Urteil des BVerwG vom 18.12.2002

BVerwG (öffentliche sicherheit, gefahr, verordnung, hund, rasse, bundesrepublik deutschland, wahrscheinlichkeit, verhältnis zu, körperliche unversehrtheit, ermächtigung)

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IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 6 CN 3.01
Verkündet
OVG 4 K 32/00
am 18. Dezember 2002
Schöbel
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Normenkontrollsache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 18. Dezember 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht Dr. H a h n , Dr. G e r h a r d t ,
Dr. G r a u l i c h und V o r m e i e r
für Recht erkannt:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Mecklenburg-Vorpommern vom 6. April 2001 wird
auf die Revision des Antragstellers aufgehoben,
soweit es § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 der Verord-
nung über das Führen und Halten von Hunden vom
4. Juli 2000 betrifft.
Die Sache wird in diesem Umfang zur anderweiti-
gen Verhandlung und Entscheidung an das Ober-
verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Anschlussrevision wird zurückgewiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I.
Der Antragsteller wendet sich im Normenkontrollverfahren gegen
die vom Antragsgegner erlassene Landesverordnung über das Füh-
ren und Halten von Hunden (Hundehalterverordnung
- HundehVO M-V) vom 4. Juli 2000 (GVOBl M-V S. 295, berichtigt
GVOBl M-V S. 391) - HundehVO M-V -.
Neben allgemeinen Vorschriften über die Hundehaltung (§ 1
Abs. 2 bis 5 HundehVO M-V) normiert die Verordnung für das
nichtgewerbsmäßige Züchten, Halten und Führen gefährlicher
Hunde ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (§ 1 Abs. 1 Satz 1
i.V.m. § 4 HundehVO M-V). Die Erlaubnis ist u.a. an den Nach-
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weis der Sachkunde, Zuverlässigkeit und körperlichen Eignung
gebunden. Gefährliche Hunde werden nach bestimmten gefährden-
den Eigenschaften (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 HundehVO M-V), Bissigkeit
(Nr. 2) und wiederholt gefährdendem Verhalten (Nr. 3) be-
stimmt. Bei Zweifeln hinsichtlich der Gefährlichkeit eines
Hundes kann das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 1
HundehVO M-V auf Kosten des Hundehalters festgestellt werden.
Bei Hunden der in § 2 Abs. 3 Satz 1 HundehVO M-V aufgelisteten
Rassen, zu denen auch die Rasse Bullmastiff zählt (Nr. 5),
wird vermutet, dass es sich um gefährliche Hunde im Sinne des
§ 2 Abs. 1 Nr. 1 HundehVO M-V handelt. Halter und nichtge-
werbsmäßige Züchter dieser Hunde können im Einzelfall, insbe-
sondere durch Bescheinigung des Amts- oder eines durch diesen
beauftragten Tierarztes, nachweisen, dass der Hund keine ge-
fährdenden Eigenschaften im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 auf-
weist. Beim Führen dieser Hunde ist die gebührenpflichtige Be-
scheinigung der Ordnungsbehörde über den Nachweis des Nicht-
vorliegens gefährdender Eigenschaften mitzuführen; darüber
hinaus gelten einige Vorschriften über die Haltung gefährli-
cher Hunde auch im Falle der Widerlegung der Vermutung (§ 7
Abs. 3 HundehVO M-V). Weitere Vorschriften sehen u.a. die dau-
erhafte Kennzeichnung und einen Maulkorb- und Leinenzwang für
gefährliche Hunde vor. Von den Verboten und Geboten der Ver-
ordnung können unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen zu-
gelassen werden (§ 7 Abs. 4 HundehVO M-V).
Der Antragsteller hält einen Hund der Rasse Bullmastiff. Er
hat mit dem Ziel der Nichtigerklärung der Verordnung mit Aus-
nahme der Ordnungswidrigkeitsbestimmung einen Normenkontroll-
antrag beim Oberverwaltungsgericht gestellt und unter Hinweis
auf fachwissenschaftliche Darlegungen insbesondere geltend ge-
macht, die Verordnung verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG und sei
teilweise unbestimmt.
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Das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern hat mit Ur-
teil vom 28. März 2001 § 2 Abs. 4 Satz 2, § 4 Abs. 2 Nr. 4 und
§ 5 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung für nichtig erklärt und den
Antrag im Übrigen abgelehnt.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die so ge-
nannte Rasseliste des § 2 Abs. 3 Satz 1 HundehVO M-V verstoße
nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Sie differenziere weder zwischen
"Kampfhunden" und anderen Hunden noch beruhe sie auf der pau-
schalen Annahme einer erhöhten Aggressivität aller Hunde. Aus-
wahlmaßstab sei vielmehr die von den erfassten Hunderassen
ausgehende abstrakte Gefahr, die sich darin manifestiere, dass
diese Tiere aufgrund ihrer Körpergröße, ihres Körperbaus und
zum Teil auch wegen ihrer ursprünglichen Zuchtziele für be-
stimmte Einsatzfelder, wie Großwildjagd, Bewachung von Herden
vor Raubtieren oder Hundekämpfe, einer besonders qualifizier-
ten Haltung bedürften, ohne welche die Möglichkeit erheblicher
Verletzungen von Menschen nicht auszuschließen sei.
Die Aussparung anderer Hunderassen, von denen nach den maßgeb-
lichen Kriterien Größe, Kampfbereitschaft, Beißkraft und An-
griffsverhalten eine vergleichbare abstrakte Gefahr ausgehe,
sei nicht zu beanstanden. Das im Ordnungsrecht geltende Oppor-
tunitätsprinzip zwinge den Verordnungsgeber nicht zur flächen-
deckenden Gefahrenabwehr, wenn er - wie hier - sachliche Grün-
de für die unterschiedliche Vorgehensweise bei gleich gearte-
ter abstrakter Gefahr anführen könne. Der Verordnungsgeber ha-
be sich zunächst auf diejenigen Hunderassen beschränkt, für
die "durch einschlägige Rechtsprechung zu Normen der Gefahren-
abwehr" entschieden worden sei, dass sie als gesetzlich vermu-
tete gefährliche Hunderassen eingestuft werden könnten. Die
Nichterfassung anderer Hunderassen mit größerem Verbreitungs-
grad, insbesondere Deutscher Schäferhund, Rottweiler, Boxer
und Dobermann, sei sachlich gerechtfertigt, weil Züchter und
Halter dieser Rassen in Mecklenburg-Vorpommern über eine jahr-
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zehntelange Erfahrung im Umgang mit diesen Tieren verfügten
und die Menschen die von ihnen ausgehende Gefahr als Teil des
allgemeinen Lebensrisikos jedenfalls gegenwärtig noch hinnäh-
men. Eine entsprechende soziale Akzeptanz könnten die auf der
Rasseliste aufgeführten Hunderassen schon deswegen nicht für
sich in Anspruch nehmen, weil es sich um in Deutschland entwe-
der selten gehaltene oder erst seit kurzem vorhandene Rassen
handele, auf die sich die breite Bevölkerung nicht eingestellt
habe. Als weitere sachliche Differenzierungskriterien seien
anzuerkennen, dass der Verordnungsgeber eine grundlegende
Kehrtwende in der ordnungsrechtlichen Behandlung der Hundehal-
tung habe vermeiden wollen und dass er mit Blick auf die prak-
tische Durchsetzbarkeit der Verordnung und auf die eigene Ver-
waltungskapazität von einer Aufnahme der in Deutschland weit
verbreiteten und sozial akzeptierten Hunderassen in die Liste
des § 2 Abs. 3 Satz 1 HundehVO M-V abgesehen habe.
Das Gebot der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt, weil die Vermu-
tung der Gefährlichkeit für alle erfassten Hunde durch einen
so genannten Wesenstest widerleglich und keine Zuchtverbote
oder Tötungsanordnungen an die Enumeration der Rassen gekop-
pelt sei.
Die Vorschrift über die zusätzliche Kennzeichnung gefährlicher
Hunde mit dem Großbuchstaben "G" (§ 2 Abs. 4 Satz 2
HundehVO M-V) sei ungültig, weil nicht erkennbar sei, wie
hierdurch eine Gefahrenabwehr erreicht werden solle.
Der Antragsteller führt zur Begründung der vom Normenkontroll-
gericht zugelassenen Revision, mit der er nur noch die Nich-
tigerklärung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HundehVO M-V an-
strebt, im Wesentlichen aus, der Bullmastiff sei in den 80er
Jahren des 19. Jahrhunderts zum Schutz vor Wilddieben gezüch-
tet worden und werde heute sowohl als Polizei- wie auch als
Familienhund genutzt. Das angegriffene Urteil behandele die
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Rechtmäßigkeit der so genannten Rasseliste des § 2 Abs. 3
Satz 1 HundehVO M-V nur allgemein und ohne Bezug auf den Bull-
mastiff. Die Hundehalterverordnung sei insgesamt nichtig, da
sie den räumlichen Geltungsbereich nicht erkennen lasse. Fer-
ner sei von Verstößen gegen das Tierschutzgesetz und den Da-
tenschutz auszugehen. § 2 Abs. 3 Satz 1 HundehVO M-V sei weder
mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch mit Art. 3
Abs. 1 GG vereinbar; daraus resultiere die Gesamtnichtigkeit
des die Rasseliste betreffenden Verordnungsteils. Der An-
tragsteller ist der Auffassung, "zwingende Folge" der Erfas-
sung eines Hundes in der Rasseliste seien Eingriffe in die
Freiheitssphäre des Halters durch das verhaltensregelnde Ver-
ordnungsregime. Der Verordnungsgeber habe gleichheitswidrig
zwischen Hunden der in § 2 Abs. 3 Satz 1 HundehVO M-V aufge-
listeten Rassen und nicht erfassten Rassen, wie z.B. Schäfer-
hund, Rottweiler, Boxer und Dobermann, die über ein vergleich-
bares Gefahrenpotenzial verfügten, differenziert. Der Ge-
sichtspunkt der praktischen Durchführbarkeit der Verordnung
und der Bekanntheitsgrad bestimmter Rassen seien ebenso wenig
sachliche Differenzierungskriterien wie das Argument der feh-
lenden Verwaltungskapazität. Für die abstrakte Beurteilung des
Gefahrenpotenzials sei unerheblich, ob eine Gefahr bekannter
sei als die andere.
Der Antragsgegner beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Ferner beantragt er im Wege der Anschlussrevision,
das angefochtene Urteil zu ändern und den Normenkontrollan-
trag des Antragstellers auch insoweit abzulehnen, als er
§ 2 Abs. 4 Satz 2 der Hundehalterverordnung des Landes
Mecklenburg-Vorpommern vom 4. Juli 2000 betrifft.
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Der Antragsteller beantragt,
die Anschlussrevision zurückzuweisen.
Zur Begründung seiner Anschlussrevision trägt der Antragsgeg-
ner vor, die aufgehobene Regelung sei von erheblicher Bedeu-
tung für die Gefahrenabwehr. Die in § 2 Abs. 4 Satz 1
HundehVO M-V normierte Befugnis der Ordnungsbehörde zur unver-
änderlichen Kennzeichnung gefährlicher Hunde genüge nicht, ge-
fährliche Hunde zu kennzeichnen.
Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich zur Frage der
Rechtmäßigkeit von Rasselisten in Rechtsvorschriften zur Be-
kämpfung gefährlicher Hunde geäußert.
II.
1. Die Revision des Antragstellers, welche die Ablehnung sei-
nes Normenkontrollantrags gegen § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5
HundehVO M-V betrifft, ist begründet und führt in diesem Um-
fang zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurück-
verweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht (§ 144
Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Das angefochtene Urteil beruht in-
soweit auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1
Nr. 2 VwGO). Eine Entscheidung in der Sache erfordert die Aus-
legung des Landesrechts, die dem Oberverwaltungsgericht über-
lassen wird (§ 173 VwGO, § 563 Abs. 4 ZPO).
a) Die Aufnahme bestimmter Hunderassen in die Liste des § 2
Abs. 2 HundehVO M-V und die Behandlung der Hunde dieser Rassen
als "gefährliche Hunde" im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1
HundehVO M-V lassen sich nicht als Maßnahmen zur Abwehr der
von solchen Hunden ausgehenden Gefahren rechtfertigen. Die ge-
genteilige Ansicht des Oberverwaltungsgerichts verstößt gegen
Bundesrecht.
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aa) Die Hundehalterverordnung ist auf die gesetzliche Verord-
nungsermächtigung in § 17 Abs. 1 des Gesetzes über die öffent-
liche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (Si-
cherheits- und Ordnungsgesetz - SOG M-V) in der Fassung vom
25. März 1998 (GVOBl M-V S. 335) gestützt. Danach können u.a.
die Landesordnungsbehörden zur Abwehr von Gefahren für die öf-
fentliche Sicherheit oder Ordnung Verordnungen erlassen (Ver-
ordnungen über die öffentliche Sicherheit oder Ordnung). Bun-
desrecht gebietet, den in § 17 Abs. 1 SOG M-V verwendeten Be-
griff der Abwehr von Gefahren in dem das Polizei- und Ord-
nungsrecht der Länder der Bundesrepublik Deutschland prägen-
den, überkommenen Sinn auszulegen. Mit diesem Inhalt ent-
spricht die Vorschrift dem aus dem Grundgesetz folgenden Gebot
der Bestimmtheit von Verordnungsermächtigungen, das aber
zugleich auf die Grenzen der Ermächtigung nach Maßgabe des Ur-
teils des Senats vom 3. Juli 2002 - BVerwG 6 CN 8.01 - (DVBl
2002, 1562) führt:
Aus dem rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungssystem
(Art. 20 Abs. 1 und 3, Art. 28 Abs. 1 GG) folgt, dass in einem
Gesetz, durch das die Exekutive zum Erlass von Rechtsverord-
nungen ermächtigt wird, Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten
Ermächtigung bestimmt werden. Das Parlament soll sich seiner
Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch
entäußern können, dass es einen Teil der Gesetzgebungsmacht
der Exekutive überträgt, ohne die Grenzen dieser Kompetenzen
bedacht und diese nach Tendenz und Programm so genau umrissen
zu haben, dass schon aus der Ermächtigung erkennbar und vor-
hersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll.
Das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit stellt die notwen-
dige Ergänzung und Konkretisierung des aus dem Demokratie- und
Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatzes des Vorbehalts des
Gesetzes dar. Welche Bestimmtheitsanforderungen im Einzelnen
erfüllt sein müssen, hängt von den Besonderheiten des jeweili-
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gen Regelungsgegenstandes sowie der Intensität der Maßnahme,
namentlich der Grundrechtsrelevanz der Regelung ab (vgl.
BVerfGE 58, 257, 277 f.; BVerwGE 110, 253, 255 f.).
Die Verwendung der polizeilichen Generalklauseln als Grundlage
sicherheitsbehördlicher Verordnungen ist unter den genannten
verfassungsrechtlichen Aspekten unbedenklich, wenn und soweit
sie in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und
Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert, in
ihrer Bedeutung geklärt und im juristischen Sprachgebrauch
verfestigt sind (vgl. BVerfGE 54, 143, 144). § 17 Abs. 1
SOG M-V ermächtigt die darin genannten Stellen zum Erlass von
Verordnungen zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Si-
cherheit oder Ordnung. Dabei handelt es sich, wie aus der Er-
mächtigung zum Erlass einer normativen Regelung ohne weiteres
folgt und vom Oberverwaltungsgericht auch in seiner Entschei-
dung vorausgesetzt worden ist (UA S. 17), um abstrakte Gefah-
ren. Eine abstrakte Gefahr ist nach herkömmlichem Verständnis,
das dem angefochtenen Urteil ersichtlich zugrunde liegt, immer
dann anzunehmen, wenn mit bestimmten Lebenssachverhalten nach
den Gesetzen der Erfahrung generell mit hinreichender Wahr-
scheinlichkeit Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder
Ordnung verbunden sind.
Der klassische Gefahrenbegriff, der auch § 17 Abs. 1 SOG M-V
zugrunde liegt, ist dadurch gekennzeichnet, dass "aus gewissen
gegenwärtigen Zuständen nach dem Gesetz der Kausalität gewisse
andere Schaden bringende Zustände und Ereignisse erwachsen
werden" (vgl. Urteil des PrOVG vom 15. Oktober 1894, PrVBl 16,
125, 126). Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht aus-
schließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand be-
stimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint wer-
den können, begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen
Gefahrenverdacht oder ein "Besorgnispotenzial" (vgl. Urteil
vom 19. Dezember 1985 - BVerwG 7 C 65.82 - BVerwGE 72, 300,
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315). Das allgemeine Gefahrenabwehrrecht bietet keine Handha-
be, derartigen Schadensmöglichkeiten im Wege der Vorsorge zu
begegnen. Die Befugnisse und Ermächtigungen der Verwaltungsbe-
hörden nach dem Sicherheits- und Ordnungsgesetz des Landes
Mecklenburg-Vorpommern umfassen Vorsorgemaßnahmen nicht.
Maßgebliches Kriterium zur Feststellung einer Gefahr ist die
hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (vgl.
Urteil vom 26. Februar 1974 - BVerwG 1 C 31.72 - BVerwGE 45,
51, 57). Das trifft nicht nur für die "konkrete" Gefahr zu,
die zu Abwehrmaßnahmen im Einzelfall berechtigt, sondern auch
für die den sicherheitsrechtlichen Verordnungen zugrunde lie-
gende "abstrakte" Gefahr. Die abstrakte Gefahr unterscheidet
sich von der konkreten Gefahr nicht durch den Grad der Wahr-
scheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den Be-
zugspunkt der Gefahrenprognose oder, wie der 4. Senat des Bun-
desverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 26. Juni 1970
- BVerwG 4 C 99.67 - (DÖV 1970, 713, 715) gesagt hat, durch
die Betrachtungsweise: Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in
dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer
Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich
gerechnet werden kann; eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn
eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von
Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass
mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall
einzutreten pflegt und daher Anlass besteht, diese Gefahr mit
generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz zu bekämp-
fen; das hat zur Folge, dass auf den Nachweis der Gefahr eines
Schadenseintritts im Einzelfall verzichtet werden kann (vgl.
auch Beschluss vom 24. Oktober 1997 - BVerwG 3 BN 1.97 -
Buchholz 418.9 TierSchG Nr. 10). Auch die Feststellung einer
abstrakten Gefahr verlangt mithin eine in tatsächlicher Hin-
sicht genügend abgesicherte Prognose: Es müssen - bei abs-
trakt-genereller Betrachtung - hinreichende Anhaltspunkte vor-
handen sein, die den Schluss auf den drohenden Eintritt von
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Schäden rechtfertigen. Dabei liegt es im Wesen von Prognosen,
dass die vorhergesagten Ereignisse wegen anderer als der er-
warteten Geschehensabläufe ausbleiben können. Von dieser mit
jeder Prognose verbundenen Unsicherheit ist die Ungewissheit
zu unterscheiden, die bereits die tatsächlichen Grundlagen der
Gefahrenprognose betrifft. Ist die Behörde mangels genügender
Erkenntnisse über die Einzelheiten der zu regelnden Sachver-
halte und/oder über die maßgeblichen Kausalverläufe zu der er-
forderlichen Gefahrenprognose nicht im Stande, so liegt keine
Gefahr, sondern - allenfalls - eine mögliche Gefahr oder ein
Gefahrenverdacht vor. Zwar kann auch in derartigen Situationen
ein Bedürfnis bestehen, zum Schutz der etwa gefährdeten
Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger Rechtsgüter wie Leben
und körperlicher Unversehrtheit von Menschen, Freiheitsein-
schränkungen anzuordnen. Doch beruht ein solches Einschreiten
nicht auf der Feststellung einer Gefahr; vielmehr werden dann
Risiken bekämpft, die jenseits des Bereichs feststellbarer Ge-
fahren verbleiben. Das setzt eine Risikobewertung voraus, die
- im Gegensatz zur Feststellung einer Gefahr - über einen
Rechtsanwendungsvorgang weit hinausgeht und mehr oder weniger
zwangsläufig neben der Beurteilung der Intensität der beste-
henden Verdachtsmomente eine Abschätzung der Hinnehmbarkeit
der Risiken sowie der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der in Be-
tracht kommenden Freiheitseinschränkungen in der Öffentlich-
keit einschließt, mithin - in diesem Sinne - "politisch" ge-
prägt oder mitgeprägt ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten
Senats - 3. Kammer - vom 28. Februar 2002 - 1 BvR 1676/01 -
DVBl 2002, 614). Eine derart weit reichende Bewertungs- und
Entscheidungskompetenz steht den Polizei- und Ordnungsbehörden
aufgrund der Verordnungsermächtigungen nach Art des § 17
Abs. 1 SOG M-V nicht zu. Denn es wäre mit den dargelegten
Grundsätzen der Bestimmtheit gesetzlicher Ermächtigungen zu
Rechtsverordnungen der Exekutive und des Vorbehalts des Geset-
zes nicht vereinbar, wenn die Exekutive ohne strikte Bindung
an den überlieferten Gefahrenbegriff kraft eigener Bewertung
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über die Notwendigkeit oder Vertretbarkeit eines Verordnungs-
erlasses entscheiden könnte. Die rechtsstaatliche und demokra-
tische Garantiefunktion der sicherheitsrechtlichen Verord-
nungsermächtigungen wäre in Frage gestellt, könnte die Exeku-
tive nach diesen Vorschriften bereits einen mehr oder minder
begründeten Verdacht zum Anlass für generelle Freiheitsein-
schränkungen nehmen. Vielmehr ist es Sache des zuständigen Ge-
setzgebers, sachgebietsbezogen darüber zu entscheiden, ob, mit
welchem Schutzniveau (vgl. hierzu Urteil vom 19. Dezember
1985, a.a.O., S. 316) und auf welche Weise Schadensmöglichkei-
ten vorsorgend entgegengewirkt werden soll, die nicht durch
ausreichende Kenntnisse belegt, aber auch nicht auszuschließen
sind (vgl. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungs-
recht, 2002, S. 65 m.w.N.). Allein der Gesetzgeber ist befugt,
unter Abwägung der widerstreitenden Interessen die Rechts-
grundlagen für Grundrechtseingriffe zu schaffen, mit denen Ri-
siken vermindert werden sollen, für die - sei es aufgrund neu-
er Verdachtsmomente, sei es aufgrund eines gesellschaftlichen
Wandels oder einer veränderten Wahrnehmung in der Bevölke-
rung - Regelungen gefordert werden. Das geschieht üblicherwei-
se durch eine Absenkung der Gefahrenschwelle in dem ermächti-
genden Gesetz von der "Gefahrenabwehr" zur "Vorsorge" gegen
drohende Schäden (vgl. etwa § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG, § 5 Abs. 1
Nr. 2 BImSchG, § 6 Abs. 2 GenTG, § 7 BBodSchG). Demgegenüber
ist in § 17 Abs. 1 SOG M-V ausschließlich von "Abwehr von Ge-
fahren", nicht hingegen von "Vorsorge" oder "Vorbeugung" die
Rede. Auch darin zeigt sich positivrechtlich, dass dem Gefah-
renbegriff nicht aus sich heraus eine Erstreckung auf die Auf-
gabe der Risiko- oder Gefahrenvorsorge innewohnt.
bb) Das Oberverwaltungsgericht hat hinsichtlich der in § 2
Abs. 2 HundehVO M-V aufgezählten Hunderassen eine abstrakte
Gefahr im Sinne des § 17 Abs. 1 SOG M-V für gegeben erachtet,
ohne die Voraussetzungen einer solchen Gefahr in Abgrenzung
von denjenigen einer bloßen Gefahrenvorsorge ordnungsgemäß
- 13 -
festzustellen. Es hat hierzu ausgeführt (UA S. 17), Maßstab
für die Aufnahme einer Rasse in die Aufzählung des § 2 Abs. 3
Satz 1 HundehVO M-V sei die von den dort aufgeführten Hunde-
rassen ausgehende abstrakte Gefahr für den Menschen bzw. ande-
re Tiere. Diese abstrakte Gefahr manifestiere sich darin, dass
die Hunde aufgrund ihrer Körpergröße, ihres Körperbaus und zum
Teil auch wegen ihrer ursprünglichen Zuchtauswahl für bestimm-
te Einsatzfelder einer besonders qualifizierten Haltung be-
dürften. Anderenfalls sei "nicht auszuschließen", dass diese
Hunde aufgrund ihrer Veranlagung Menschen und andere Tiere an-
fielen und aufgrund ihrer Körper- und Beißkraft diesen erheb-
liche Verletzungen zufügten. Diese Erwägungen überschreiten
den der Verordnungsermächtigung zugrunde liegenden herkömmli-
chen Gefahrenbegriff. Dass der Eintritt von Schäden nicht
ausgeschlossen werden kann, reicht zur Annahme einer Gefahr im
polizeirechtlichen Sinne nicht aus. Der Hundehalterverordnung
liegt auch ein derartiges Verständnis ersichtlich nicht
zugrunde, denn sie knüpft die hier in Rede stehenden Beschrän-
kungen der Hundehaltung nicht an die Haltung von Hunden allge-
mein, sondern an die Haltung bestimmter, von ihr als "gefähr-
liche Hunde" bezeichneter Tiere an, denen sie in § 2 Abs. 3
Satz 1 HundehVO M-V grundsätzlich alle Hunde der dort aufge-
zählten Rassen zurechnet. Ein Beleg dafür, dass allein die Zu-
gehörigkeit zu einer der Rassen des § 2 Abs. 3 Satz 1
HundehVO M-V dem jeweiligen Hund eine "über das natürliche Maß
hinausgehende Kampfbereitschaft, Angriffslust, Schärfe oder
eine andere in ihrer Wirkung vergleichbare Mensch oder Tier
gefährdende Eigenschaft" verleiht (§ 2 Abs. 3 Satz 1 i.V.m.
§ 2 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 Satz 2 HundehVO M-V) lässt sich
den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts nicht entnehmen.
Im Gegenteil gelangt das Gericht auch unter Berücksichtigung
der rassespezifischen Merkmale der in der Regelung angespro-
chenen Hunde lediglich zu der Erkenntnis, dass sich Schäden
nicht ausschließen lassen. Hinzu kommt, dass das Oberverwal-
tungsgericht die nicht auszuschließende Gefahr an die ungenü-
- 14 -
gende Haltung der Hunde geknüpft hat. Damit hat es zwei mögli-
che Ursachen für eine Schädigung von Rechtsgütern nebeneinan-
der erwähnt. Das zeigt, dass nach seinen Feststellungen die
Zugehörigkeit zu einer Rasse allein den maßgeblichen Gefahren-
tatbestand nicht zu begründen vermag.
Die vom Oberverwaltungsgericht angenommene Gefährdungslage
weicht demnach nicht von derjenigen ab, von der der erkennende
Senat in seinem bereits erwähnten Urteil vom 3. Juli 2002
- BVerwG 6 CN 8.01 - (a.a.O.) zur niedersächsischen Gefahr-
tier-Verordnung ausgegangen ist. Danach lässt sich aus der Zu-
gehörigkeit zu einer Hunderasse allein nach dem Erkenntnis-
stand der Fachwissenschaft nicht ableiten, dass von den Hunde-
individuen Gefahren ausgehen. Zwar besteht der Verdacht, dass
Hunde bestimmter Rassen ein genetisch bedingtes übersteigertes
Aggressionsverhalten aufweisen. Es ist jedoch in der Wissen-
schaft umstritten, welche Bedeutung diesem Faktor neben zahl-
reichen anderen Ursachen - Erziehung und Ausbildung des Hun-
des, Sachkunde und Eignung des Halters sowie situative Ein-
flüsse - für die Auslösung aggressiven Verhaltens zukommt.
Insbesondere liegen dazu weder aussagekräftige Statistiken
oder sonstiges belastbares Erfahrungswissen noch genetische
Untersuchungen vor. Dementsprechend hat sich das Oberverwal-
tungsgericht bei der Erörterung der einzelnen in § 2 Abs. 3
Satz 1 HundehVO M-V aufgezählten Rassen und ihrer Abgrenzung
von anderen, nicht berücksichtigten Rassen (UA S. 19 f.) nicht
auf gesicherte Erkenntnisse über besonders gefährliche Hunde-
rassen stützen können, sondern - gewissermaßen ersatzweise -
(auch) auf Gesichtspunkte der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz
von Rassen in der Bevölkerung zurückgegriffen, die für die
Feststellung einer Gefahr im Sinne des allgemeinen Rechts der
Gefahrenabwehr ohne Belang sind.
Auch der vom Antragsgegner angesprochene Grundsatz, dass im
Hinblick auf die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter - Leben
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und körperliche Unversehrtheit von Menschen - bereits die ent-
fernte Möglichkeit eines Schadenseintritts zur Begründung ei-
ner (abstrakten) Gefahr ausreichen kann, rechtfertigt die An-
nahme einer (erhöhten) Gefährlichkeit bestimmter Hunderassen
nicht. Richtig ist, dass der Grad der Wahrscheinlichkeit des
Schadenseintritts, der für die Annahme einer Gefahr erforder-
lich ist, von der Größe und dem Gewicht des drohenden Schadens
abhängt: Die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts muss um-
so größer sein, je geringer der möglicherweise eintretende
Schaden ist, und sie darf umso kleiner sein, je schwerer der
etwa eintretende Schaden wiegt (vgl. Urteil vom 2. Juli 1991
- BVerwG 1 C 4.90 - BVerwGE 88, 348, 351). Gleichwohl muss
auch dann, wenn ein schwerwiegender Schaden befürchtet wird,
aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen
fachkundiger Stellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit
für den Eintritt dieses Schadens sprechen. Von solchen (ech-
ten) Gefahrenlagen sind diejenigen Fälle zu unterscheiden, in
denen - wie hier - wegen erheblicher Erkenntnislücken ledig-
lich ein Gefahrenverdacht besteht. In diesen Fällen kommen
nach dem allgemeinen Recht der Gefahrenabwehr in erster Linie
Maßnahmen zur weiteren Erforschung des Sachverhaltes in Be-
tracht. Dagegen sind Maßnahmen, die über die Abklärung des
Verdachts hinaus auf die Abwehr der vermuteten Gefahr gerich-
tet sind, ohne spezialgesetzliche Ermächtigung zur Gefahren-
vorsorge grundsätzlich nicht zulässig, und zwar auch dann
nicht, wenn höchstrangige Rechtsgüter auf dem Spiel stehen.
Zwar setzt die Feststellung einer Gefahr nicht notwendig die
genaue Kenntnis der zum Schadenseintritt führenden Kausalver-
läufe voraus; vielmehr lässt sich ein bestehender Ursachenzu-
sammenhang und damit die hinreichende Wahrscheinlichkeit des
Schadenseintritts - namentlich wenn es um die Feststellung
abstrakter Gefahren geht - auch indirekt mit Hilfe statisti-
scher Methoden nachweisen. Doch liegen, wie bereits erwähnt,
hinsichtlich der erhöhten Gefährlichkeit bestimmter Hunderas-
sen derzeit weder aussagekräftige Statistiken noch sonstige
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gesicherte Erkenntnisse vor, auf die der Antragsgegner sich
beim Erlass der Hundehalterverordnung hätte stützen können.
b) Gleichwohl ist die vom Antragsteller angegriffene Bestim-
mung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HundehVO M-V nicht wegen Feh-
lens einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage
für nichtig zu erklären. Denn es erscheint nicht ausgeschlos-
sen, dass die Rasseliste in § 2 Abs. 3 Satz 1 HundehVO M-V vom
Oberverwaltungsgericht unter Berücksichtigung der vorstehenden
Ausführungen des Senats sowie in Anbetracht der den Hundehal-
tern in § 2 Abs. 3 Satz 2 HundehVO M-V eingeräumten Möglich-
keit, die Eigenschaft ihres Hundes als gefährlicher Hund zu
widerlegen, abweichend von seinem bisher geäußerten Normver-
ständnis nicht als eine Regelung zur Gefahrenabwehr, sondern
als eine Regelung zur Gefahrerforschung ausgelegt wird und
dass sie als solche Bestand hat.
Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 HundehVO M-V wird die Eigenschaft der
von der Rasseliste erfassten Hunde als gefährliche Hunde le-
diglich "vermutet". Demgemäß ist in § 2 Abs. 3 Satz 2
HundehVO M-V bestimmt, dass der Hundehalter der örtlichen Ord-
nungsbehörde im Einzelfall, insbesondere durch eine Bescheini-
gung des Amts- oder eines durch diesen beauftragten Tierarz-
tes, nachweisen kann, dass sein Hund keine gesteigerte Kampf-
bereitschaft, Angriffslust, Schärfe oder andere vergleichbare
Eigenschaft aufweist. In diesen Fällen stellt die Ordnungs-
behörde gemäß § 2 Abs. 3 Satz 4 HundehVO M-V über den Nachweis
des Nichtvorliegens gefahrdrohender Eigenschaften eine Be-
scheinigung aus. Ein derartiger Hund wird nicht länger als ein
gefährlicher Hund angesehen, sondern unterliegt grundsätzlich
nur den Regelungen, die für Hunde allgemein gelten (§ 1 Abs. 2
bis 5 HundehVO M-V).
Die Widerlegungsmöglichkeit nach § 2 Abs. 3 Satz 2
HundehVO M-V hat, sofern der Hundehalter seinen Interessen
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entsprechend den Hund dem Tierarzt vorführt, regelmäßig zur
Folge, dass die mit der Zugehörigkeit des Hundes zu einer be-
stimmten Rasse ausgelöste Vermutung der Gefährlichkeit des
Hundes in der einen oder anderen Richtung, d.h. im Sinne des
Nichtvorliegens oder des Vorliegens der vermuteten Eigenschaft
geklärt wird: Stellt sich bei der Überprüfung des Hundes he-
raus, dass er nicht die befürchtete Aggressivität besitzt, so
besteht kein Grund, ihn den für gefährliche Hunde geltenden
Bestimmungen (§§ 3 ff. HundehVO M-V) zu unterwerfen. Bestätigt
sich der Verdacht hingegen, so ist der Hund tatsächlich ge-
fährlich und den entsprechenden Bestimmungen zu Recht unter-
worfen. Die Regelung ähnelt daher - jedenfalls im Ergebnis -
einer dem Hundehalter durch Verordnung auferlegten Verpflich-
tung, seinen Hund zwecks Erforschung eines bestehenden Gefah-
renverdachts beim Tierarzt vorzuführen, welche von der Behörde
nötigenfalls im Wege des Verwaltungszwangs durchgesetzt wird.
Da die Erwägungen, die für die Notwendigkeit einer spezialge-
setzlichen Grundlage für Maßnahmen der Gefahrenvorsorge spre-
chen, auf Maßnahmen der Gefahrerforschung nicht zutreffen, hat
der Senat bereits in seinem Urteil vom 3. Juli 2002 - 6 CN
8.01 - (a.a.O.) die Aufstellung eines verordnungsrechtlichen
Gefahrermittlungsprogramms auf der Grundlage der polizeirecht-
lichen Generalermächtigung nach Art des § 17 Abs. 1 SOG M-V
für bundesrechtlich zulässig erachtet. Daran wird festgehal-
ten. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Regelung in
§ 2 Abs. 3 HundehVO M-V in § 17 Abs. 1 SOG M-V eine ausrei-
chende Rechtsgrundlage findet, sofern sie als ein Gefahrer-
mittlungsprogramm ausgelegt werden kann. Ob eine solche Ausle-
gung möglich ist, hat das Oberverwaltungsgericht bislang nicht
geprüft. Ebenso wenig hat es geprüft, ob die Ermächtigung zum
Erlass von Verordnungen zur Gefahrenabwehr in § 17 Abs. 1 SOG
M-V den Verordnungsgeber zugleich auch dazu ermächtigt, abs-
trakt-generelle Regelungen zur Gefahrermittlung zu treffen.
Beide Fragen betreffen das Landesrecht, auf dessen Verletzung
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die Revision gemäß § 137 Abs. 1 VwGO nicht gestützt werden
kann. Der Senat überlässt daher die Beantwortung dieser durch
die vorliegende Entscheidung aufgeworfenen Fragen dem hierfür
vorrangig zuständigen Oberverwaltungsgericht und sieht von ei-
ner eigenen Auslegung des Landesrechts gemäß § 173 VwGO i.V.m.
§ 563 Abs. 4 ZPO in Ausübung des ihm insoweit zustehenden Er-
messens ab.
c) Die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Oberverwal-
tungsgericht erübrigt sich nicht deswegen, weil über den Nor-
menkontrollantrag der Antragsteller unabhängig von dem zuvor
erörterten Ermächtigungsmangel aus einem anderen Grunde ab-
schließend zu Gunsten des Antragstellers entschieden werden
könnte (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
aa) Entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers stößt die
Regelung über gefährliche Hunde in der Hundehalterverordnung
(§ 1 Abs. 1, §§ 2 ff.), deren Bestandteil die Rasseliste gemäß
§ 2 Abs. 3 Satz 1 HundehVO M-V ist, aus der Sicht des Bundes-
rechts nicht auf grundsätzliche Bedenken.
Gemäß § 1 Abs. 1 HundehVO M-V ist die nichtgewerbliche Zucht,
Haltung und Führung von gefährlichen Hunden verboten, wenn
keine Erlaubnis nach § 4 vorliegt. Das Land war nicht durch
Bundesrecht gehindert, Regelungen über das Halten, nichtge-
werbliche Züchten und Führen von Hunden zu erlassen. Die Ge-
setzgebungskompetenz folgt aus Art. 70 Abs. 1 GG. Die Hunde-
halterverordnung dient nicht dem Tierschutz (Art. 74 Abs. 1
Nr. 20 GG) und betrifft wegen der Herausnahme der gewerblichen
Zucht auch nicht das Gewerberecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG).
Ob eine Erstreckung der Regelungen auf die gewerbliche Zucht
möglich gewesen wäre, ist hier ohne Bedeutung. Die Herausnahme
der gewerblichen Zucht aus dem Anwendungsbereich der Verord-
nung findet vor Art. 3 Abs. 1 GG seine Rechtfertigung darin,
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dass die gewerbsmäßige Zucht und Haltung von Wirbeltieren be-
reits nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 TierSchG der Erlaubnis bedarf.
Bundesrecht verbietet grundsätzlich nicht, durch Rechtsverord-
nung ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu begrün-
den. Eine die Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) einschrän-
kende Vorschrift, als die sich das genannte Verbot mit Erlaub-
nisvorbehalt darstellt, bedarf einer hinreichend bestimmten
gesetzlichen Grundlage. Wenn ein Gesetz die Ausübung von Hand-
lungsbefugnissen durch die Einführung eines Verbots mit Er-
laubnisvorbehalt regelt, muss der Gesetzgeber die Vorausset-
zungen für die Erlaubniserteilung selbst regeln und darf sie
nicht dem Ermessen der Verwaltung anheim geben (BVerfGE 80,
137, 161). Das schließt die Einführung eines Verbots mit Er-
laubnisvorbehalt durch eine Rechtsverordnung nicht grundsätz-
lich aus, wenn die jeweilige Rechtsgrundlage dies zulässiger-
weise dem Verordnungsgeber überantwortet (vgl. BVerwGE 45,
331, 332 ff.). Die Einführung eines Präventivverbots mit Er-
laubnisvorbehalt gehört zu den herkömmlichen polizeirechtli-
chen Maßnahmen (vgl. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungs-
recht, 12. Aufl. 1995, Rn. 603). Als eine solche Maßnahme kann
ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt durch die allgemeine poli-
zeirechtliche Verordnungsermächtigung gedeckt sein, was das
Oberverwaltungsgericht in Bezug auf § 17 Abs. 1 SOG M-V
gleichfalls bislang nicht geprüft hat.
bb) Die Aufstellung einer Liste von Hunderassen mit dem Ziel,
die Hunde dieser Rassen Maßnahmen der Gefahrerforschung zu un-
terwerfen und sie in dem hiernach erforderlichen Umfang als
gefährliche Hunde zu behandeln, ist nicht von vornherein mit
Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Wie sich aus den vorangegangenen
Ausführungen zu 1. a) bb) ergibt, besteht bei bestimmten Hun-
derassen, namentlich mit Blick auf die zugrunde liegende
Zuchtauswahl, nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft zwar
keine gesicherte Erkenntnis, wohl aber - immerhin - der Ver-
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dacht, dass die betreffenden Hunde ein genetisch bedingtes
übersteigertes Aggressionsverhalten aufweisen. Daher ist der
Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt, wenn nach dem Wil-
lens des Verordnungsgebers Hunde, die einer solcherart mit
Grund verdächtigten Rasse angehören, im Unterschied zu anderen
Hunden daraufhin überprüft werden, ob sie in der befürchteten
Weise gefährlich sind oder nicht. Dasselbe gilt für die Be-
handlung derartiger Hunde als gefährliche Hunde, wenn sich bei
ihrer Überprüfung der Verdacht eines übersteigerten Aggressi-
onsverhaltens bestätigt. Welche einzelnen Hunderassen der Ver-
ordnungsgeber ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in eine der
Gefahrerforschung dienende Liste aufnehmen und welche er unbe-
rücksichtigt lassen darf, hängt demnach vom Bestehen eines be-
gründeten Gefahrenverdachts ab. Die Feststellung eines solchen
Verdachts setzt für jede in Betracht kommende Rasse die Fest-
stellung objektiver Anhaltspunkte voraus, die auf ein rasse-
spezifisches übersteigertes Aggressionsverhalten hindeuten
können. Derartige Feststellungen können nicht durch allgemeine
Erwägungen zur Nichtakzeptanz oder Akzeptanz der jeweiligen
Rasse in der Bevölkerung ersetzt werden, wie sie das Oberver-
waltungsgericht bei der Erörterung der einzelnen in die Liste
nach § 2 Abs. 3 Satz 1 HundehVO M-V aufgenommenen Hunde ange-
stellt hat. Das Oberverwaltungsgericht muss sich vielmehr,
wenn und soweit dies zur Entscheidung des vorliegenden Rechts-
streits erforderlich ist, Gewissheit darüber verschaffen, ob
hinsichtlich der aufgelisteten Rassen im Verhältnis zu anderen
Rassen ein erhöhtes Verdachtspotential besteht.
2. Das Oberverwaltungsgericht wird bei der im weiteren Verfah-
ren in erster Linie vorzunehmenden Prüfung, ob die Regelung in
§ 2 Abs. 3 HundehVO M-V als Gefahrermittlungsprogramm Bestand
hat, sein Augenmerk auch auf die Vorschrift des § 7 Abs. 3
HundehVO M-V richten müssen. Danach sind die Vorschriften des
§ 2 Abs. 4 Satz 1 (Pflicht zur Kennzeichnung gefährlicher Hun-
de), des § 3 Abs. 1 (Verbot der Mitnahme gefährlicher Hunde an
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bestimmte Orte) und des § 3 Abs. 5 (Überlassung gefährlicher
Hunde an Dritte) auch auf die Hunde der Rasseliste gemäß § 2
Abs. 3 Satz 1 anzuwenden, bei denen die Vermutung der Gefähr-
lichkeit im Einzelfall widerlegt wurde. Da die Hundehalterver-
ordnung mit dieser Bezugnahme auf die für gefährliche Hunde
geltenden Vorschriften offenkundig Zwecke verfolgt, die über
das Ziel der Gefahrerforschung hinausgehen und unmittelbar der
Gefahrenabwehr dienen, wird sich dem Oberverwaltungsgericht,
sofern es in § 17 Abs. 1 SOG M-V eine ausreichende gesetzliche
Ermächtigung zur Normierung eines Gefahrermittlungsprogramms
erblickt, die Frage stellen, ob § 7 Abs. 2 HundehVO M-V die
Annahme eines solchen in § 2 Abs. 3 HundehVO M-V verwirklich-
ten Gefahrermittlungsprogramms hindert oder ob im Interesse
einer möglichst weitgehenden Normerhaltung angenommen werden
kann, dass § 2 Abs. 3 HundehVO M-V auch ohne die - in der amt-
lichen Überschrift zu § 7 als "Ausnahmeregelung" bezeichnete -
Vorschrift des § 7 Abs. 2 HundehVO M-V Bestand hat.
3. Die Anschlussrevision, die die Kennzeichnungspflicht nach
§ 2 Abs. 4 Satz 2 HundehVO M-V betrifft, ist unbegründet. Die
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beruht insoweit nicht
auf einer Verletzung revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO).
Das Oberverwaltungsgericht hat diese Vorschrift als ungültig
angesehen, weil sie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßig-
keit verstoße. Mit dieser Beurteilung hat das Oberverwaltungs-
gericht kein Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Im hier bestehenden Regelungszusammenhang ist die Geltung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch Landesrecht, nämlich in
§ 15 SOG M-V, angeordnet. Daher muss in Ermangelung gegentei-
liger Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, dass das Ober-
verwaltungsgericht seine Prüfung an der bereichsspezifischen
landesrechtlichen Norm ausgerichtet und § 2 Abs. 4 Satz 2
HundehVO M-V in Anwendung dieser Norm für ungültig erklärt
hat. Unter diesen Umständen liegt eine Verletzung von Bundes-
recht selbst dann nicht vor, wenn der Verhältnismäßigkeits-
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grundsatz nach § 15 SOG M-V denselben Inhalt hat, wie er sich
für den hier in Rede stehenden Regelungsbereich aus dem bun-
desrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt.
4. Die Entscheidung über die Kosten kann nur einheitlich ge-
troffen werden. Sie muss daher auch hinsichtlich der An-
schlussrevision der das Verfahren beendenden Schlussentschei-
dung vorbehalten bleiben.
Bardenhewer Hahn Gerhardt
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfah-
ren auf 4 090 € (entspricht 8 000 DM) festgesetzt.
Bardenhewer Hahn Graulich