Urteil des BVerwG vom 03.10.1990
BVerwG: gemeinde, anspruch auf rechtliches gehör, ddr, fahrbahn, gehweg, beweislast, begriff, bekanntmachung, zustand, mehrheit
Rechtsquellen:
BauGB
§ 242 Abs. 9 Satz 1 und 2
Stichworte:
Erschließungsbeitrag; Beitrittsgebiet; Verfahrensmangel; Aufklärungspflicht;
Zeugenvernehmung; rechtliches Gehör; Erschließungsanlage; Satzung; Be-
kanntmachung; Bekanntmachungsorgan; anfängliche Unmöglichkeit; Nichtig-
keit; erstmalige Herstellung; Fertigstellung; technisches Ausbauprogramm; örtli-
che Ausbaugepflogenheiten; maßgeblicher Zeitpunkt; Stichtag; Zeitraum; bau-
technische Herstellung; Straßendecke; Straßenentwässerung; Straßenbeleuch-
tung; Zuständigkeit; Aufgabenverteilung; Schriftform; Provisorium; Eigeninitiati-
ve; Straßenfunktion; Anliegerstraße; Hauptverkehrsstraße; materielle Beweis-
last; Darlegungslast.
Leitsätze:
1. Für die Frage, ob im Beitrittsgebiet für eine Erschließungsanlage oder deren
Teile Erschließungsbeiträge erhoben werden können, ist gemäß § 242
Abs. 9 Satz 1 und 2 BauGB maßgeblich, ob sie irgendwann vor dem 3. Ok-
tober 1990 einem technischen Ausbauprogramm oder den örtlichen Aus-
baugepflogenheiten entsprechend fertiggestellt worden sind.
2. Unter einem „technischen Ausbauprogramm“ ist ein Plan zu verstehen, der
Vorgaben zur bautechnischen Herstellung der Erschließungsanlage oder ih-
rer Teile enthält. Er muss in irgendeiner Form schriftlich niedergelegt wor-
den sein; seine Existenz kann dann aber auch durch Zeugen bewiesen
werden. Der Plan muss von einer nach den jeweils geltenden Rechtsvor-
schriften zuständigen staatlichen Stelle stammen, von ihr gebilligt oder ihr
sonstwie zuzurechnen sein. Dabei ist, soweit es um die Zeit der DDR geht,
die Aufgabenverteilung zwischen den staatlichen Stellen und den für die
Planung und Bauausführung zuständigen Betrieben zu berücksichtigen.
3. „Örtliche Ausbaugepflogenheiten“ sind das über einen längeren Zeitraum
feststellbare Verhalten der Gemeinde bei der bautechnischen Herstellung
von Erschließungsanlagen. Die bloße Hinnahme von Provisorien reicht nicht
aus. Abzustellen ist grundsätzlich auf den gesamten Ort, bei größeren Städ-
ten ggf. auf Ortsbezirke, wenn sie für den Straßenbau zuständig waren. Un-
terschiede in der Funktion der betreffenden Straßen (z.B. als Anlieger- oder
Hauptverkehrsstraße) können von Bedeutung sein.
4. Bei Nichterweislichkeit der Voraussetzungen des § 242 Abs. 9 Satz 1 und 2
BauGB liegt die materielle Beweislast grundsätzlich bei der Gemeinde.
Urteil des 9. Senats vom 11. Juli 2007 - BVerwG 9 C 5.06
I. VG Magdeburg vom 23.09.2004 - Az.: VG 2 A 649/02 MD -
II. OVG Magdeburg vom 29.06.2006 - Az.: OVG 4 L 572/04 -
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Verkündet
BVerwG 9 C 5.06
am 11. Juli 2007
OVG 4 L 572/04
Hänig
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Vallendar, Prof. Dr. Rubel und
Domgörgen und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger
für Recht erkannt:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes
Sachsen-Anhalt vom 29. Juni 2006 wird aufgehoben. Die
Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen die Heranziehung zu einem Erschließungsbei-
trag für die Herstellung des Akazienwegs in der in Sachsen-Anhalt gelegenen
beklagten Gemeinde. Er ist Eigentümer eines an diese Straße angrenzenden,
mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks. Der Akazienweg liegt in der zum
Ortsteil Biederitz gehörenden so genannten „Siedlung“, die in den 1930er Jah-
ren angelegt wurde.
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Über den Ausbauzustand der Straße vor dem 3. Oktober 1990 herrscht zwi-
schen den Beteiligten Streit: Nach Angaben der Beklagten war der Akazienweg
unbefestigt; im südlichen Abschnitt habe die Fahrbahnfläche aus komprimier-
tem, zum Teil mit Abbruchmaterialien (Ziegel- und Steinbruch) durchsetzten,
sandigen Bodenmaterial bestanden und Schlaglöcher aufgewiesen, im nördli-
chen Abschnitt sei die Fahrbahnoberfläche mehrfach mit Ziegelschotter bzw.
mineralischem Füllmaterial ausgebessert worden. Ein Gehweg und eine Stra-
ßenentwässerung seien nicht vorhanden gewesen; Oberflächenwasser sei im
unbefestigten Seitenraum versickert bzw. verdunstet.
Nach Angaben des Klägers soll der Akazienweg durch Baumaßnahmen in der
ersten Hälfte der 1980er Jahre bzw. in den Jahren 1989/1990 bereits herge-
stellt gewesen sein: Aufgrund eines Beschlusses des Rates der Gemeinde aus
dem Jahr 1980 sei die Oberfläche etwa 0,4 m abgetragen, eine Schotterschicht
aufgebracht und diese verfestigt worden. Nachdem die Straße zweimal für
Strom- und Wasserleitungen aufgerissen worden sei, sei sie aufgrund eines
weiteren Beschlusses des Rates aus dem Jahr 1985, der aber erst 1989/1990
ausgeführt worden sei, erneut etwa 0,5 m ausgekoffert, mit recyceltem Verfüll-
material grundhaft ausgebaut und mit Planierraupen und Rüttelwalzen verdich-
tet worden. Wegen fehlender Geldmittel und Materialmangels sei als Deck-
schicht lediglich ein Feinsplittgemisch aufgebracht worden. Die Entwässerung
der Straße sei durch eine leichte Wölbung im Straßenkörper und beidseitigen
Versickerungsmulden erfolgt. Der Gehweg sei in Gestalt einer durch Begren-
zungspfähle getrennten Teilfläche der Fahrbahn (ohne Bordsteinkante) ange-
legt worden.
Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wurde der Akazienweg in den
1990er Jahren in zwei Teilschritten mit einem frostsicheren Unterbau und einer
festen Straßendecke (im südlichen Teil bis zur Kreuzung mit dem Kirschweg/
Fliederweg aus Betonsteinpflaster, im nördlichen Teil mit einer Bitumendeck-
schicht), einem einseitigen Gehweg aus Betonsteinpflaster, einer Entwässe-
rungskanalisation, Parkbuchten und Straßenbegleitgrün versehen; anstatt der
bisherigen so genannten Mastansatzleuchten wurde eine neue Straßenbe-
leuchtung angebracht.
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Mit Bescheid vom 20. August 2001 erhob die Beklagte auf der Grundlage ihrer
Erschließungsbeitragssatzung vom 1. März 1999 in der Fassung der Ände-
rungssatzung vom 8. Juli 1999 von dem Kläger einen Erschließungsbeitrag in
Höhe von 4 082,24 DM (umgerechnet 2 087,22 €) für die erstmalige Herstel-
lung der Teileinrichtungen Fahrbahn, Gehweg, Straßenentwässerung und
Grünflächen des Akazienwegs.
Dagegen erhob der Kläger eine Reihe von Einwänden. Ein Erschließungsbei-
trag dürfe schon dem Grunde nach nicht erhoben werden, weil der Akazienweg
aufgrund der früheren Ausbaumaßnahmen vor dem 3. Oktober 1990 bereits
endgültig hergestellt gewesen sei; der Kläger trug ausführlich zur Baugeschich-
te des Akazienwegs vor und benannte mehrere Zeugen für die von ihm be-
haupteten Beschlüsse des Rates der Gemeinde und die in deren Vollzug aus-
geführten Baumaßnahmen. Auch der Höhe nach sei die Beitragsforderung zu
beanstanden: Es hätte eine Abschnittsbildung vorgenommen werden müssen,
weil die nördliche Teilstrecke mit einer deutlich anderen Fahrbahnoberfläche
und erst knapp zehn Jahre später als die südliche Teilstrecke hergestellt wor-
den sei. Es sei unnötiger Aufwand verursacht worden, u.a. weil einige Teilein-
richtungen in ausreichendem Zustand bestanden hätten; die Höhe der Baupla-
nungs- und Beratungskosten sei nicht nachvollziehbar. Der Bürgermeister der
Beklagten habe den Bürgern zugesichert, dass ein deutlich geringerer Beitrag
erhoben werde.
Einen Antrag des Klägers auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsge-
richt abgelehnt. Auf die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene
Klage hat das Verwaltungsgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben,
weil die Erschließungsbeitragssatzung wegen Bekanntmachungsmängeln nicht
wirksam geworden sei. Das Oberverwaltungsgericht hat das erstinstanzliche
Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentli-
chen ausgeführt:
Den angefochtenen Bescheiden liege nach der zwischenzeitlich erfolgten Be-
kanntmachung der Erschließungsbeitragssatzung in dem Gemeindeblatt
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„Biederitzer Buschfunk“ nunmehr wirksames Satzungsrecht zugrunde. Gegen
die Wirksamkeit der Verkündung der Erschließungsbeitragssatzung in diesem
Bekanntmachungsorgan bestünden trotz dessen geringer Auflage und des da-
für zu entrichtenden Entgelts keine rechtsstaatlichen Bedenken. Entgegen der
Ansicht des Klägers habe die Erschließungsbeitragssatzung nicht durch Aus-
hang in den Bekanntmachungskästen am Rathaus Biederitz und am Einkaufs-
zentrum im Ortsteil Heyrothsberge verkündet werden müssen, wie dies § 16
Abs. 2 der Hauptsatzung der Beklagten in der Fassung der dritten Änderung
der Hauptsatzung vom 4. Dezember 1996 bestimmt habe. Denn einen Aus-
hangkasten in der Nähe des besagten Einkaufszentrums habe es nie gegeben;
dies führe zur Unwirksamkeit dieser Verkündungsregelung.
Der Akazienweg sei mit den hier abgerechneten Teileinrichtungen nicht vor
dem 3. Oktober 1990 bereits hergestellt gewesen i.S.v. § 242 Abs. 9 BauGB.
Der Akazienweg sei nicht irgendwann vor diesem Stichtag einem technischen
Ausbauprogramm entsprechend fertiggestellt worden. Dies gelte zunächst hin-
sichtlich der Teileinrichtung Fahrbahn. Die Beweisaufnahme habe nicht erge-
ben, dass der Rat der Gemeinde in den Jahren 1980 oder 1985 einen Plan mit
konkreten Anforderungen an den Zustand der Teileinrichtung Fahrbahn be-
schlossen habe. Sie habe im maßgeblichen Zeitpunkt auch nicht den örtlichen
Ausbaugepflogenheiten entsprochen. Denn nach den Feststellungen der Be-
klagten habe die Mehrheit der Gemeindestraßen über eine Fahrbahnbefesti-
gung höheren Grades mit Pflaster, Beton oder Bitumen verfügt; dahinter bleibe
der Akazienweg mit seiner Schotterschicht zurück. Die Teileinrichtungen Geh-
weg und Straßenentwässerung unterlägen der Erschließungsbeitragspflicht,
weil sie jedenfalls nicht in ihrer gesamten Ausdehnung i.S.v. § 242 Abs. 9
BauGB bereits hergestellt gewesen seien, sondern nur bis zum Ende der da-
maligen Bebauung. Hinsichtlich dieser beiden Teileinrichtungen fehle es au-
ßerdem an dem erforderlichen technischen bzw. kunstmäßigen Ausbau; die
bloße Abtrennung einer Teilfläche der Fahrbahn durch Pfähle für den Fußgän-
gerverkehr bzw. die Entwässerung des anfallenden Regenwassers durch Aus-
nutzung der natürlichen Gegebenheiten reichten dafür nicht aus.
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Die Beitragsforderung sei auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Die Un-
terschiede im Ausbauzustand im südlichen und nördlichen Teil des Akazien-
wegs erforderten keine Abschnittsbildung und gesonderte Abrechnung des bei-
tragsfähigen Erschließungsaufwands. Soweit der Kläger eine qualitativ niedri-
gere Ausführung für ausreichend halte, führe dies unter dem Gesichtspunkt der
Erforderlichkeit nicht zu einer Kürzung des beitragsfähigen Aufwands; das gelte
namentlich für die Bauplanungs- und Beratungskosten. Die Äußerungen des
Bürgermeisters im „Biederitzer Buschfunk“ enthielten lediglich eine Auskunft
über die zu erwartende Gesamtbelastung der Anlieger, aber keine rechtsver-
bindliche Zusicherung, dass keine höheren Beiträge erhoben würden.
Mit seiner Revision rügt der Kläger Verfahrensfehler. In materiell-rechtlicher
Hinsicht macht er im Wesentlichen geltend: Die Erschließungsbeitragssatzung
sei nicht wirksam bekanntgemacht worden. Die Veröffentlichung im „Biederitzer
Buschfunk“ genüge nicht den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips; gegen
Letzteres verstoße auch die Annahme des Berufungsgerichts, dass die spätere
Änderung des Bekanntmachungsrechts nicht wirksam geworden sei. Das Beru-
fungsgericht verkenne den Begriff des technischen Ausbauprogramms; dieser
verlange nicht, dass in einem Beschluss des Rates selbst bereits konkrete
technische Vorgaben zum Ausbau der Erschließungsanlage enthalten seien.
Bei den örtlichen Ausbaugepflogenheiten sei nicht der Ausbauzustand im ge-
samten Ort maßgeblich, es könne auch auf eine Teileinheit desselben, wie hier
auf die abgrenzbare „Siedlung“, abgestellt werden. Im Übrigen wiederholt und
vertieft der Kläger seine Einwände zur Höhe des Erschließungsbeitrages.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes
Sachsen-Anhalt vom 29. Juni 2006 aufzuheben und die
Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Magdeburg vom 23. September 2004 zu-
rückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das Urteil des Berufungsgerichts. Was die Auslegung des § 242
Abs. 9 BauGB angeht, tritt der Vertreter des Bundesinteresses ihr in der Sache
bei.
II
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil verstößt gegen Bundes-
recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Dies führt zur Aufhebung des Berufungsur-
teils und zur Zurückverweisung.
A. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts ist nicht frei von Verfahrensmängeln.
Das Berufungsgericht hat seiner gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1
VwGO) nicht genügt, indem es die vom Kläger für das Vorliegen eines techni-
schen Ausbauprogramms benannten Zeugen in der mündlichen Verhandlung
nur zum Teil vernommen hat (1.). Es hat ferner gegen den Anspruch auf recht-
liches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verstoßen, indem es
bei der Frage nach den ortsüblichen Ausbaugepflogenheiten seiner Entschei-
dung einseitig Tatsachenvortrag der Beklagten zugrunde gelegt hat, dem der
Kläger mit substantiiertem Bestreiten entgegengetreten war (2.).
1. Ein Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht kommt in Betracht,
wenn das Tatsachengericht, auch ohne dass der Kläger darauf mit einem Be-
weisantrag hinwirkt, den Sachverhalt nicht näher aufklärt, obwohl sich dem Ge-
richt solche Ermittlungen unter Zugrundelegung seiner materiell-rechtlichen
Auffassung aufgrund konkreter Anhaltspunkte hätten aufdrängen müssen (vgl.
Urteil vom 22. Januar 1969 - BVerwG 6 C 52.65 - BVerwGE 31, 212 <217 f.>;
Beschlüsse vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133
Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 154 S. 475). Das ist hier der Fall.
Der Kläger hatte zu der Frage, ob der Akazienweg bereits vor dem 3. Oktober
1990 einem technischen Ausbauprogramm oder den örtlichen Ausbaugepflo-
genheiten entsprechend fertiggestellt war, Beweis angeboten durch sieben im
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Schriftsatz vom 18. Dezember 2002 benannte Zeugen. Das Berufungsgericht
hat den Vortrag zu Recht als beweiserheblich angesehen und einen Beweisbe-
schluss erlassen; dieser enthielt zwei Beweisfragen, nämlich ob der Rat der
Gemeinde in den Jahren 1980 bzw. 1985 den Ausbau des Akazienwegs be-
schlossen habe und ggf. in welcher Art und Weise der Ausbau erfolgt sei. Die
Zeugen waren im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsge-
richt präsent. Das Berufungsgericht hat auch mit dieser Beweisaufnahme be-
gonnen, indem es drei Zeugen (Frau R., Frau Dr. B. und Herrn Siegmund S.)
vernommen hat; von einer Vernehmung der vier weiteren Zeugen hat es dage-
gen abgesehen. Als Begründung dafür hat es im angefochtenen Urteil (UA
S. 11, 3. Absatz) angeführt, auf die weiter angebotenen Zeugen zu der Frage,
ob die Fahrbahn Ende der achtziger Jahre einem technischen Ausbaupro-
gramm entsprechend fertiggestellt worden sei, komme es nicht an, weil die Be-
weiserhebung schon nicht ergeben habe, dass im Jahr 1985 ein dahingehender
B e s c h l u s s d e s R a t e s (Hervorhebung nur hier) gefasst worden sei.
Richtig daran ist, dass der Kläger in dem vorbezeichneten Schriftsatz lediglich
die Zeuginnen R. und Dr. B. für die behauptete Beschlussfassung des Rates im
Jahr 1985 benannt hatte; die weiteren (vom Berufungsgericht nicht gehörten)
Zeugen waren nur zum Beweis für die tatsächliche Ausführung der Ausbauar-
beiten 1988/1989 aufgeboten worden. Insoweit mag das Berufungsgericht an-
genommen haben, sein Beweisbeschluss sei „abgearbeitet“. Vernachlässigt hat
das Berufungsgericht dabei jedoch zweierlei: Zum Ersten sind bei der Ausle-
gung von Prozesserklärungen, so auch eines schriftsätzlichen Beweisangebots,
die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133,
157 BGB) anzuwenden. Der Wortlaut der Prozesserklärung tritt hinter deren
Sinn und Zweck zurück. Dies führt dazu, dass ergänzend die Interessenlage
der Partei zu berücksichtigen ist, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und
sonstigen für das Gericht und die Gegenseite als Empfänger der Prozesserklä-
rung erkennbaren Umständen ergibt (vgl. Beschluss vom 17. Mai 2004
- BVerwG 9 B 29.04 - juris Rn. 5). Der Klägervortrag ging erkennbar dahin,
dass sämtliche Zeugen aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen im Rat der
Gemeinde, im Rat des Bezirkes und in dem bauausführenden Betrieb Aussa-
gen dazu machen konnten, dass der tatsächlichen Bauausführung ein entspre-
chender Beschluss des Rates zugrunde lag bzw. dass aus der Bauausführung
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auf die Beschlussfassung geschlossen werden könne. Die Beweisaufnahme
abzubrechen, weil das Vorliegen eines Beschlusses des Rates nicht bewiesen
worden sei, stand zum Zweiten nicht in Übereinstimmung mit dem eigenen Prü-
fungsmaßstab des Berufungsgerichts für das Vorliegen eines technischen Aus-
bauprogramms. Nach den dazu im Berufungsurteil aufgestellten Obersätzen
soll dafür „irgendein“ straßenbautechnischer Plan ausreichen, „gleichgültig von
wem und in welcher Form der Plan aufgestellt worden“ sei und ob er sich „un-
mittelbar aus z.B. einem Beschlussprotokoll oder nur mittelbar aus Aktenver-
merken sowie Verträgen, Anweisungen oder sonstigen Vorgaben an die für die
Durchführung der jeweiligen Ausbaumaßnahmen zuständigen Stellen entneh-
men“ lasse (UA S. 9, 2. Absatz). Wenn nach dieser Rechtsauffassung das
technische Ausbauprogramm nicht zwingend vom Rat, erst recht nicht in Be-
schlussform erlassen sein muss, sondern auch von einer anderen Stelle stam-
men kann, hätte es sich dem Berufungsgericht aufdrängen müssen, auch die
weiteren Zeugen dazu zu hören, ob sich aus den in ihr Wissen gestellten Um-
ständen der tatsächlichen Bauausführung Rückschlüsse auf ein sei es vom
Rat, sei es von einer anderen Stelle aufgestelltes technisches Ausbaupro-
gramm ergaben. Immerhin waren der Vorsitzende und der Leiter der Abteilung
Tiefbau der PGH „Fortschritt“, also des nach den Angaben des Klägers mit der
Bauausführung beauftragten Betriebs, sowie das für die Aufsicht über die Ab-
teilung Planung/Straßenwesen des Kreises zuständige Mitglied des Rates des
Bezirkes als Zeugen aufgeboten, mithin Personen, bei denen es nahelag, dass
ein Beschluss des Rates oder ein sonstiges Schreiben der Gemeinde oder ei-
ner anderen mit dem Ausbau des Akazienwegs befassten Stelle „über ihren
Schreibtisch gegangen“ wäre.
2. Das Berufungsgericht hat darüber hinaus den Anspruch des Klägers auf
rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt. Dieser
verpflichtet das Gericht, die Ausführungen eines Prozessbeteiligten zur Kennt-
nis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und, jedenfalls soweit es sich um einen
zentralen Punkt seiner Rechtsverfolgung handelt, in den Entscheidungsgrün-
den zu verarbeiten. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsa-
chenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler
Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die
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Nichtbeachtung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechts-
standpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert
war (stRspr; vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 1. Februar 1978 - 1 BvR 426/77 -
BVerfGE 47, 182 <187, 189> und vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE
86, 133 <146>). Die Frage der örtlichen Ausbaugepflogenheiten und der nach
der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts insofern maßgebliche durch-
schnittliche Ausbauzustand der anderen Straßen im Gemeindegebiet betrafen
einen zentralen Punkt des Rechtstreits. Der Kläger hat in der Antragsschrift
vom 8. November 2001 im zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechts-
schutzes für insgesamt 43 im Einzelnen aufgeführte Straßen deren Ausbauzu-
stand beschrieben; in Reaktion darauf hat die Beklagte als Anlage B 7 zu ihrer
Antragserwiderungsschrift vom 10. Januar 2002 eine tabellarische Aufstellung
„Ausstattung der einzelnen Straßen (Fahrbahn, Gehweg, Straßenentwässe-
rung) der Gemeinde Biederitz zum Zeitpunkt 03.10.1990“, undatiert und ohne
Verfasser- oder Quellenangabe, vorgelegt. Im angefochtenen Urteil stützt sich
das Berufungsgericht für seine Auffassung, dass „die Mehrheit der Gemeinde-
straßen … über eine Fahrbahnbefestigung höheren Grades mit Pflaster, Beton
oder Bitumen“ verfügt habe, auf offenbar diese Auflistung als „Feststellungen
der Beklagten“ (UA S. 11 unten). Die erwähnte Auflistung ist aber ebenso ein-
seitiger Tatsachenvortrag wie der gegenteilige, nicht minder substantiierte Vor-
trag des Klägers. Es ist nicht zu erkennen, aus welchen Gründen des Prozess-
rechts oder des materiellen Rechts das Oberverwaltungsgericht seiner Ent-
scheidung den Tatsachenvortrag des einen Beteiligten als feststehenden Sach-
verhalt („Feststellung“) zugrunde gelegt hat, ohne den gegenteiligen, damit in
unmittelbarem Zusammenhang stehenden Vortrag des anderen Beteiligten zu
berücksichtigen und auf ihn einzugehen (vgl. den Beschluss des Senats vom
18. Oktober 2006 - BVerwG 9 B 6.06 - NVwZ 2007, 216 <218> zu einer ande-
ren Straße im Gemeindegebiet der Beklagten).
B. Das Berufungsurteil verstößt auch in materiell-rechtlicher Hinsicht gegen
Bundesrecht.
1. Allerdings geht das Berufungsgericht zu Recht davon aus, dass die ange-
fochtenen Bescheide sich auf wirksames Satzungsrecht der Beklagten stützen
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können. Das Berufungsgericht ist in Anwendung irrevisiblen Landesrechts der
Auffassung, dass die Erschließungsbeitragssatzung vom 1. März 1999 in der
Fassung der Änderungsatzung vom 8. Juli 1999 (EBS 1999) mit deren Veröf-
fentlichung im Gemeindeblatt „Biederitzer Buschfunk“ vom Oktober 2004 wirk-
sam bekanntgemacht worden ist. Entgegen der Ansicht des Klägers ist das
bundesrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Die EBS 1999 ist nicht deswegen nichtig, weil das Bekanntmachungsorgan
„Biederitzer Buschfunk“ nicht in einer für alle Satzungsbetroffenen ausreichen-
den Auflagenstärke gedruckt wird und zudem nur käuflich zu erwerben ist. Das
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), das der Kläger dadurch verletzt sieht,
gebietet lediglich, dass Rechtsnormen so zu verkünden (bekanntzumachen)
sind, dass die Betroffenen sich vom Erlass und vom Inhalt der Rechtsnorm ver-
lässlich Kenntnis verschaffen können und dass diese Möglichkeit der Kenntnis-
nahme nicht in unzumutbarer Weise erschwert sein darf (vgl. BVerfG, Be-
schlüsse vom 2. April 1963 - 2 BvL 22/60 - BVerfGE 16, 6 <17> und vom
22. November 1983 - 2 BvL 25/81 - BVerfGE 65, 283 <291>). Dabei enthält das
Rechtsstaatsprinzip keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote
und Verbote. Es bedarf vielmehr der Konkretisierung je nach den sachlichen
Gegebenheiten, wie hier durch die Bekanntmachungsvorschriften des Landes-
und Ortsrechts. Danach ist dem Rechtsstaatsprinzip grundsätzlich auch bei ei-
ner Bekanntmachung von kommunalem Satzungsrecht in nur einer Zeitung
Genüge getan, sofern sichergestellt ist, dass diese Zeitung von interessierten
Bürgern erworben werden kann (vgl. Urteil vom 13. Dezember 1985 - BVerwG
8 C 66.84 - NVwZ 1986, 925 <927>). Dies schließt ein, dass es grundsätzlich
keine unzumutbare Erschwernis darstellt, diese Zeitung käuflich zu erwerben.
Hinsichtlich der Auflagenstärke des Bekanntmachungsorgans ist offensichtlich,
dass es nicht in einer Auflage erscheinen muss, die der Zahl der potentiellen
Rechtsbetroffenen (auch nur annäherungsweise) entspricht. Es liegt vielmehr
auf der Hand, dass eine Auflagenstärke ausreichend ist, die sich an dem mut-
maßlichen Bedarf und Erwerbsinteresse der Rechtsbetroffenen orientiert. Dass
das Berufungsgericht dies bei einer Einwohnerzahl der Gemeinde von 12 000
Personen und einer Auflagenzahl von 600 Exemplaren bejaht hat, ist bundes-
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rechtlich nicht zu beanstanden (vgl. den Beschluss des Senats vom 18. Okto-
ber 2006 a.a.O. S. 216).
b) Entgegen der Ansicht des Klägers liegt ein Verstoß gegen das Rechts-
staatsprinzip auch nicht darin, dass das Berufungsgericht die dritte Änderungs-
satzung zur Hauptsatzung der Beklagten vom 4. Dezember 1996, wonach Ver-
öffentlichungen durch Aushang in zwei Bekanntmachungskästen erfolgen,
nämlich am Rathaus Biederitz und am Einkaufszentrum im Ortsteil
Heyrothsberge, für nichtig erachtet hat, weil es einen Bekanntmachungskasten
an dem erwähnten Einkaufszentrum nie gegeben habe.
Das steht mit den vorbezeichneten Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips in
Einklang. Es stellt eine unzumutbare Erschwernis für die Bürger dar, sich vom
Erlass und vom Inhalt des bekanntzumachenden Rechts verlässlich Kenntnis
verschaffen zu können, wenn das vorgesehene Bekanntmachungsorgan von
Anfang an, also bereits bei Erlass der Bekanntmachungsnorm, nie existiert hat.
Für den Fall einer nachträglich eintretenden tatsächlichen Unmöglichkeit der
Bekanntmachung in einem von zwei kumulativ vorgeschriebenen Bekanntma-
chungsorganen kann es zwar mit dem Publizitätsgebot des Rechtsstaatsprin-
zips für eine Übergangszeit vereinbar sein, wenn die Bekanntmachung nur in
dem einen verbliebenen Organ erfolgt. Dies ist allerdings verbunden mit der
Pflicht der Gemeinde, ihr Bekanntmachungsrecht an die geänderten tatsächli-
chen Verhältnisse alsbald anzupassen (vgl. Urteil vom 11. Oktober 2006
- BVerwG 10 CN 2.05 - BVerwGE 126, 388 <392 ff.>). Davon unterscheidet
sich die hier gegebene Fallkonstellation der anfänglichen tatsächlichen Unmög-
lichkeit der neuen Bekanntmachungsform. Denn zum einen fällt es in die origi-
näre Verantwortung des Satzungsgebers, dafür Sorge zu tragen, dass beim
Erlass neuen Bekanntmachungsrechts ein von ihm selbst ausgewähltes Be-
kanntmachungsorgan auch tatsächlich existiert; zum anderen kann der Bürger
über die Gültigkeit des bekanntzumachenden Ortsrechts in besonderer Weise
irritiert sein, wenn der Satzungsgeber ein von Anfang an nicht vorhandenes
Bekanntmachungsorgan bestimmt.
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Ob aus der danach anzunehmenden Nichtigkeit der dritten Änderungssatzung
zur Hauptsatzung der Beklagten folgt, dass das bisherige Bekanntmachungs-
recht fortgalt (wie das Berufungsgericht annimmt), kann dahinstehen. Für den
Streitfall ist dies unerheblich, weil die den angefochtenen Bescheiden zugrunde
liegende EBS 1999 nach allen in Betracht kommenden Bekanntmachungsmo-
dalitäten veröffentlicht worden ist, die im fraglichen Zeitraum Geltung bean-
sprucht haben (können). Denn sie ist sowohl im Gemeindeblatt „Biederitzer
Buschfunk“ (gemäß § 16 Abs. 2 der vom Berufungsgericht als maßgeblich er-
achteten Hauptsatzung vom 21. September 1994) als auch in dem Bekanntma-
chungskasten am Rathaus Biederitz (als - wegen Nichtexistenz des anderen -
einzig verbliebenen Bekanntmachungsorgan gemäß der dritten Änderungssat-
zung vom 4. Dezember 1996 zu dieser Hauptsatzung) als auch in allen sechs
später bestimmten Bekanntmachungskästen (gemäß § 15 Abs. 2 der Haupt-
satzung vom 1. März 1999 in der Fassung der zweiten Änderungssatzung vom
5. Januar 2000) als auch im Amtsblatt des Landkreises vom 24. Januar 2001
(gemäß § 15 Abs. 1 der Hauptsatzung in der Fassung der dritten Änderungs-
satzung vom 7. Dezember 2000) veröffentlicht worden.
2. Das angefochtene Urteil verstößt allerdings gegen § 242 Abs. 9 Satz 1 und 2
BauGB.
Gemäß Satz 1 der genannten Vorschrift können für Erschließungsanlagen oder
deren Teile in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet, die vor
dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland
bereits hergestellt worden sind, Erschließungsbeiträge nach dem Baugesetz-
buch nicht erhoben werden, sondern nur - in der Regel niedrigere - Ausbaubei-
träge nach dem Kommunalabgabengesetz des jeweiligen Landes. Die Vor-
schrift stellt insofern eine Privilegierung der neuen Länder dar, als sie anders
als die für das übrige Bundesgebiet geltende und dort auf das Inkrafttreten des
Bundesbaugesetzes (30. Juni 1961) bezogene Übergangsvorschrift des § 242
Abs. 1 BauGB nicht allein auf die Erschließungsanlage insgesamt abstellt, son-
dern die Erhebung von Erschließungsbeiträgen auch für deren „Teile“, d.h. für
Teileinrichtungen wie Fahrbahn, Gehweg usw., ausschließt (Urteil vom 18. No-
vember 2002 - BVerwG 9 C 2.02 - BVerwGE 117, 200 <202 ff., 204>). Nach
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Satz 2 der Vorschrift sind Erschließungsanlagen oder deren Teile bereits her-
gestellt, wenn sie vor dem genannten Zeitpunkt „einem technischen Ausbau-
programm oder den örtlichen Ausbaugepflogenheiten entsprechend fertigge-
stellt“ waren.
Die vom Berufungsgericht aufgestellten Maßstäbe, anhand deren es in Anwen-
dung und Auslegung von § 242 Abs. 9 Satz 1 und 2 BauGB die Erhebung eines
Erschließungsbeitrags im Streitfall für rechtmäßig hält, sind nicht in jeder Hin-
sicht mit Bundesrecht vereinbar.
a) Als maßgeblichen Zeitpunkt stellt das Gesetz darauf ab, ob die Erschlie-
ßungsanlage oder deren Teile „vor“ dem Wirksamwerden des Beitritts, d.h. ir-
gendwann vor dem 3. Oktober 1990, bereits hergestellt worden sind, also
gleichgültig, ob dies zu Zeiten der DDR oder zu früheren Zeiten erfolgte. Zu
prüfen ist, ob sie irgendwann bis zu diesem Zeitpunkt einem seinerzeit gültigen
technischen Ausbauprogramm oder den seinerzeitigen örtlichen Ausbaugepflo-
genheiten entsprechend fertiggestellt waren. Dies entspricht der herrschenden
Meinung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. bereits das Urteil des Senats
vom 18. November 2002 a.a.O. S. 201; OVG Weimar, Beschluss vom 30. Juni
2003 - 4 EO 206/96 - LKV 2004, 39; OVG Greifswald, Beschluss vom 3. Juni
1996 - 6 M 20/95 - DVBl 1997, 501 <502>; Ernst, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg,
BauGB, Stand: 60. Erg-Lfg. Februar 1999, § 242 Rn. 20; Quaas, in: Schrödter,
BauGB, 7. Aufl. 2006, § 242 Rn. 15; Löhr, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB,
10. Aufl. 2007, § 128 Rn. 28a; ebenso noch Driehaus, Erschließungs- und
Ausbaubeiträge , 7. Aufl. 2004, § 2 Rn. 40 f.; ders., Berliner Kommentar
zum BauGB , 3. Aufl. 2002, Stand: 7. Erg-Lfg. September 2006, § 242
Rn. 24 f.; ders., ZMR 2002, 241 <243 f.>).
Nach einer anderen Ansicht (neuerdings Driehaus, Kommunalabgabenrecht
S. 166 unten, S. 166/1 oben) soll dagegen für das Merkmal der örtlichen Aus-
baugepflogenheiten einzig auf den Zeitpunkt 3. Oktober 1990 abzustellen sein.
Diese Ansicht führt zur Begründung an, dass andernfalls z.B. bei einer im Jahr
1920 angelegten (und bis 1990 nicht grundlegend geänderten) Straße auf die
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Gepflogenheiten der betreffenden Gemeinde in jenem Jahr (1920) abgestellt
werden müsse. Dies anhand des tatsächlichen Zustandes aller einschlägigen
Verkehrsanlagen in der Gemeinde in einem so weit zurückliegenden Jahr heute
noch zu ermitteln, sei regelmäßig unmöglich. Es sei auszuschließen, dass der
Bundesgesetzgeber im Rahmen einer auf einfache und praktikable Lösungen
ausgerichteten Überleitungsregelung eine Anforderung angeordnet habe, die
regelmäßig unmögliche Ermittlungen voraussetze; deshalb sei es geboten, als
zeitlichen Bezugspunkt für die örtlichen Ausbaugepflogenheiten - ebenso wie
für die übrigen Anknüpfungspunkte in § 242 Abs. 9 Satz 1 und 2 BauGB - auf
den Stichtag 3. Oktober 1990 abzustellen.
Dem vermag sich der Senat aus mehreren Gründen nicht anzuschließen. Zum
Ersten spricht der Wortlaut „vor“ für die Maßgeblichkeit des gesamten Zeit-
raums vor dem Wirksamwerden des Beitritts. Hätte der Gesetzgeber einzig auf
den Stichtag 3. Oktober 1990 abstellen wollen, hätte sich eine andere Formulie-
rung angeboten (z.B. „am“ oder „im Zeitpunkt“). Praktikabilitätserwägungen, wie
sie die Gegenansicht in erster Linie anführt, können in die Gesetzesauslegung
einzubeziehen sein, wo eine solche eröffnet ist. Der klare Wortlaut des Geset-
zes bildet jedoch die äußerste Grenze jeder Gesetzesauslegung (vgl. Urteil
vom 29. Juni 1992 - BVerwG 6 C 11.92 - BVerwGE 90, 265 <269>). Deshalb ist
es auch nicht möglich, innerhalb der beiden Alternativen des § 242 Abs. 9
Satz 2 BauGB auf unterschiedliche Zeitpunkte abzustellen. Weiter entspricht
nur die hier vertretene Auslegung dem allgemeinen Grundsatz des Erschlie-
ßungsbeitragsrechts (vgl. Ernst a.a.O. § 242 Rn. 20, § 133 Rn. 24b; OVG
Greifswald a.a.O.), dass eine Erschließungsanlage, die irgendwann einmal
nach den seinerzeit maßgeblichen Voraussetzungen endgültig hergestellt war,
später nicht wieder in den Zustand der Unfertigkeit zurückversetzt werden kann
(also etwa weil am oder unmittelbar vor dem 3. Oktober 1990 ein höherer Aus-
baustandard „Gepflogenheit“ geworden war). Schließlich ergäbe sich ein Wi-
derspruch zur insoweit vergleichbaren Übergangsregelung des § 242 Abs. 1
BauGB betreffend die Erschließungsbeitragsfreiheit der „vorhandenen“ Straßen
im übrigen Bundesgebiet, für die eine Beitragspflicht aufgrund der „bis zum
29. Juni 1961“ geltenden Vorschriften nicht entstehen konnte. Im vorliegenden
Zusammenhang auf einen anderen Maßstab abzustellen, wäre auch mit Blick
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auf Art. 3 Abs. 1 GG schwerlich zu rechtfertigen (vgl. bereits den Beschluss
vom 18. Oktober 2006 a.a.O. S. 219).
Hieran gemessen ist das angefochtene Urteil insoweit nicht zu beanstanden,
als das Berufungsgericht zutreffend darauf abgestellt hat, ob der Akazienweg
„irgendwann vor dem 3. Oktober 1990“ einem technischen Ausbauprogramm
entsprechend fertiggestellt war. Hinsichtlich des Merkmals der örtlichen Aus-
baugepflogenheiten ist dagegen nicht eindeutig, welches der zeitliche Maßstab
sein soll, da das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang teilweise auf den
Ausbauzustand des Akazienwegs „am“ (UA S. 11 unten, S. 12 im 2., 4. und
5. Absatz), teilweise „bis zum“ (UA S. 12 im 3. Absatz) bzw. „vor dem“ 3. Okto-
ber 1990 (UA S. 12 im 5. Absatz) abstellt. Da nach dem Vortrag des Klägers
aber einzig in Rede stand, dass der Akazienweg durch die beiden Baumaß-
nahmen in den 1980er Jahren „bis Mitte 1990“ fertiggestellt worden sei, und da
das Berufungsgericht eine weitere Beweisaufnahme zum Ausbauzustand der
Straße abgelehnt hat, weil dieser sich zwischen Mitte des Jahres 1990 und
dem 3. Oktober 1990 allenfalls unwesentlich geändert haben könne, war diese
Unschärfe im Prüfungsmaßstab des Berufungsgerichts jedenfalls ohne Einfluss
auf das Ergebnis.
b) Nicht zu beanstanden ist weiter, dass das Berufungsgericht seine Prüfung
„nach der vom Gesetzgeber vorgegebenen Reihenfolge“ damit beginnt, ob der
Akazienweg einem technischen Ausbauprogramm entsprechend hergestellt
war. Diese Formulierung gibt allerdings - zur Vermeidung von Fehlschlüssen -
Anlass zu dem Hinweis, dass die beiden Alternativen des § 242 Abs. 9 Satz 2
BauGB, das „technische Ausbauprogramm“ und die „örtlichen Ausbaugepflo-
genheiten“, wie sich aus dem Wort „oder“ ergibt, gleichwertig nebeneinander
stehen. Das Vorliegen eines technischen Ausbauprogramms im Sinne der ers-
ten Alternative mag zuvörderst oder vorrangig zu prüfen sein, weil ein solches
Programm, zumal wenn es schriftlich nachweisbar ist, den Willen der Gemein-
de genauer zum Ausdruck bringt und eine höhere Gewähr und Verlässlichkeit
bietet als die nach der zweiten Alternative anhand des tatsächlichen Ausbau-
verhaltens zu ermittelnden „Gepflogenheiten“ (so zutreffend Ernst a.a.O.
Rn. 17). Gelingt der Nachweis eines technischen Ausbauprogramms nicht, ist
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die zweite Alternative zu prüfen. Aber auch wenn sich ein technisches Ausbau-
programm findet, hinter dem die Erschließungsanlage oder deren Teile zurück-
bleiben, so dass die erste Alternative nicht erfüllt ist, entbindet das jedenfalls
dann nicht von der Prüfung auch der zweiten Alternative, wenn hinreichende
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein festgestelltes früheres technisches
Ausbauprogramm zugunsten späterer örtlicher Ausbaugepflogenheiten aufge-
geben worden sein könnte.
c) Den Begriff des „technischen Ausbauprogramms“ hat das Berufungsgericht
nicht in jeder Hinsicht zutreffend ausgelegt.
Mit diesem Merkmal greift der Gesetzgeber einen Begriff auf, der von der
Rechtsprechung im Zusammenhang mit der gemäß § 132 Nr. 4 BauGB in der
Satzung der Gemeinde vorzunehmenden Festlegung der Merkmale der endgül-
tigen Herstellung entwickelt wurde und von dort bekannt ist. Es besteht kein
Grund, den Begriff hier anders zu interpretieren. Er ist nach allgemeiner Ansicht
weit zu verstehen. Wie durch das Beiwort „technisch“ verdeutlicht wird, ist dar-
unter ein Plan zu verstehen, der Vorgaben zur bautechnischen Herstellung der
Erschließungsanlage oder deren Teile enthält. Er muss sich mit Fragen des
kunstmäßigen Ausbaus der Straße oder ihrer Teileinrichtungen befassen, also
z.B. mit der Art der Befestigung der Fahrbahn, etwa dahin, ob sie mit Pflaster,
Schwarzdecke, Beton oder Platten oder mit ähnlichem Material ausgestattet
sein soll (OVG Greifswald a.a.O. S. 503). Aus dem „Plan“-Erfordernis folgt wei-
ter, dass das technische Ausbauprogramm in irgendeiner Form schriftlich nie-
dergelegt worden sein muss, etwa in einem Beschlussprotokoll, Aktenvermerk,
oder in einer Anweisung an die ausführende Stelle; seine Existenz kann dann
aber auch durch Zeugen bewiesen werden.
Nicht zu folgen vermag der Senat dem Berufungsgericht darin, dass mit diesem
Begriff auf „irgendein“ Ausbauprogramm verwiesen werde, „gleichgültig von
wem“ es aufgestellt worden sei. Ebenfalls zu weit geht die Ansicht, dass sogar
ausreichend sein soll, wenn es lediglich von einer - z.B. im Wege der Eigenini-
tiative tätig gewordenen - „Mehrzahl von Privatpersonen“ stamme (vgl. etwa
Driehaus, EAB, a.a.O § 2 Rn. 40 und BK, a.a.O. § 242 Rn. 24). Erforderlich ist
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vielmehr, dass der Plan grundsätzlich von einer nach den jeweils geltenden
Rechtsvorschriften für den Straßenbau zuständigen staatlichen Stelle stammt,
von ihr gebilligt oder ihr sonstwie zuzurechnen ist. Da eine Erschließungsanla-
ge den eigentlich in einem Bebauungsplan niedergelegten Planungsvorstellun-
gen der Gemeinde entsprechen muss (vgl. § 125 Abs. 1 BauGB) und das tech-
nische Ausbauprogramm gleichsam nur einen Planersatz darstellt, ist erforder-
lich, dass dieser Plan von einer für den Straßenbau zuständigen Stelle irgend-
wie „autorisiert“ ist. Das schließt nicht aus, dass auch den Besonderheiten der
Rechtswirklichkeit der DDR Rechnung zu tragen ist, soweit ein technisches
Ausbauprogramm aus diesem Zeitraum in Rede steht.
In diesem Zusammenhang ist namentlich eine bestimmte Aufgabenverteilung
zwischen den staatlichen Stellen und den für die Planung und Bauausführung
zuständigen Betrieben zu berücksichtigen: Nach der im Laufe der Jahrzehnte in
den Einzelheiten wechselnden Rechtslage in der DDR waren die Zuständigkei-
ten und die Abläufe grundsätzlich so, dass - erstens - nach einer erforderlichen
Entscheidung des jeweils zuständigen Rates, dass eine bestimmte Straße
(aus-)gebaut werden solle, es - zweitens - einem Betrieb oblag, einen Straßen-
bauentwurf (Projektplan) aufzustellen, diesen - drittens - der zuständigen Stelle
der staatlichen Bauaufsicht zur Prüfung und Genehmigung vorzulegen und
schließlich - viertens - die Baumaßnahmen durchzuführen. Die Betriebe handel-
ten dabei regelmäßig auf der Grundlage der technischen Normen, Gütevor-
schriften und Lieferbedingungen (TGL) und der Richtlinie für Stadtstraßen
(RIST). Die TGL, vergleichbar den DIN-Vorschriften in der Bundesrepublik, wa-
ren durch § 1 der Verordnung über die Einführung Staatlicher Standards und
Durchführung der Standardisierungsarbeiten in der Deutschen Demokratischen
Republik vom 30. September 1954 (GBl-DDR S. 821) zu rechtsverbindlichen
Vorschriften erklärt worden (vgl. zu all dem Anlauf, KStZ 2000, 69 <72>).
Ausgehend von diesem Maßstab stellt das Berufungsgericht im Streitfall zu
strenge Anforderungen, indem es das Vorliegen eines technischen Ausbaupro-
gramms deshalb verneint, weil sich aus den Aussagen der von ihm vernomme-
nen Zeugen nicht ergebe, ob der Rat der Gemeinde „überhaupt konkrete Fest-
legungen des technischen Ausbaus“ getroffen habe; es reiche nicht aus, dass
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der eingeschaltete Betrieb „für ‚fachliche Dinge’ zuständig gewesen sei“ und
der behauptete Beschluss des Rates an diesen weitergeleitet worden sei (UA
S. 11). Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass genau dies der damaligen
DDR-Rechtslage entsprach und dass es ausreichte, wenn die vom Berufungs-
gericht vermissten „erforderlichen technischen Einzelheiten“ nicht in einem Be-
schluss des Rates enthalten waren, sondern sich erst aus dem von dem Be-
trieb aufzustellenden Projektplan oder Ausführungsunterlagen „auf der Grund-
lage der geltenden TGL“ ergaben (so die Zeugin Dr. B., Protokoll der mündli-
chen Verhandlung des Berufungsgerichts, S. 5). Ein etwaiger Beschluss des
Rates der Gemeinde wäre nämlich einem Betrieb zu übermitteln gewesen, der
die Baumaßnahme zu projektieren gehabt hätte. Das könnten (nach dem Vor-
trag des Klägers) die von diesem genannten Betriebe Gebäudewirtschaft G.
oder PGH Bau „Fortschritt“ gewesen sein. Der Betrieb hatte im Falle eines ge-
nehmigungs- oder anzeigepflichtigen Vorhabens Bauunterlagen anzufertigen
und zur Genehmigung vorzulegen; Genehmigungsbehörde wäre nach § 18 der
Verordnung über die Staatliche Bauaufsicht vom 22. März 1972 (GBl-DDR II
S. 285) und der späteren Fassung vom 30. Juli 1981 (GBl-DDR I S. 313) der
Rat des Kreises, nach § 20 dieser Verordnung in der Fassung vom 1. Oktober
1987 (GBl-DDR I S. 249) wäre es das Bezirksbauamt gewesen.
d) Die Ausführungen des Berufungsgerichts zu dem Merkmal der „örtlichen
Ausbaugepflogenheiten“ sind ebenfalls nicht in jeder Hinsicht rechtsfehlerfrei.
„Gepflogenheiten“ sind nach allgemeinem Sprachverständnis ein Verhalten,
das über einen längeren Zeitraum feststellbar sein muss und das auch mit den
Synonymen „üblich“ oder „Übung“ umschrieben werden kann. Der Begriff „örtli-
che Ausbaugepflogenheiten“ bezeichnet demgemäß ein über einen längeren
Zeitraum feststellbares Verhalten der Gemeinde bei der bautechnischen Her-
stellung von Erschließungsanlagen. Daraus folgt, dass ein bloßes Nichtstun
oder „Liegenlassen“ nicht ausreicht. Das Hinnehmen von Provisorien oder das
Sich-Abfinden mit einem notdürftigen Zustand, weil ein höherwertiger, an sich
zu fordernder oder angestrebter Ausbauzustand nicht zu verwirklichen war (z.B.
wegen des Fehlens von Baumaterialien), kann keine „Ausbaugepflogenheiten“
begründen. Vielmehr geht es wie bei der ersten Alternative des § 242 Abs. 9
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Satz 2 BauGB auch hier um die aktive technische Ausgestaltung der Erschlie-
ßungsanlagen oder ihrer Teile. Danach setzen die Ausbaugepflogenheiten ei-
nen Grundbestand an kunstmäßigem Ausbau voraus. Die Erschließungsanla-
gen oder ihre Teileinrichtungen müssen durch künstliche Veränderung der Erd-
oberfläche planvoll straßenbautechnisch bearbeitet worden sein; das bloße
Ausnutzen und grobe Herrichten natürlicher Geländegegebenheiten ist nicht
ausreichend (z.B. das bloße Verfestigen und „Hobeln“ einer vorhandenen
„Sandpiste“). Erforderlich ist danach ein Mindestmaß an bautechnischer Her-
richtung, nämlich das Vorhandensein einer hinreichend befestigten Fahrbahn
(wofür z.B. auch eine Schotterdecke genügen kann), einer - wenn auch primiti-
ven - Form von Straßenentwässerung (ein bloßes Versickernlassen wäre da-
gegen nicht ausreichend) sowie einer eigenen Straßenbeleuchtung, die einen
ungefährdeten Haus-zu-Haus-Verkehr ermöglicht (zu diesen Mindestanforde-
rungen vgl. Driehaus, EAB, a.a.O. § 2 Rn. 35 S. 33 m.w.N., dort bezogen auf
§ 242 Abs. 1 BauGB und die vor dem Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes im
Gebiet des ehemaligen Preußen ggf. Geltung beanspruchende Rechtslage).
Aus dem Tatbestandsmerkmal „örtlich“ folgt, dass grundsätzlich auf den ge-
samten Ort abzustellen ist (so zutreffend OVG Magdeburg, Urteil vom 18. De-
zember 2000 - 2 L 104/00 - ZMR 2002, 629; OVG Weimar, Beschluss vom
27. April 2006 - 4 EO 1089/04 - KStZ 2007, 11 <12>), bei größeren Städten
(z.B. Ost-Berlin) ggf. auf Ortsbezirke, wenn diese für den Straßenbau zuständig
waren. Entgegen der Ansicht des Klägers sind im Streitfall daher nicht maßgeb-
lich die Ausbaugepflogenheiten allein in der so genannte „Siedlung“ als „abge-
grenztes, eine optische Einheit bildendes Gebiet“ der Gemeinde (so aber OVG
Greifswald a.a.O. S. 503). Für die Maßgeblichkeit des gesamten Ortes spre-
chen der Gesetzeswortlaut (ansonsten hätten dem Gesetzgeber Formulierun-
gen wie „Ortsteil“ oder „in der näheren Umgebung“ offengestanden) und an-
dernfalls drohende Abgrenzungsschwierigkeiten. Ebenfalls zu solchen Unsi-
cherheiten muss es führen, wenn ggf. „auch ein für das Gemeindegebiet reprä-
sentativer Ortsteil geeignet“ sein soll, als Grundlage für die Bestimmung der
örtlichen Ausbaugepflogenheiten zu dienen (deshalb abzulehnen der dahin ge-
hende Vorschlag von Driehaus, KAG, a.a.O. § 8 Rn. 218f S. 166/2).
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Abzustellen ist grundsätzlich auf die örtlichen Ausbaugepflogenheiten im zeitli-
chen Zusammenhang mit der jeweils zu betrachtenden Herstellungsmaßnah-
me. Ausbaugepflogenheiten können sich nämlich im Lauf der Jahrzehnte än-
dern; so wäre es verfehlt, eine z.B. in den letzten Jahren der DDR durchgeführ-
te Straßenbaumaßnahme mit Straßen und deren Ausbaustandard aus der Zeit
zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu vergleichen. Der Vergleichsrahmen wird
daher zu weit gezogen, wenn auf den durchschnittlichen Ausbauzustand aller
(vorhandenen) Straßen im Gemeindegebiet abgestellt wird ohne Rücksicht auf
den jeweiligen Ausbauzeitpunkt (ähnlich OVG Weimar a.a.O. S. 12 f.). Ande-
rerseits kann eine Erschließungsanlage oder einer ihrer Teile aber auch dann
entsprechend den örtlichen Ausbaugepflogenheiten fertiggestellt sein, wenn
dies zwar noch nicht im Zeitpunkt ihrer Herstellung der Fall war, zu einem spä-
teren Zeitpunkt aber die örtlichen Ausbaugepflogenheiten so reduziert worden
sind, dass die Anlage bzw. ihr Teil nunmehr diesen Anforderungen entsprach
(vgl. OVG Greifswald a.a.O S. 502). Eine nähere Bestimmung des danach
maßgeblichen Vergleichsrahmens entzieht sich allgemeingültiger Festlegung
und richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Entscheidend ist, welcher
Ausbaustandard bei der Mehrheit der danach zu betrachtenden Erschließungs-
anlagen oder deren Teilen verwirklicht wurde. Maßgeblich ist der optische Ge-
samteindruck. Dieser ist anhand aller verfügbaren Erkenntnisquellen, z.B. an-
hand von Verzeichnissen, Kartenmaterial, Fotos oder Zeugenaussagen, zu er-
mitteln. Einen schematisch-rechnerischen Flächenvergleich fordert das Gesetz
nicht (so aber der Vorschlag von Driehaus, EAB, a.a.O. § 2 Rn. 43); doch mag
ein solches Vorgehen ein taugliches Hilfsmittel sein, die Ausbaugepflogenhei-
ten zu ermitteln.
Dabei können auch Unterschiede in der Funktion der betreffenden Straßen von
Bedeutung sein (so zutreffend OVG Weimar a.a.O. S. 13). Dies folgt aus einer
parallelen Betrachtung der beiden Alternativen des § 242 Abs. 9 Satz 2 BauGB:
In einem technischen Ausbauprogramm in Sinne der ersten Alternative können
unterschiedliche Ausbaustandards berücksichtigt sein, gemäß denen die Stra-
ßen je nach ihrer Funktion herzustellen waren. Das legt es nahe, auch bei dem
Merkmal der örtlichen Ausbaugepflogenheiten jedenfalls grobe Funktionsunter-
schiede zu berücksichtigen wie die, ob eine Straße nur als Anliegerstraße dien-
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te und damit nur einen begrenzten Ziel- und Quellverkehr zu bewältigen hatte
oder ob sie auch oder vorwiegend den überörtlichen Durchgangsverkehr aufzu-
nehmen bestimmt war, was sich ggf. in einem unterschiedlichen Ausbaustan-
dard niederschlagen konnte.
Ausgehend von diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht das Merkmal der
örtlichen Ausbaugepflogenheiten verkannt. Denn es hat auf die „Mehrheit der
Gemeindestraßen“, d.h. auf alle vorhandenen Straßen abgestellt, unabhängig
davon, seit wann diese existieren, nicht aber (nur) auf die Straßen, die im zeitli-
chen Zusammenhang mit denjenigen Baumaßnahmen ausgebaut worden sind,
die nach Angaben des Klägers dazu geführt haben sollen, dass der Akazien-
weg bereits endgültig hergestellt gewesen sei. Außerdem ist aus dem bei den
Gerichtsakten befindlichen Kartenmaterial ersichtlich, dass die Straßen im Ge-
meindegebiet der Beklagten unterschiedliche Funktionen haben, was ebenfalls
für den Vergleichsrahmen bedeutsam sein kann.
3. Die übrigen Einwände des Klägers gegen das Berufungsurteil lassen dage-
gen keinen Verstoß gegen Bundesrecht erkennen.
a) Entgegen der Ansicht des Klägers kann den Äußerungen des Bürgermeis-
ters der Beklagten im Gemeindeblatt „Biederitzer Buschfunk“ keine Zusiche-
rung (§ 38 VwVfG) eines niedrigeren (Ausbau-)Beitrags entnommen werden.
Das Berufungsgericht hat auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts (Urteil vom 7. Februar 1986 - BVerwG 4 C 28.84 -
BVerwGE 74, 15 <17>) und in tatrichterlicher Würdigung dieser Äußerungen
angenommen, dass ihnen kein auf eine behördliche Selbstbindung gerichteter
Verpflichtungswillen entnommen werden könne, bei der späteren Abrechnung
der streitgegenständlichen Baumaßnahmen einen bestimmten Verwaltungsakt
zu erlassen oder nicht zu erlassen. Das ist revisionsrechtlich nicht zu bean-
standen.
b) Das Berufungsgericht hat weiter angenommen, dass die Beklagte nicht ver-
pflichtet war, die nördliche und südliche Teilstrecke des Akazienwegs im Wege
der Abschnittsbildung getrennt abzurechnen. Auch das lässt keinen Rechtsfeh-
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ler erkennen. Ob eine Gemeinde von der ihr eingeräumten Möglichkeit einer
Abschnittsbildung gemäß § 130 Abs. 2 Satz 1 und 2 BauGB Gebrauch macht,
liegt in ihrem gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren (§ 114 VwGO) Ermes-
sen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte ihr diesbezügliches Ermessen
allein deshalb willkürlich ausgeübt hat, weil der Akazienweg in seinem nördli-
chen und südlichen Teil mit einer unterschiedlichen Fahrbahnoberfläche aus-
gebaut worden ist. Im Gegenteil war eine Abschnittsbildung rechtlich sogar
ausgeschlossen, weil ein Kostenvergleich für die beiden Teile des Akazienwegs
ergibt, dass die Abschnittsbildung zu einer erheblich unterschiedlichen Belas-
tung der Anlieger der beiden Teilstrecken führen würde (vgl. dazu Urteil vom
7. Juni 1996 - BVerwG 8 C 30.94 - BVerwGE 101, 225 <232 ff.>).
c) Keinen Bedenken unterliegt weiter die Annahme des Berufungsgerichts,
dass die Teileinrichtungen Gehweg und Straßenentwässerung vor dem 3. Ok-
tober 1990 nicht bereits hergestellt gewesen seien, weil sie ausweislich der in
der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erörterten Fotos jeden-
falls nicht auf ganzer Länge ausgebaut waren. Dagegen ist mangels durchgrei-
fender Verfahrensrügen gegen die dem zugrunde liegenden, das Revisionsge-
richt bindenden Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) nichts zu erinnern. Dass
der vom Kläger behauptete vormalige Ausbauzustand dieser Teileinrichtungen
die Voraussetzungen des § 242 Abs. 9 BauGB nicht erfüllt, hat das Berufungs-
gericht im Übrigen auf die weitere Erwägung gestützt, dass die Mitbenutzung
einer lediglich durch Begrenzungspfähle abgetrennten Teilfläche der Fahrbahn
durch Fußgänger schon den (bau-)technischen Anforderungen an die Teilein-
richtung eines abgegrenzten Gehweges nicht erfülle. Das ist nach dem vorste-
henden Maßstab ebenso wenig zu beanstanden wie die weitere Annahme des
Berufungsgerichts, dass eine Entwässerung des anfallenden Regenwassers
durch bloßes Ausnutzen der natürlichen Gegebenheiten (Versickernlassen im
unbefestigten Seitenraum des Straßenkörpers) einen mindestens erforderli-
chen Grundbestand an kunstmäßigem Ausbau nicht erkennen lasse.
d) Die Rüge des Klägers, es sei unnötiger Aufwand verursacht und abgerech-
net worden, greift ebenfalls nicht durch. Dafür reicht es nicht aus, dass eine
andere, qualitativ niedrigere Ausführung der streitgegenständlichen Teileinrich-
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tungen, wie sie der Kläger für ausreichend hält, geringere Kosten verursacht
hätte. Den Entscheidungen der Gemeinde über Art und Umfang ihrer Straßen-
baumaßnahmen wird durch den Grundsatz der (so genannte kostenbezoge-
nen) Erforderlichkeit lediglich eine äußerste Grenze gesetzt; diese ist erst über-
schritten, wenn die Aufwendungen für die gewählte Lösung in für die Gemeinde
erkennbarer Weise eine grob unangemessene Höhe erreichen, d.h. sachlich
schlechthin unvertretbar sind (vgl. Urteile vom 14. Dezember 1979 - BVerwG
4 C 28.76 - BVerwGE 59, 249 <253> und vom 10. November 1989 - BVerwG
8 C 50.88 - Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 81 S. 47). Dass das Berufungs-
gericht dies im Streitfall verneint hat, lässt ebenfalls keinen Rechtsfehler erken-
nen.
e) Ohne Erfolg rügt der Kläger schließlich, dass das Berufungsgericht ihm
- trotz seines Obsiegens in erster Instanz und der erst nachträglichen Schaf-
fung gültigen Satzungsrechts - die Kosten des gesamten Verfahrens auferlegt
hat; auch dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts (vgl. nur Urteil vom 28. November 1975 - BVerwG 4 C 45.74 -
BVerwGE 50, 2 <10 f.>).
C. Nach all dem verstößt das Berufungsurteil gegen formelles und materielles
Bundesrecht. Das angefochtene Urteil erweist sich auch nicht aus anderen
Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Eine eigene Sachentscheidung ist
dem Revisionsgericht nicht möglich, da es an den dafür erforderlichen Tatsa-
chenfeststellungen fehlt. Dies nötigt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils
und Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung durch das Berufungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Die danach gebotene erneute und ergänzende Ermittlung und Bewertung des
maßgeblichen Sachverhalts gibt dem Senat Anlass, auf die materielle Beweis-
last im Falle der Nichterweislichkeit der Voraussetzungen des § 242 Abs. 9
Satz 1 und 2 BauGB hinzuweisen:
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lässt sich
die Frage, wer die Feststellungs- oder Beweislast trägt, nur aus dem jeweils
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anzuwendenden materiellen Recht beantworten (Urteile vom 26. Januar 1979
- BVerwG 4 C 52.76 - Buchholz 406.11 § 133 BBauG Nr. 67 S. 47 f. und vom
13. April 2005 - BVerwG 10 C 8.04 - Buchholz 401.68 Vergnügungssteuer
Nr. 39 S. 51, jeweils m.w.N.). Ist dem jeweils anzuwenden materiellen Rechts-
satz dazu nichts zu entnehmen, gilt in der Regel der Grundsatz, dass jeder Be-
teiligte die Beweislast für das Vorhandensein aller Voraussetzungen der ihm
günstigen Rechtsnormen trägt. Diese grundsätzliche Beweislastregelung modi-
fizierend kann unter Umständen noch von Bedeutung sein, dass bestimmte
Vorgänge derart in die Sphäre einer Partei fallen, dass die andere Partei vor
unzumutbaren Beweisschwierigkeiten stehen würde, wenn sie für diese Vor-
gänge die Beweislast trüge (Urteil vom 26. Januar 1979 a.a.O. S. 48). Für das
Erschließungsbeitragsrecht hat das Bundesverwaltungsgericht zu der mit der
Problematik des Streitfalls vergleichbaren, für die alten Bundesländer geltenden
Überleitungsvorschrift des § 242 Abs. 1 BauGB (bezogen auf das Inkrafttreten
des Bundesbaugesetzes am 30. Juni 1961) ausgesprochen, dass ein klägeri-
scher Vortrag, eine Straße sei schon unter der Geltung des alten Rechts end-
gültig hergestellt gewesen i.S.v. § 242 Abs. 1 BauGB, nicht als „Einwendung“
gegen den gemeindlichen Beitragsanspruch anzusehen sei mit der Folge, dass
der Kläger für die diese Einwendung begründenden Umstände beweispflichtig
sei. Vielmehr obliegt es der Gemeinde darzutun, dass erst und gerade die nach
dem Stichtag durchgeführten Baumaßnahmen die - vorher noch unfertige -
Straße erstmalig hergestellt haben, wenn sie hierfür Erschließungsbeiträge for-
dern will. Denn Erschließungsbeiträge sind für die „erstmalige Herstellung“ ei-
ner Straße zu erheben. Die Erstmaligkeit gehört deswegen zu den anspruchs-
begründenden Tatsachen, die den Heranziehungsbescheid tragen müssen;
dies schließt begrifflich ein, dass die Straße nicht schon vorher nach den da-
mals geltenden Maßstäben endgültig hergestellt war (Urteil vom 26. Januar
1979 a.a.O. S. 48).
Diese Grundsätze gelten ebenso, wenn nach der gebotenen Ausschöpfung
aller in Betracht kommenden Aufklärungsmöglichkeiten nicht erwiesen ist, ob
die Voraussetzungen des § 242 Abs. 9 Satz 1 und 2 VwGO vorliegen oder
nicht. Es besteht kein Grund, die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen von
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§ 242 Abs. 9 BauGB anders zu beurteilen als bei Absatz 1 (im Ergebnis ebenso
Driehaus, EAB, a.a.O. § 2 Rn. 43; ders., ZMR 1994, 245 <247>).
Dr. Storost Vallendar Prof. Dr. Rubel
Domgörgen Buchberger
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands für das Revisionsverfahren wird gemäß § 52
Abs. 3 GKG auf 2 087,22 € festgesetzt.
Dr. Storost Domgörgen Buchberger