verwaltungsgericht, sondern der
Verwaltungsgerichtshof; denn gegen das abweisende Urteil des Verwaltungs-
gerichts gab es die Möglichkeit, einen Antrag auf Zulassung der Berufung zu
stellen (im Ergebnis ebenso Beschluss vom 20. März 1986 - BVerwG 3 B 3.86 -
NJW 1987, 601). Erst der die Zulassung der Berufung ablehnende Beschluss
des Verwaltungsgerichtshofs konnte nicht mehr mit Rechtsmitteln des inner-
staatlichen Rechts angefochten werden. Der Verwaltungsgerichtshof verstieß
mit seiner damals getroffenen Entscheidung aber nicht gegen die Vorlagepflicht
des Art. 234 Abs. 3 EG. Den Antrag auf Zulassung der Berufung hatte der Klä-
ger zwar auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwal-
tungsgerichts, auf einen Gehörsmangel und eine grundsätzliche Bedeutung der
Rechtssache gestützt, in diesem Zusammenhang aber keine gemeinschafts-
rechtlichen Bedenken geltend gemacht. Mangels Darlegung eines auf das Ge-
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meinschaftsrecht bezogenen Zulassungsgrundes prüfte der Verwaltungsge-
richtshof daher bei seiner Entscheidung nicht die Vereinbarkeit der Ausweisung
mit Gemeinschaftsrecht und war hierzu nach nationalem Prozessrecht auch
weder berechtigt noch verpflichtet. Lässt das Verwaltungsgericht die Berufung
nicht zu, hat der Antragsteller mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung
nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO die Gründe darzulegen, aus denen die Beru-
fung zuzulassen ist, und darf der Verwaltungsgerichtshof nach § 124a Abs. 5
Satz 2 VwGO
berücksichtigen, die vom Antragsteller (fristgerecht) dargelegt worden sind.
Diese der nationalen Verfahrensautonomie unterliegende Einschränkung des
gerichtlichen Prüfprogramms im Zulassungsverfahren begegnet auch mit Blick
auf das gemeinschaftsrechtliche Äquivalenz- und Effizienzgebot keinen Beden-
ken.
b) Nach nationalem Recht liegt ebenfalls kein Fall vor, in dem sich das Wieder-
aufgreifensermessen so verdichtet hat, dass nur ein Wiederaufgreifen des Ver-
fahrens ermessensfehlerfrei wäre. Insoweit ist das Berufungsgericht zutreffend
zu dem Ergebnis gekommen, dass die Aufrechterhaltung der Ausweisungsver-
fügung nicht schlechthin unerträglich
(aa) Eine derartige Unerträglichkeit kann sich aus der offensichtlichen Fehler-
haftigkeit des die Ausweisung bestätigenden Urteils ergeben. In diesem Zu-
sammenhang konnte das Berufungsgericht offen lassen, ob die Ausweisung
aus den vom Kläger geltend gemachten Gründen tatsächlich (gemein-
schafts-)rechtswidrig war. Denn es fehlt - bezogen auf den Zeitpunkt des die
Ausweisung bestätigenden Urteils des Verwaltungsgerichts - jedenfalls an einer
offensichtlichen Rechtswidrigkeit der gerichtlichen Entscheidung.
Zwar dürfen freizügige Unionsbürger - zu denen der Kläger nach den Feststel-
lungen des Berufungsgerichts zu rechnen ist - nur bei einer von ihnen ausge-
henden gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung aufgrund einer
umfassenden Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Dabei ist für die
gerichtliche Überprüfung der Ausweisung auf die Sach- und Rechtslage im
Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der Tatsa-
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chengerichte abzustellen. Diese gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben waren
zum Zeitpunkt der Abweisung der vom Kläger gegen die Ausweisungsverfü-
gung erhobenen Klage
sondern beruhen auf einer späteren Änderung der Rechtsprechung des Bun-
desverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 -
BVerwGE 121, 297 <301 f.>) in Anlehnung an die Entscheidung des Gerichts-
hofs der Europäischen Gemeinschaften in den Rechtssachen „Orfanopoulos
und Oliveri“ vom 29. April 2004 (Rs. C-482/01 und C-493/01 - Slg. 2004,
I-05257). Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht in seinem Urteil von 1998 die
Ausweisung des Klägers an den im AufenthG/EWG geregelten besonderen
Voraussetzungen für freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige von EWG-
Staaten gemessen; diese war - wie es das Gemeinschaftsrecht fordert - aus-
schließlich auf spezialpräventive Gründe gestützt.
Die Ausweisung des Klägers war schließlich - bezogen auf den Zeitpunkt der
sie bestätigenden gerichtlichen Entscheidung - auch nicht im Hinblick auf Art. 8
EMRK offensichtlich unverhältnismäßig. Art. 8 EMRK schützt das Recht auf
Achtung des Familien- und des Privatlebens. In diese Rechte können die Ver-
tragsstaaten nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eingreifen, soweit die gewählte Maß-
nahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, also durch ein drin-
gendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt wird und mit Blick auf die verfolgten
legitimen Ziele auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. BVerfG, Be-
schluss vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - NVwZ 2007, 946 m.w.N.). In die-
sem Zusammenhang hat der Menschenrechtsgerichtshof wiederholt festge-
stellt, dass Art. 8 EMRK auch im Gastland geborenen und aufgewachsenen
Ausländern der zweiten Generation kein absolutes Bleiberecht gewährt. Ent-
sprechend hat er in der Vergangenheit zwar in einigen Fällen dieser Art eine
Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt, in einem beachtlichen Teil der Fälle
eine Verletzung hingegen abgelehnt. Dabei wies die Rechtsprechung lange Zeit
stark kasuistische Züge auf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. März 2004 - 2 BvR
1570/03 - NVwZ 2004, 852 m.w.N.). Ob ein Ausländer der zweiten Generation
ausgewiesen werden kann, ist letztlich anhand einer einzelfallbezogenen Wür-
digung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der ge-
genläufigen Interessen des Ausländers und deren Abwägung gegeneinander zu
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ermitteln. Dabei sind die vom Menschenrechtsgerichtshof inzwischen entwickel-
ten Kriterien zu beachten (vgl. insbesondere EGMR, Urteile vom 2. August
2001 - 54273/00 - Boultif, InfAuslR 2001, 476, vom 5. Juli 2005 - 46410/99 -
Üner, InfAuslR 2005, 450 und vom 23. Juni 2008 - 1638/03 - Maslov II, InfAuslR
2008, 333). Dass diese Abwägung hier nur zu Gunsten des Klägers hätte aus-
fallen dürfen, war bei Abweisung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung
nicht evident. Zu seinen Lasten wurden vor allem die Art und die Schwere der
von ihm begangenen Straftat (Handel mit Betäubungsmitteln in 16 Fällen) be-
rücksichtigt. Zwar hatte er die Drogenstraftat als Heranwachsender begangen
und wurde nach Jugendstrafrecht verurteilt. Das Verwaltungsgericht ging je-
doch aufgrund der Persönlichkeit des Klägers von einer Rückfallgefahr aus, weil
er sich in einer Krisensituation dem Drogenkonsum und der Drogenkriminalität
zugewandt hatte und daher die Gefahr eines entsprechenden Verhaltens in neu
auftretenden Konfliktsituationen gesehen wurde. Seine persönlichen Belange
nach Art. 8 EMRK waren bereits in die behördliche Ausweisungsentscheidung
eingestellt worden, auf die das Urteil des Verwaltungsgerichts verwiesen hat.
(bb) Die Aufrechterhaltung der Ausweisung ist auch nicht aus sonstigen Grün-
den schlechthin unerträglich. Ihre Wirkungen wurden inzwischen nach § 11
Abs. 1 Satz 3 AufenthG befristet. Zu Recht weist das Berufungsgericht darauf
hin, dass der Kläger damit die Möglichkeit hat, ohne weitere Einschränkungen
nach Maßgabe des § 2 FreizügG/EU nach Deutschland einzureisen und sich
hier aufzuhalten. Von dieser Möglichkeit hat der Kläger auch Gebrauch ge-
macht. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts bestand auch keine
allgemeine Verwaltungspraxis, gegenüber der sich die Ablehnung des Wieder-
aufgreifens des Verfahrens als gleichheitswidrig erweisen würde.
c) Damit lag die Entscheidung über ein Wiederaufgreifen des (Ausweisungs-)
Verfahrens im Ermessen der Behörde. Das Regierungspräsidium hat dies im
Bescheid vom 17. März 2005 erkannt. Nach den Feststellungen des Beru-
fungsgerichts hat es seine dortigen Ermessenserwägungen im Berufungsver-
fahren unter Hinweis auf die Bindungswirkung des § 121 VwGO ergänzt. Dies
war nach § 114 Satz 2 VwGO möglich. In diesem Fall bedarf es regelmäßig -
und so auch hier - keiner weiteren Ermessenserwägungen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Richter
Prof. Dr. Kraft
Fricke
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Richter
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