Urteil des BVerfG vom 18.07.2001

BVerfG: wahlkreis, stadt, passives wahlrecht, beurteilungsspielraum, bevölkerung, vorschlag, gestaltungsspielraum, passiven, mehrheit, fraktion

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1252/99 -
- 2 BvR 1253/99 -
- 2 BvR 1254/99 -
- 2 BvR 1255/99 -
- 2 BvR 1256/99 -
- 2 BvR 1257/99 -
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
1. des Herrn H...,
- 2 BvR 1252/99 -,
2. des Herrn E...,
- 2 BvR 1253/99 -,
3. des Herrn S...,
- 2 BvR 1254/99 -,
4. Herrn Prof. Dr.-Ing. N...,
- 2 BvR 1255/99 -,
5. Herrn G...,
- 2 BvR 1256/99 -,
6. des Herrn W...,
- 2 BvR 1257/99 -
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Heinrich Deubner und Koll.,
Mozartstraße 13, 76133 Karlsruhe -
gegen Artikel 1 des Gesetzes zur Neueinteilung der Wahlkreise für die Wahl zum Deutschen
Bundestag vom 1. Juli 1998 (BGBl I S. 1698 ff.) in Verbindung mit der Anlage zu § 2
Absatz 2 des Bundeswahlgesetzes, als danach der bisherige Wahlkreis 79 (Stadt
Krefeld) in die Wahlkreise 111 (Krefeld I - Neuss II) und 115 (Krefeld II - Wesel II)
aufgeteilt wird
hat die 4. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Präsidentin Limbach
und die Richter Jentsch,
Di Fabio
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 18. Juli 2001 einstimmig beschlossen:
1. Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
2. Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
A.
1
Die Beschwerdeführer, wahlberechtigte Bürger der Stadt Krefeld, wenden sich mit der Verfassungsbeschwerde
gegen die Aufteilung des Stadtgebiets von Krefeld auf zwei Bundestagswahlkreise durch das angegriffene
Wahlkreisneueinteilungsgesetz.
I.
2
1. Durch das Gesetz zur Neueinteilung der Wahlkreise für die Wahl zum Deutschen Bundestag
(Wahlkreisneueinteilungsgesetz - WKNeuG) vom 1. Juli 1998 (BGBl I S. 1698) hat der Deutsche Bundestag die
Folgerungen aus der durch das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 15. November 1996
(BGBl I S. 1712) vorgenommenen Verringerung der Zahl seiner Mitglieder von 656 auf 598 und der Zahl der
Wahlkreise von 328 auf 299 gezogen. An die Stelle des früheren Wahlkreises 79, der die kreisfreie Stadt Krefeld
umfasste, treten die Wahlkreise 111 (Krefeld I - Neuss II) und 115 (Krefeld II - Wesel II). Der Wahlkreis 111 umfasst
von der kreisfreien Stadt Krefeld die Stadtbezirke 1 West, 5 Süd, 6 Fischeln, 7 Oppum-Linn, 9 Uerdingen und vom
Kreis Neuss die Gemeinden Jüchen, Kaarst, Korschenbroich und Meerbusch, der Wahlkreis 115 die Krefelder
Stadtbezirke 2 Nord, 3 Hüls, 4 Mitte, 8 Ost und die Gemeinden Moers und Neukirchen-Vluyn des Kreises Wesel. Das
Wahlkreisneueinteilungsgesetz regelt die Wahlkreiseinteilung im Raum Krefeld, Neuss, Wesel und Oberhausen so,
wie es der Bundeswahlleiter und die Reformkommission im Rahmen der Vorbereitung des Gesetzgebungsverfahrens
empfohlen hatten. Der Vorschlag des Bundeswahlleiters basierte auf einem Vorschlag des nordrhein-westfälischen
Innenministeriums.
3
Das Wahlkreisneueinteilungsgesetz ist am Tage der konstituierenden Sitzung des 14. Deutschen Bundestages, dem
26. Oktober 1998, in Kraft getreten (Art. 3 Satz 1 WKNeuG).
4
2. Die für die derzeitige Wahlperiode des 14. Deutschen Bundestages gemäß § 3 Abs. 2 Bundeswahlgesetz -
BWahlG - berufene Wahlkreiskommission hat sich mit der durch das Wahlkreisneueinteilungsgesetz vorgenommenen
Wahlkreiseinteilung befasst und für die Wahlkreise in Nordrhein-Westfalen eine Reihe von Änderungen empfohlen, von
Vorschlägen zur Neuabgrenzung der Wahlkreise 111 (Krefeld I - Neuss II) und 115 (Krefeld II - Wesel II) jedoch
abgesehen (BTDrucks 14/2597, S. 16 f., BTDrucks 14/4031). Die Wahlkreiseinteilung für Krefeld wurde
dementsprechend durch das Sechzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27. April 2001 (BGBl I
S. 701) nicht geändert.
5
Zwar stellte die F.D.P.-Fraktion bei der Beratung des zu Grunde liegenden Gesetzentwurfs im Innenausschuss einen
Änderungsantrag, der die Wahlkreiseinteilung im Regierungsbezirk Düsseldorf betraf und die Aufspaltung der Stadt
Krefeld vermieden hätte (vgl. BTDrucks 14/5202, S. 67 ff.), doch ist der Innenausschuss diesem Antrag nicht gefolgt
(BTDrucks 14/5202, S. 71). Vom Deutschen Bundestag wurde der Gesetzentwurf am 8. Februar 2001 in der Fassung
der Bundestagsdrucksache 14/5202 angenommen.
II.
6
Die Beschwerdeführer rügen die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 38 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG durch das
Wahlkreisneueinteilungsgesetz, soweit die Stadt Krefeld auf die Wahlkreise 111 und 115 aufgeteilt wird.
7
1. Die Beschwerdeführer sehen durch die Wahlkreiseinteilung den Grundsatz der Einhaltung der Grenzen kreisfreier
Städte allein in Bezug auf die Stadt Krefeld als verletzt an. Die übrigen kreisfreien Städte bildeten entweder einen
einheitlichen Wahlkreis oder erstreckten sich wegen ihrer Größe auf mehrere Wahlkreise, oder es seien - soweit die
Größe der Stadt nicht für einen Wahlkreis ausreichte - Gemeinden benachbarter Kreise hinzugenommen worden.
8
2. Die Beschwerdeführer rügen zudem einen Abwägungsfehler, weil die Stadt Krefeld mit 210.428 deutschen
Einwohnern nur 0,55 v.H. unter der Abweichung von minus 15 v.H. liege (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG); erst bei einer
Abweichung von 25 v.H. nach unten sei eine Neuabgrenzung zwingend erforderlich. Sie weisen darauf hin, dass es in
zahlreichen Fällen Abweichungen bis annähernd 15 v.H. gebe und in etlichen Fällen Abweichungen darüber hinaus. Im
Übrigen wäre es möglich gewesen, die Abweichung bei der Stadt Krefeld durch die Hinzunahme einer weiteren
Gemeinde aus der Umgebung der Stadt zu korrigieren.
9
3. Bei der Wahlkreiseinteilung sei weiterhin die außergewöhnliche geschichtliche Entwicklung der Stadt Krefeld nicht
ausreichend beachtet worden; sie stelle sich verfassungsrechtlich als besondere kommunale Identität dar und lasse
es nicht zu, den bisherigen einheitlichen Wahlkreis zu teilen. Auch die besondere wirtschafts- und verkehrspolitische
Bedeutung der Stadt sei nicht ausreichend berücksichtigt worden.
10
4. Den Bundestagsabgeordneten aus den neu zugeschnittenen Wahlkreisen werde es - im Gegensatz zu den
früheren Abgeordneten - an einer Verwurzelung in der Stadt Krefeld fehlen; sie würden mit den Interessen der
Krefelder Bürger nicht vertraut sein und auch keine enge Beziehung zu ihnen unterhalten.
11
5. Zur Begründung ihrer Verfassungsbeschwerden berufen sich die Beschwerdeführer weiter auf ein
Rechtsgutachten von Prof. Dr. Johannes Masing vom 26. März 1999. Dieses kommt zum Ergebnis, dass der
Grundsatz der "substanzhaften Wahlkreiseinteilung" hinsichtlich der Wahlkreise 111 und 115 nicht hinreichend
beachtet worden sei. Darin liege zugleich ein Verstoß gegen die Wahlgleichheit nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Der
Gesetzgeber habe sich für ein kombiniertes Wahlsystem entschieden mit einer spezifischen Einbindung
mehrheitswahlrechtlicher Elemente in ein Verhältniswahlrecht. Es solle eine enge Verbundenheit zwischen
Abgeordneten und Wahlvolk des Wahlkreises gewährleisten. Dies setze einen möglichst einheitlichen Wahlkreis
voraus, in dem der Abgeordnete auf bestehende Kommunikationsstrukturen zurückgreifen könne. Die Grenzziehung
der Wahlkreise müsse deshalb an die für den politischen Diskurs sonst maßgeblichen Einheiten anknüpfen.
12
6. Die Beschwerdeführer sehen weiterhin ihr passives Wahlrecht verletzt, weil sie keine realistische Chance hätten,
in ihrem Wahlkreis als Bewerber für ein Bundestagsmandat gewählt zu werden.
B.
13
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden sind nicht zur Entscheidung
anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor (vgl. BVerfGE 90, 22
<24 ff.>; 96, 245 <248>). Den Verfassungsbeschwerden kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche
Bedeutung zu; die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind vom Bundesverfassungsgericht bereits
entschieden (vgl. BVerfGE 6, 84 <92 f.>; 51, 222 <237 f.>; 71, 81 <96 f.>; 95, 408 <418 ff.>). Die Annahme der
Verfassungsbeschwerden ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte angezeigt, denn sie haben
keine Aussicht auf Erfolg.
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1. Soweit die Beschwerdeführer die Verletzung ihres passiven Wahlrechts rügen (Art. 38 Abs. 1 GG), sind die
Verfassungsbeschwerden unzulässig, weil sie den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Begründung nach §§ 92,
23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht genügen.
15
Danach muss ein Beschwerdeführer innerhalb der Beschwerdefrist die Rechtsverletzung durch Bezeichnung des
angeblich verletzten Rechts und des die Verletzung enthaltenden Vorgangs substantiiert und schlüssig vortragen (vgl.
BVerfGE 6, 132 <134>; 8, 1 <9>; 83, 162 <169 f.>). Dabei hat er auch darzulegen, inwiefern durch die angegriffene
Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll. Die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung ist deutlich zu
machen (vgl. BVerfGE 6, 132 <134>; 89, 155 <171>).
16
Die Beschwerdeführer berufen sich darauf, dass sie keine realistische Chance hätten, in ihrem (neuen) Wahlkreis als
Bewerber für ein Bundestagsmandat aufzutreten und gewählt zu werden, weil bis auf die CDU im Wahlkreis 115
jeweils die Parteivertreter des Wahlkreisgebiets außerhalb der Stadt Krefeld über die Mehrheit in der
Mitgliederversammlung zur Wahl eines Wahlkreisbewerbers nach § 21 Abs. 1 BWahlG verfügten. Dies genügt zur
Begründung einer auf die Verletzung des passiven Wahlrechts gestützten Verfassungsbeschwerde nicht. Keiner der
Beschwerdeführer trägt vor, er komme derzeit als Kandidat für die Bundestagswahl ernsthaft in Frage.
17
2. Im Übrigen haben die Verfassungsbeschwerden jedenfalls in der Sache keine Aussicht auf Erfolg. Weder sind ihre
Rechte aus Art. 38 Abs. 1 GG oder aus Art. 3 Abs. 1 GG noch das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verletzt.
18
Das Bundesverfassungsgericht ist im Rahmen der Begründetheitsprüfung nicht darauf beschränkt zu untersuchen,
ob eine der gerügten Grundrechtsverletzungen vorliegt. Es kann vielmehr die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit
der Wahlkreiseinteilung für Krefeld unter jedem in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt prüfen
(vgl. BVerfGE 53, 366 <390>; 70, 138 <162>; jeweils m.w.N.).
19
a) Der Gesetzgeber hat bei der Ausgestaltung des Wahlrechts im einzelnen die im Rahmen des jeweiligen
Wahlsystems geltenden Maßstäbe, wie insbesondere den Grundsatz der Wahlgleichheit nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1
GG, zu beachten. Er ist wegen seines Zusammenhangs mit dem Demokratieprinzip im Sinne einer strengen und
formalen Gleichheit zu verstehen (stRspr, vgl. BVerfGE 11, 351 <360 f.>; 82, 322, <337>; 95, 408 <417>).
Differenzierungen sind aber durch zureichende, sich aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung
ergebende Gründe gerechtfertigt. Hierzu zählen insbesondere die Verwirklichung der mit der Parlamentswahl
verfolgten Ziele. Zu ihnen gehört die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der
politischen Willensbildung des Volkes (vgl. BVerfGE 6, 84 <92 f.>; 71, 81 <97>; 95, 408 <418>). Es ist grundsätzlich
Sache des Gesetzgebers, diese Ziele, etwa die Funktionsfähigkeit des Parlaments, das Anliegen weitgehender
integrativer Repräsentanz und die Gebote der Wahlgleichheit sowie der Chancengleichheit politischer Parteien zum
Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 51, 222 <236>; 71, 81 <97>; 95, 408 <420>). Das Bundesverfassungsgericht
achtet diesen Spielraum. Es prüft lediglich, ob dessen Grenzen überschritten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber
zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>;
95, 408 <420>). Das Gericht kann daher einen Verstoß gegen die Wahlgleichheit nur feststellen, wenn die
differenzierende Regelung nicht an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des
Wahlrechts verfolgen darf, wenn sie zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung
dieses Zieles Erforderlichen überschreitet (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <238>; 71, 81 <96>; 95, 408 <420>).
20
b) Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber den ihm eröffneten Gestaltungsspielraum hier überschritten hat.
21
aa) Hinsichtlich der Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise steht dem Gesetzgeber ein gewisser
Beurteilungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 95, 335 <364>), den er in § 3 Abs. 1 BWahlG in verfassungskonformer Weise
konkretisiert hat. Deshalb ist die Frage, ob der Gesetzgeber bei der Wahlkreisneueinteilung seinen
Gestaltungsspielraum überschritten hat, zunächst an den Grundsätzen des § 3 Abs. 1 BWahlG zu messen.
22
Dabei sind die Grundsätze jeweils durch verschiedene Prinzipien gerechtfertigt. Die Einhaltung der Ländergrenzen
(§ 3 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG) ist durch das Bundesstaatsprinzip geboten. Im Hinblick auf den Grundsatz der
Wahlgleichheit im Sinne der Art. 3, 21 und 38 GG ist die gleiche Größe der Wahlkreise sowohl für den einzelnen
Wahlkreis als auch berechnet auf die Bevölkerungsdichte jedes Landes eine Bedingung (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3
BWahlG). Mit den Regelungen in Nr. 4 (Wahlkreis als zusammenhängendes Gebiet) und insbesondere in Nr. 5
(Einhaltung der Grenzen der Gemeinden, Landkreise und kreisfreien Städte) soll an die natürlichen, insbesondere an
die administrativen und politischen (wirtschaftlichen, kulturellen u.ä.) Gegebenheiten angeknüpft werden. Dadurch soll
betont werden, dass der Wahlkreisabgeordnete eine in sich geschlossene und unter vielen Gesichtspunkten
miteinander verbundene Bevölkerungsgruppe repräsentieren soll. Durch die Wahlkreisbildung soll die Bindung
zwischen den Wählern und "ihrem" Abgeordneten gefördert werden. Die repräsentierte Gruppe der Bevölkerung soll
nicht nur eine arithmetische Größe sein, sondern nach örtlichen, historischen, wirtschaftlichen, kulturellen und
ähnlichen Gesichtspunkten, wie sie der Abgrenzung der Verwaltungsbezirke vielfach zu Grunde liegen, eine
zusammenhängende Einheit darstellen (BayVerfGH, VGHE 43, 100 <104 f.>). Die Einhaltung der kommunalen
Grenzen dient zugleich der Vereinfachung der Partei- und Wahlorganisation (vgl. Schreiber, Handbuch des Wahlrechts
zum Deutschen Bundestag, 6. Aufl., 1998, § 3 Rn. 14).
23
bb) § 3 Abs. 1 BWahlG richtet sich nach seinem Wortlaut im Gegensatz zur alten Formulierung des § 3 Abs. 2
BWahlG auch an den Gesetzgeber bei der Einteilung der Wahlkreise (vgl. Schreiber, aaO, Rn. 6, 9). Die Bindung an
die einzelnen Grundsätze in § 3 Abs. 1 BWahlG ist jedoch unterschiedlich stark ausgebildet.
24
Zwingend sind die Einhaltung der Ländergrenzen (Nr. 1) und die Maximalabweichung von 25 v.H. der
durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise (Nr. 3). Der Grundsatz der Verteilung der Wahlkreise
entsprechend dem Bevölkerungsanteil der einzelnen Länder "muss... soweit wie möglich" beachtet werden (Nr. 2). In
der nächsten Stufe der Bindung, einer Sollvorschrift, findet sich der Grundsatz, dass der Wahlkreis ein
zusammenhängendes Gebiet bilden (Nr. 4) und dass die Bevölkerungszahl des Wahlkreises nicht mehr als 15 v.H.
von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen soll (Nr. 3). Für den Grundsatz der Einhaltung
der Grenzen der Gemeinden, Kreise und kreisfreien Städte ist eine noch geringere Bindung gegeben, diese "sollen
nach Möglichkeit eingehalten werden" (Nr. 5). Diese abgestufte Bindung lässt sich neben dem Wortlaut auch aus der
fortlaufenden Nummerierung ablesen, wobei zu beachten ist, dass Nr. 3 sowohl eine zwingende Regelung als auch
eine Sollvorschrift enthält und deshalb hinter Nr. 2 ("muss... soweit wie möglich") und vor Nr. 4 ("soll") eingeordnet
wird.
25
cc) Der Gesetzgeber hat bei der Wahlkreiseinteilung - auch wenn man einen engeren Maßstab als den eines
offenkundigen Verstoßes gegen die Grundsätze des § 3 Abs. 1 BWahlG (vgl. BVerfGE 16, 130 <141 f.>) zugrundelegt
- seinen Beurteilungsspielraum nicht überschritten, ein Abwägungsfehler ist nicht zu erkennen.
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Sowohl die angegriffene Regelung nach dem Wahlkreisneueinteilungsgesetz als auch die Varianten, die im
nordrhein-westfälischen Innenministerium im Rahmen der Unterstützung der Reformkommission erwogen oder von der
F.D.P.-Fraktion ins Gesetzgebungsverfahren für das Sechzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
eingebracht oder von den Beschwerdeführern im Verfahren vorgetragen wurden - und die jeweils das Gebiet der Stadt
Krefeld ungeteilt gelassen hätten - weisen sowohl Vorteile als auch Nachteile auf. Sachfremde Kriterien, die bei der
Entscheidung für die angegriffene Regelung herangezogen wurden, sind nicht ersichtlich. Die Entscheidung, welche
der Lösungen die sachgerechteste ist, steht dem Gesetzgeber zu, nicht dem Bundesverfassungsgericht (vgl. schon
BVerfGE 1, 14 <32>).
27
c) Auch eine Verletzung des Demokratieprinzips ist nicht zu erkennen. Die Wahlkreiseinteilung könnte dann gegen
das Demokratieprinzip verstoßen, wenn die Wahlkreise so geschnitten sind, dass eine Kommunikation zwischen den
Wählern untereinander sowie mit den Mandatsbewerbern erschwert und damit die politische Willensbildung
beeinträchtigt ist. Dies könnte in Fällen gegeben sein, wenn der Wahlkreiszuschnitt eine Bündelung des politischen
Willens der Einzelnen gar nicht oder nur unter erheblich erschwerten Bedingungen zulässt. Denkbar wäre dies
beispielsweise bei einem schmalen und langen Wahlkreis, bei einem Wahlkreis mit starken Verkehrsbarrieren oder bei
einem Wahlkreis, der aus lauter Einzelflecken zusammengesetzt ist, ohne ein zusammenhängendes Gebiet zu bilden
(vgl. Shaw v. Reno, 509 U.S. 630, 113 S.Ct. 2816, 125 L.Ed.2d 511 <1993>); Gegenstand war ein Wahlkreis in North
Carolina mit einer Länge von 160 Meilen und einer Breite von wenigen Metern, zum Teil sogar nur von einem Punkt, in
dem die farbige Bevölkerung mit 53,34 v.H. die absolute Mehrheit der Wahlberechtigten bildete). Eine derartige
Beschränkung ist jedoch hier nicht zu erkennen. Auch wenn die Beschwerdeführer vortragen, die öffentlichen
Verkehrsmittel seien ungünstig für den Wahlkreis angelegt, ist nicht ersichtlich, dass Wahlkreisversammlungen nur
unter unerträglichen Schwierigkeiten durchzuführen sind. Die Probleme, welche Krefeld und die jeweiligen
benachbarten Landkreise haben mögen, übersteigen nicht die Schwierigkeiten, welche in ländlich geprägten
Wahlkreisen seit jeher auftreten.
28
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
29
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach
Jentsch
Di Fabio