Urteil des BVerwG vom 09.01.2013

BVerwG: rechtliches gehör, grundstück, gemeinde, bebauungsplan, fahrbahn, ermessen, beobachter, bier, abrechnung, rüge

BVerwG 9 B 33.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 33.12
VG Kassel - 14.12.2009 - AZ: VG 6 K 250/07.KS
Hessischer VGH - 13.06.2012 - AZ: VGH 5 A 893/11
In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. Januar 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Christ und Prof. Dr. Korbmacher
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil
des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 13. Juni 2012 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 37 777,30 €
festgesetzt.
Gründe
1 Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.
2 1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr
die Beschwerde beimisst.
3 Die Beschwerde bezeichnet folgende Fragen als grundsätzlich bedeutsam:
„1. Welche Mindestanforderungen hinsichtlich der Fahrbahnbreite und der durchgehenden
tatsächlichen Befahrbarkeit mit Lkw von 40 t bzw. 16 t oder 12 t sind an eine einheitliche
Erschließungsstraße im Sinne des § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB bei einer für den öffentlichen
Straßenverkehr gewidmeten Straße hinsichtlich der Fahrbahn unter Berücksichtigung der
Ermächtigung des § 132 Nr. 1 BauGB zu stellen, wenn ein durch wirksamen Bebauungsplan
ausgewiesenes Gewerbegrundstück erschlossen werden soll, welches - wegen einer
vorhandenen Erschließung - bereits seit Jahren intensiv genutzt und insbesondere regelmäßig
von Schwerlastverkehr angefahren wird?
2. Führt eine Änderung der Befahrbarkeit mit Lkw von 40 t bzw. 16 t oder 12 t ab einer
bestimmten Stelle einer sich in ihren Merkmalen verändernden und abknickenden Straße zu der
Rechtsfolge des Vorliegens zweier Erschließungsanlagen im Sinne des § 130 Abs. 2 S. 1
BauGB, wenn ein durch wirksamen Bebauungsplan ausgewiesenes Gewerbegrundstück
erschlossen werden soll, welches - wegen einer vorhandenen Erschließung - bereits intensiv
genutzt und insbesondere regelmäßig aus einer anderen Richtung von Schwerlastverkehr
angefahren wird?
3. Ist § 130 Abs. 2 S. 1 BauGB - im Falle der Verneinung der 2. Frage - so zu verstehen, dass bei
nur abschnittsweiser Befahrbarkeit für Lkw 40 t bzw. 16 t oder 12 t zur Erschließung von einem
durch wirksamen Bebauungsplan ausgewiesenen Gewerbegrundstück für die Abrechnung
Abschnitte gebildet werden müssen, zumindest wenn andernfalls der Anteil an den
Gesamtkosten für das gemeinsame Abrechnungsgebiet beider Straßenteile von dem
Gewerbegrundstückseigentümer zu 40 % getragen werden müsste, obwohl der
Schwerlastverkehr die Straße nicht durchgehend befahren kann?“
4 Diese Fragen bedürfen keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Sie lassen sich - soweit
sie einer generalisierenden Beantwortung zugänglich sind - ohne Weiteres auf der Grundlage
des Gesetzes und bereits vorliegender Rechtsprechung beantworten.
5 1. Mit der ersten Frage möchte die Beschwerde geklärt wissen, ob eine Anbaustraße eine
Erschließungsfunktion für ein Gewerbegrundstück auch dann hat, wenn sie nicht „in ihrer
gesamten Länge den vom Erschließungsgrundstück verursachten Quell- und Zielverkehr
aufnehmen und weiterleiten“ kann (Beschwerdebegründung S. 5 unten). Ob ein Grundstück
durch eine Anbaustraße erschlossen wird, hängt ausschlaggebend davon ab, welche
Anforderungen das Bebauungsrecht um der Bebaubarkeit willen an die verkehrliche
Erreichbarkeit eines Grundstücks stellt (stRspr; vgl. Urteile vom 3. November 1987 - BVerwG 8 C
77.86 - BVerwGE 78, 237 <240 f.> und vom 1. März 1991 - BVerwG 8 C 59.89 - BVerwGE 88, 70
<72>). Danach ist im Grundsatz erforderlich, dass an ein Grundstück über eine öffentliche Straße
mit Kraftfahrzeugen u.a. der Polizei und des Rettungswesens sowie der Ver- und Entsorgung
herangefahren werden kann (Urteil vom 30. August 1985 - BVerwG 4 C 48.81 - Buchholz 406.11
§ 35 BBauG Nr. 228 S. 136 <137>). Grundstücke in Gewerbegebieten sind darüber hinaus in der
Regel nur erschlossen, wenn die Anbaustraße die Möglichkeit des Herauffahrens mit
Lastkraftwagen eröffnet (Urteile vom 3. November 1987 a.a.O. und vom 1. März 1991 a.a.O.;
Beschluss vom 31. Mai 2000 - BVerwG 11 B 10.00 - Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 112). Ob
die Anbaustraße die Möglichkeit des Heran- und Herauffahrens an das Grundstück über ihre
volle Länge bzw. aus jeder Richtung ermöglicht, ist für die Frage der Bebaubarkeit unerheblich,
soweit die Anbaustraße überhaupt in der Lage ist, den durch eine nach dem Bebauungsplan
oder der Umgebungsbebauung zulässige Bebauung hervorgerufenen Verkehr aufzunehmen
(vgl. zum Ganzen auch Quaas, in: Schrödter, BauGB, 7. Aufl. 2006, § 127 Rn. 14). Das ist hier
der Fall. Bereits das Teilstück der Straße „In der Herbig“ vor dem Grundstück des Klägers
vermittelt nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des
Verwaltungsgerichtshofs dem Grundstück des Klägers aufgrund seiner Breite und seines
Ausbaus die bebauungsrechtlich erforderliche Erschließung und damit einen die Erhebung
eines Erschließungsbeitrags rechtfertigenden Vorteil.
6 Mit ihrer zweiten Frage, ob eine Änderung der Befahrbarkeit für den Schwerlastverkehr im
Verlauf der Straße für den unvoreingenommenen Beobachter zu der Annahme führen kann, es
handele sich um zwei verschiedene Erschließungsanlagen, zeigt die Beschwerde ebenfalls
keinen einer generalisierenden Aussage zugänglichen Klärungsbedarf auf. Nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind für die Beantwortung der Frage, wo eine
selbständige Erschließungsanlage beginnt und endet, maßgebend die tatsächlichen
Verhältnisse, wie sie z.B. durch die Straßenführung, Straßenbreite und Straßenausstattung
geprägt werden und sich im Zeitpunkt des Entstehens sachlicher Beitragspflichten einem
unbefangenen Beobachter bei natürlicher Betrachtungsweise darstellen (stRspr; zuletzt Urteil
vom 10. Juni 2009 - BVerwG 9 C 2.08 - BVerwGE 134, 139 Rn. 16). Ebenso ist geklärt, dass dies
lediglich die Regel bezeichnet und Raum lässt für eine abweichende Beurteilung im Einzelfall.
Eine nach den tatsächlichen Verhältnissen einheitliche Straße kann daher in
erschließungsbeitragsrechtlich unterschiedlich zu behandelnde Erschließungsanlagen zerfallen
(Urteil vom 6. Dezember 1996 - BVerwG 8 C 32.95 - BVerwGE 102, 294 <298>). Das ist etwa der
Fall, wenn sich Teilstrecken einer Verkehrsanlage in ihrer Erschließungsfunktion wesentlich
voneinander unterscheiden (Urteil vom 23. Juni 1995 - BVerwG 8 C 33.94 - Buchholz 406.11 §
127 BauGB Nr. 81 S. 24 <25 f.>). Nach diesen Grundsätzen ist die Entscheidung, ob eine
eingeschränkte Befahrbarkeit eines Teils einer Anbaustraße für Lkw zur Annahme einer
selbständigen Erschließungsanlage führt, aufgrund der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu
treffen und einer generalisierenden Aussage nicht zugänglich.
7 Die dritte Frage lässt sich ebenfalls beantworten, ohne dass es der Durchführung eines
Revisionsverfahrens bedarf. Die Abschnittsbildung nach § 130 Abs. 2 BauGB soll es der
Gemeinde ermöglichen, wenn sie nur einen Abschnitt der Erschließungsanlage ausbaut, die
Aufwendungen hierfür alsbald durch Beiträge zu decken und nicht die Herstellung der gesamten
Anlage abwarten zu müssen. Die Abrechnung nach Abschnitten ist mithin dazu bestimmt, einer
frühzeitigen Finanzierung entstandener Aufwendungen (Ausbau- und Grunderwerbskosten) zu
dienen. In diesem Sinne ist die Abschnittsbildung - wie die Kostenspaltung, die Vorausleistung
und die Ablösung - ein Vorfinanzierungsinstitut (vgl. Urteil vom 7. Juni 1996 - BVerwG 8 C 30.94
- BVerwGE 101, 225 <233>). Ob die jeweilige Gemeinde von der Möglichkeit einer frühzeitigen
Refinanzierung Gebrauch macht, steht in ihrem Ermessen. Ausgehend vom Finanzierungszweck
der Abschnittsbildung lässt sich die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob sich das
Ermessen der Gemeinde, die Erschließungsanlage in Abschnitte aufzuteilen und abzurechnen,
deshalb verdichten kann, weil für einen Beitragspflichtigen nur ein Teil der Erschließungsanlage
einen Vorteil vermittelt, ohne Weiteres verneinend beantworten.
8 2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen Abweichung von
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.
9 Die Beschwerde meint, das Berufungsgericht weiche dadurch konkludent vom Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 22. März 1996 - BVerwG 8 C 17.94 - (BVerwGE 101, 12 <16> =
Buchholz 406.11 § 124 BauGB Nr. 5 S. 4) ab, dass es „bewusst“ die Zufahrtsmöglichkeit für Lkw,
die durch eine erhöhte Straßenbreite erkennbar sei, als mögliches Kriterium für das Vorliegen
einer Erschließungsanlage „negiere“. Eine Divergenz besteht jedoch insoweit nicht. Der
Verwaltungsgerichtshof hat die in der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
aufgestellten Grundsätze zur Beantwortung der Frage, ob eine oder mehrere
Erschließungsanlagen vorliegen, zutreffend erkannt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt.
Wenn die Beschwerde meint, das Gericht stelle sich gegen diese Rechtsprechung, indem es die
erkennbaren Breitenunterschiede und Unterschiede in den Zufahrtsmöglichkeiten zweier
Teilstücke der Straße „In der Herbig“ nicht als Merkmal für das Vorliegen zweier selbständiger
Erschließungsanlagen ansehe, wendet sie sich in Wahrheit gegen die Sachverhaltswürdigung
des Berufungsgerichts, was die Zulassung der Divergenz nicht begründen kann.
10 Soweit die Beschwerde außerdem geltend macht, das Berufungsgericht weiche dadurch von
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 28. Oktober 1981 - BVerwG 8 C
4.81 - BVerwGE 64, 186 <196>) ab, dass es die im Bauprogramm der Gemeinde enthaltene
Forderung nach getrennten Geh- und Fahrwegen als erfüllt ansehe, obwohl es gleichzeitig die
der Höhe nach nicht abgesetzten Gehwege als Teil der Fahrbahn berücksichtige, kann sie
schon deswegen keinen Erfolg haben, weil der dem Berufungsgericht zugeschriebene
Rechtssatz für dessen Entscheidung nicht selbständig tragend gewesen ist. Das
Berufungsgericht hat eine Befahrbarkeit des westlichen Teils der Straße „In der Herbig“ durch
schwere Lkw für die Erschließung des Grundstücks des Klägers nicht als erforderlich angesehen
und ist nur ergänzend („Zudem“) auf die befahrbare Straßenbreite eingegangen. Aus diesem
Grund vermag auch die von der Beschwerde „hilfsweise“ für grundsätzlich klärungsbedürftig
erachtete Frage, ob ein Gehweg zur Fahrbahn gehört, wenn er zwar nicht der Höhe nach,
sondern auf andere Weise abgrenzt ist, die Zulassung der Revision nicht zu begründen; sie
würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen.
11 3. Verfahrensmängel, die zur Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO führen
könnten, ergeben sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht.
12 Als Verstoß gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2
VwGO) rügt die Beschwerde, dass der Verwaltungsgerichtshof zwei Beweisanträge des Klägers
zur Befahrbarkeit der Straße „In der Herbig“ durch Lkw mit mehr als 12 t Gesamtgewicht und
besonderen Ausmaßen als nicht entscheidungserheblich abgelehnt hat. Mit dieser Rüge wendet
sich die Beschwerde der Sache nach gegen die materiellrechtliche Beurteilung des
Verwaltungsgerichtshofs, wie sie im Übrigen selbst einräumt. Solche Rügen sind aber nicht
geeignet, die verfahrensfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags aufzuzeigen. Denn die
Pflicht zur Sachaufklärung und mithin auch die Pflicht zur Erhebung von Beweisen bezieht sich
von vornherein nur auf solche Umstände, auf die es nach der eigenen materiellrechtlichen
Auffassung des Gerichts, die es seinem Urteil zugrunde legt, ankommt; ob diese seine
Auffassung zutrifft, ist keine Frage des Verfahrensrechts, sondern des materiellen Rechts (vgl.
etwa Beschluss vom 12. März 2004 - BVerwG 6 B 2.04 - juris Rn. 11 m.w.N.).
13 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertentscheidung auf § 47
Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.
Dr. Bier
Dr. Christ
Prof. Dr. Korbmacher