Urteil des BVerfG vom 12.10.2004

BVerfG: zahl, aufsichtsrat, quorum, arbeiter, verfassungsbeschwerde, gewerkschaft, arbeitnehmervertreter, unternehmen, bahn, chancengleichheit

Entscheidungen
L e i t s a t z
zum Beschluss des Ersten Senats vom 12. Oktober 2004
- 1 BvR 2130/98 -
Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein Unterschriftenquorum bei Wahlen von Arbeitnehmervertretern
zum Aufsichtsrat (§ 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG).
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2130/98 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. der Verkehrsgewerkschaft GDBA,
vertreten durch den Bundesvorsitzenden H ...,
2. des Herrn N ...,
3. des Herrn K ...,
4. des Herrn W ...,
5. des Herrn P ...
- Bevollmächtigte:
1. der Beschwerdeführer zu 1) bis 5):
Rechtsanwälte Gerd Klein und Koll.,
Ulmenweg 17, 61184 Karben,
2. der Beschwerdeführerin zu 1):
Professor Dr. Dr. h. c. Manfred Löwisch,
Institut für Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht, Sozialversicherungsrecht,
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg,
Wilhelmstraße 26, 79098 Freiburg -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Mai 1998 - 7 ABR 5/97 -,
b) den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 1. November 1996 - 2 TaBV 2/96 -,
c) den Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 19. Dezember 1995 - 90 BV 25207/95 -,
2. mittelbar gegen
§ 12 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Fassung des Gesetzes zur
Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften vom 26. Juni 1990 (BGBl I S. 1206)
und des Gesetzes zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vom 23. Juli 2001 (BGBl I S. 1852)
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung
des Präsidenten Papier,
der Richterinnen Jaeger,
Haas,
der Richter Hömig,
Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde
am 12. Oktober 2004 beschlossen:
1. § 12 Absatz 1 Satz 2 des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer vom 4. Mai 1976 in der
Fassung des Gesetzes zur Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften
vom 26. Juni 1990 (Bundesgesetzblatt I Seite 1206) und des Gesetzes zur Reform des
Betriebsverfassungsgesetzes vom 23. Juli 2001 (Bundesgesetzblatt I Seite 1852) ist nach Maßgabe der
Gründe mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar.
2. Dem Gesetzgeber wird aufgegeben, bis zum 31. Dezember 2005 eine verfassungsmäßige Regelung zu treffen.
3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.
4. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Regelungen des Mitbestimmungsgesetzes über das Vorschlagsrecht zur
Wahl der Delegierten im Rahmen der Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer in Unternehmen.
I.
2
1. Nach dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz - MitbestG) ist der
Aufsichtsrat eines Unternehmens paritätisch zu besetzen, das heißt mit einer gleichen Anzahl von
Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer (§ 7 Abs. 1 MitbestG). Beschäftigt ein Unternehmen
in der Regel mehr als 20.000 Arbeitnehmer, setzt sich der Aufsichtsrat aus je zehn Aufsichtsratsmitgliedern der
Anteilseigner und der Arbeitnehmer zusammen (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 MitbestG). Unter den Aufsichtsratsmitgliedern
der Arbeitnehmer müssen sich sieben Arbeitnehmer des Unternehmens und drei Vertreter von Gewerkschaften
befinden (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 MitbestG).
3
In Unternehmen mit in der Regel mehr als 8.000 Arbeitnehmern werden die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer
mittelbar durch Delegierte gewählt, sofern nicht die wahlberechtigten Arbeitnehmer die unmittelbare Wahl beschließen
(§ 9 MitbestG). Die Einzelheiten über die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder ergeben sich aus den §§ 10 ff. MitbestG
und den Wahlordnungen zum Mitbestimmungsgesetz.
4
Bei der mittelbaren Wahl der Aufsichtsratsmitglieder wählen zunächst die Arbeitnehmer die Delegierten. Diese Wahl
erfolgt geheim und nach den Grundsätzen der Verhältniswahl (§ 10 Abs. 1 MitbestG). Die Zahl der Delegierten
errechnet sich nach § 11 MitbestG. Nach der hier maßgeblichen Rechtslage des Jahres 1995 waren die
Delegiertensitze auf die Arbeiter, die in § 3 Abs. 3 Nr. 1 MitbestG bezeichneten Angestellten und die leitenden
Angestellten entsprechend ihrem Zahlenverhältnis unter Berücksichtigung eines Minderheitenschutzes zu verteilen.
5
Zur Wahl der Delegierten können die wahlberechtigten Arbeitnehmer des Betriebs Wahlvorschläge machen (§ 12
Abs. 1 Satz 1 MitbestG). Die Wahlvorschläge werden in Form von Vorschlagslisten eingereicht. Hierbei orientieren
sich die vorschlagsberechtigten Arbeitnehmer regelmäßig an ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit. Für die
Wahlvorschläge sind gruppenweise bestimmte Unterschriftenquoren einzuhalten (§ 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG)
.
der Rechtslage im Jahr 1995 mussten Wahlvorschläge der Arbeiter, der in § 3 Abs. 3 Nr. 1 MitbestG bezeichneten
Angestellten und der leitenden Angestellten jeweils von einem Zehntel oder 100 der wahlberechtigten
Gruppenangehörigen unterzeichnet sein.
6
Die Delegierten wählen die unternehmensangehörigen Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer (§ 15 MitbestG) und
die Vertreter von Gewerkschaften (§ 16 MitbestG) in den Aufsichtsrat. Das Wahlvorschlagsrecht für die
unternehmensangehörigen Aufsichtsratsmitglieder stand 1995 gruppenweise den wahlberechtigten Arbeitern, den in
§ 3 Abs. 3 Nr. 1 MitbestG bezeichneten Angestellten und den leitenden Angestellten zu. Das Vorschlagsrecht für die
Wahl der Aufsichtsratsmitglieder, die Vertreter von Gewerkschaften sind, liegt bei den Gewerkschaften (§ 16
MitbestG).
7
2. Das Mitbestimmungsgesetz vom 4. Mai 1976 (BGBl I S. 1153) galt im Jahr 1995, in dem die angegriffene
Aufsichtsratswahl bei der Deutschen Bahn AG durchgeführt wurde, in der Fassung des Gesetzes vom 28. Oktober
1994 (BGBl I S. 3210). Die einschlägigen Vorschriften hatten folgenden Wortlaut:
8
§ 10
9
Wahl der Delegierten
10
(1) In jedem Betrieb des Unternehmens wählen die Arbeiter (§ 3 Abs. 2) und die Angestellten
(§ 3 Abs. 3) in getrennter Wahl, geheim und nach den Grundsätzen der Verhältniswahl
Delegierte. ...
11
(2) ...
12
(3) Wahlberechtigt für die Wahl von Delegierten sind die Arbeitnehmer des Unternehmens, die
das 18. Lebensjahr vollendet haben.
13
(4) Zu Delegierten wählbar sind die in Absatz 3 bezeichneten Arbeitnehmer, die die weiteren
Wählbarkeitsvoraussetzungen des § 8 des Betriebsverfassungsgesetzes erfüllen.
14
(5) Wird für einen Wahlgang nur ein Wahlvorschlag gemacht, so gelten die darin aufgeführten
Arbeitnehmer in der angegebenen Reihenfolge als gewählt. § 11 Abs. 2 ist anzuwenden.
15
§ 11
16
Errechnung der Zahl der Delegierten
17
(1) In jedem Betrieb entfällt auf je 60 wahlberechtigte Arbeitnehmer ein Delegierter. Ergibt die
Errechnung nach Satz 1 in einem Betrieb für eine Gruppe mehr als
18
1. 30 Delegierte, so vermindert sich die Zahl der zu wählenden Delegierten auf die Hälfte;
diese Delegierten erhalten je zwei Stimmen;
19
2. 90 Delegierte, so vermindert sich die Zahl der zu wählenden Delegierten auf ein Drittel;
diese Delegierten erhalten je drei Stimmen;
20
3. 150 Delegierte, so vermindert sich die Zahl der zu wählenden Delegierten auf ein Viertel;
diese Delegierten erhalten je vier Stimmen.
21
Bei der Errechnung der Zahl der Delegierten werden Teilzahlen voll gezählt, wenn sie
mindestens die Hälfte der vollen Zahl betragen.
22
(2) Die Arbeiter und die Angestellten müssen unter den Delegierten in jedem Betrieb
entsprechend ihrem zahlenmäßigen Verhältnis vertreten sein. Unter den Delegierten der
Angestellten müssen die in § 3 Abs. 3 Nr. 1 bezeichneten Angestellten und die leitenden
Angestellten entsprechend ihrem zahlenmäßigen Verhältnis vertreten sein. Sind in einem
Betrieb mindestens neun Delegierte zu wählen, so entfällt auf die Arbeiter, die in § 3 Abs. 3
Nr. 1 bezeichneten Angestellten und die leitenden Angestellten mindestens je ein Delegierter;
dies gilt nicht, soweit in dem Betrieb nicht mehr als fünf Arbeiter, in § 3 Abs. 3 Nr. 1
bezeichnete Angestellte oder leitende Angestellte wahlberechtigt sind. Soweit auf die Arbeiter,
die in § 3 Abs. 3 Nr. 1 bezeichneten Angestellten und die leitenden Angestellten lediglich nach
Satz 3 Delegierte entfallen, vermehrt sich die nach Absatz 1 errechnete Zahl der Delegierten
des Betriebs entsprechend.
23
(3) bis (5) ...
24
§ 12
25
Wahlvorschläge für Delegierte
26
(1) Zur Wahl der Delegierten können die wahlberechtigten Arbeitnehmer des Betriebs
Wahlvorschläge machen. Jeder Wahlvorschlag für Delegierte
27
1. der Arbeiter muß von einem Zehntel oder 100 der wahlberechtigten Arbeiter,
28
2. der Angestellten, die auf die in § 3 Abs. 3 Nr. 1 bezeichneten Angestellten entfallen, muß
von einem Zehntel oder 100 der wahlberechtigten in § 3 Abs. 3 Nr. 1 bezeichneten
Angestellten,
29
3. der Angestellten, die auf die leitenden Angestellten entfallen, muß von einem Zehntel oder
100 der wahlberechtigten leitenden Angestellten
30
des Betriebs unterzeichnet sein.
31
(2) ...
32
Diese Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes wurden durch das Gesetz zur Reform des
Betriebsverfassungsgesetzes vom 23. Juli 2001 (BGBl I S. 1852) und das Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der
Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat vom 23. März 2002 (BGBl I S. 1130) teilweise geändert. Seitdem haben die
§§ 10 bis 12 folgenden Wortlaut:
33
§ 10
34
Wahl der Delegierten
35
(1) In jedem Betrieb des Unternehmens wählen die Arbeitnehmer in geheimer Wahl und nach
den Grundsätzen der Verhältniswahl Delegierte.
36
(2) Wahlberechtigt für die Wahl von Delegierten sind die Arbeitnehmer des Unternehmens, die
das 18. Lebensjahr vollendet haben. ...
37
(3) Zu Delegierten wählbar sind die in Absatz 2 Satz 1 bezeichneten Arbeitnehmer, die die
weiteren Wählbarkeitsvoraussetzungen des § 8 des Betriebsverfassungsgesetzes erfüllen.
38
(4) Wird für einen Wahlgang nur ein Wahlvorschlag gemacht, so gelten die darin aufgeführten
Arbeitnehmer in der angegebenen Reihenfolge als gewählt. § 11 Abs. 2 ist anzuwenden.
39
§ 11
40
Errechnung der Zahl der Delegierten
41
(1) In jedem Betrieb entfällt auf je 90 wahlberechtigte Arbeitnehmer ein Delegierter. Ergibt die
Errechnung nach Satz 1 in einem Betrieb mehr als
42
1. 25 Delegierte, so vermindert sich die Zahl der zu wählenden Delegierten auf die Hälfte;
diese Delegierten erhalten je zwei Stimmen;
43
2. 50 Delegierte, so vermindert sich die Zahl der zu wählenden Delegierten auf ein Drittel;
diese Delegierten erhalten je drei Stimmen;
44
3. 75 Delegierte, so vermindert sich die Zahl der zu wählenden Delegierten auf ein Viertel;
diese Delegierten erhalten je vier Stimmen;
45
4. 100 Delegierte, so vermindert sich die Zahl der zu wählenden Delegierten auf ein Fünftel;
diese Delegierten erhalten je fünf Stimmen;
46
5. 125 Delegierte, so vermindert sich die Zahl der zu wählenden Delegierten auf ein Sechstel;
diese Delegierten erhalten je sechs Stimmen;
47
6. 150 Delegierte, so vermindert sich die Zahl der zu wählenden Delegierten auf ein Siebtel;
diese Delegierten erhalten je sieben Stimmen.
48
Bei der Errechnung der Zahl der Delegierten werden Teilzahlen voll gezählt, wenn sie
mindestens die Hälfte der vollen Zahl betragen.
49
(2) Unter den Delegierten müssen in jedem Betrieb die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten
Arbeitnehmer und die leitenden Angestellten entsprechend ihrem zahlenmäßigen Verhältnis
vertreten sein. Sind in einem Betrieb mindestens neun Delegierte zu wählen, so entfällt auf die
in § 3 Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Arbeitnehmer und die leitenden Angestellten mindestens je
ein Delegierter; dies gilt nicht, soweit in dem Betrieb nicht mehr als fünf in § 3 Abs. 1 Nr. 1
bezeichnete Arbeitnehmer oder leitende Angestellte wahlberechtigt sind. Soweit auf die in § 3
Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Arbeitnehmer und die leitenden Angestellten lediglich nach Satz 2
Delegierte entfallen, vermehrt sich die nach Absatz 1 errechnete Zahl der Delegierten des
Betriebs entsprechend.
50
(3) bis (5) ...
51
§ 12
52
Wahlvorschläge für Delegierte
53
(1) Zur Wahl der Delegierten können die wahlberechtigten Arbeitnehmer des Betriebs
Wahlvorschläge machen. Jeder Wahlvorschlag muss von einem Zehntel oder 100 der jeweils
wahlberechtigten in § 3 Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Arbeitnehmer oder der leitenden
Angestellten des Betriebs unterzeichnet sein.
54
(2) ...
II.
55
Beschwerdeführerin zu 1) ist die Verkehrsgewerkschaft GDBA im Deutschen Beamtenbund; die Beschwerdeführer
zu 2) bis 5) sind wahlberechtigte Arbeitnehmer aus dem Angestellten- und Arbeiterbereich der Deutschen Bahn AG
und Mitglieder der Beschwerdeführerin zu 1).
56
1. Nach der Privatisierung der Deutschen Bundesbahn war auf die neu gegründete Deutsche Bahn AG das
Mitbestimmungsgesetz anzuwenden. Die erste Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer fand 1995 statt. In
den Aufsichtsrat waren zehn Arbeitnehmervertreter zu wählen. Die Wahl erfolgte mittelbar als Delegiertenwahl. Die
Beschwerdeführerin zu 1) reichte hierzu in mehreren Betrieben Wahlvorschläge ein, die nicht die gemäß § 12 Abs. 1
Satz 2 MitbestG erforderliche Zahl von Unterschriften erreichten und deshalb von den Wahlvorständen
zurückgewiesen wurden. In weiteren Betrieben hatte die Beschwerdeführerin zu 1) nach ihren Angaben auf die
Einreichung von Wahlvorschlägen verzichtet, weil absehbar gewesen sei, dass nicht genügend Stützunterschriften zu
erlangen gewesen seien. Die Delegiertenwahlen wurden von den Beschwerdeführern in acht Betrieben gemäß § 21
MitbestG beim Arbeitsgericht angefochten. Hiervon betroffen waren 52 Delegierte bei 2.119 gewählten Delegierten der
Arbeiter und 3.026 gewählten Delegierten der Angestellten. Die Verfahren wurden zunächst ausgesetzt.
57
Die Delegierten wählten die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer mit folgendem Wahlergebnis: In der Gruppe der
Arbeiter fielen beide Aufsichtsratssitze dem Vorschlag der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) zu.
In der Gruppe der in § 3 Abs. 3 Nr. 1 MitbestG bezeichneten Angestellten entfielen drei Aufsichtsratssitze auf den
Vorschlag der GdED und ein Sitz auf den gemeinsamen Vorschlag der Beschwerdeführerin zu 1) und der
Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). In der Gruppe der leitenden Angestellten wurde die von der GdED
vorgeschlagene Vertreterin gewählt. Bei der Wahl der Vertreter der Gewerkschaften fielen alle drei Aufsichtsratssitze
der Liste der GdED zu.
58
2. Die Beschwerdeführer fochten auch diese Wahl an (§ 22 MitbestG). Die Wahlanfechtung blieb vor den Gerichten
für Arbeitssachen in allen drei Instanzen erfolglos. Die Gerichte hielten die Wahlvorschlagsregelung in § 12 Abs. 1
MitbestG für verfassungsgemäß. Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht gingen überdies davon aus, das
Stimmverhalten von nur 52 Delegierten, deren Delegiertenwahlen angefochten worden seien, hätte das Ergebnis der
Aufsichtsratswahl rechnerisch nicht beeinflussen können.
59
Auch nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAGE 89, 15) verstößt § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG weder
gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze der formalen Wahlgleichheit noch gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG oder gegen Art. 9 Abs. 3 GG.
60
Die Grundsätze der formalen Wahlgleichheit seien auf § 12 MitbestG nicht anwendbar. Dem Gesetzgeber sei es bei
der Regelung des Wahlverfahrens ein Anliegen gewesen, die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats zu gewährleisten.
Er habe eine im Verhältnis zur Kapitaleignerseite möglichst paritätische Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen
erreichen wollen. Darum sei es auch bei der Wahlvorschlagsregelung in § 12 Abs. 1 MitbestG gegangen. Da auf
Anteilseignerseite regelmäßig ein "extremes" Mehrheitswahlsystem gelte, habe der Gesetzgeber die Geschlossenheit
der Arbeitnehmerseite stärken wollen. Durch die Entscheidung für die Verhältniswahl habe sich der Gesetzgeber nicht
dem stärker formalisierten Gleichheitsgebot im Wahlrecht unterworfen. Denn der Aufsichtsrat sei kein
Repräsentationsorgan, das seinen Willen nach demokratischen Regeln mit Mehrheit bilde. Außerdem hätte sich der
Gesetzgeber bei der Bestimmung der Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat für andere Modelle als die Wahl
durch unternehmensangehörige Arbeitnehmer entscheiden können. In diesem Fall hätte er auf die formale Gleichheit
keine Rücksicht zu nehmen brauchen.
61
§ 12 Abs. 1 MitbestG sei mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar, der dem Gesetzgeber
die Normierung sachlich begründeter, differenzierender Wahlbestimmungen gestatte. Das Unterschriftenquorum sei
erforderlich, um die angestrebte Geschlossenheit der Arbeitnehmervertreter zu gewährleisten. Ein deutlich niedrigeres
Quorum würde bei den meisten Delegiertenwahlen dazu führen, dass zahlreiche Arbeitnehmerstimmen auf Listen
entfielen, die nicht einmal einen Delegiertensitz erreichten; sie wären von vornherein "weggeworfen". Selbst wenn
kleinere Gruppierungen einzelne Delegiertensitze errängen, sei hiermit angesichts der geringen Zahl der zur Verfügung
stehenden Aufsichtsratssitze keine realistische Chance auf Erlangung eines Aufsichtsratssitzes verbunden. Die
Zulassung von Wahlvorschlägen mit geringer Unterschriftenzahl würde nur zu einer Zersplitterung der Stimmen der
Arbeitnehmerschaft führen.
62
Die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) werde durch § 12 Abs. 1 MitbestG nicht verletzt. Der Gesetzgeber habe das
Recht der Gewerkschaften und der einzelnen Arbeitnehmer, sich bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter zum
Aufsichtsrat werbend einzuschalten und im Rahmen der Delegiertenwahlen von den wahlberechtigten Arbeitnehmern
einzureichende Wahlvorschläge zu unterbreiten, überhaupt erst ausgestaltend geschaffen. Wenn er dabei
Unterschriftenquoren normiert habe, sei das sachlich geboten und verhältnismäßig gewesen.
III.
63
Mit der Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführer unmittelbar gegen die Beschlüsse des
Arbeitsgerichts, des Landesarbeitsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts sowie mittelbar gegen § 12 Abs. 1 Satz 2
MitbestG. Das in dieser Vorschrift festgelegte Unterschriftenquorum stelle eine verfassungswidrige Benachteiligung
kleinerer Gewerkschaften dar. Es verstoße gegen den Grundsatz der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl des Art. 3
Abs. 1 GG und die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG.
64
Der Gesetzgeber habe sich dem Grundsatz der formalen Wahlrechtsgleichheit unterworfen, indem er die Wahl von
Aufsichtsratsmitgliedern unter Mitwirkung von Delegierten als Verhältniswahl ausgestaltet habe. Hierdurch sei zum
Ausdruck gebracht worden, dass auch Minderheiten die Möglichkeit der Repräsentanz in der Delegiertenversammlung
und im Aufsichtsrat haben sollen.
65
Das Unterschriftenquorum habe zur Folge, dass für die Einreichung von Wahlvorschlägen in zahlreichen Fällen eine
höhere Unterschriftenzahl verlangt werde, als später Stimmen für die Erlangung eines Delegiertenmandats nötig seien.
Dementsprechend sei das Quorum des § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG in seiner derzeitigen Ausgestaltung nicht
erforderlich, um ein "Wegwerfen" von Stimmen an aussichtslose Kandidaten zu vermeiden.
66
Die Höhe des Quorums lasse sich auch nicht damit rechtfertigen, dass bei einer Verringerung die Funktionsfähigkeit
des Aufsichtsrats beeinträchtigt werde. Dem Gesetzgeber sei es bei der Wahlvorschlagsregelung nicht darum
gegangen, eine möglichst hohe Parität zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignerseite zu erzielen. Der mitbestimmte
Aufsichtsrat sei kein Konfrontationsorgan; das Mitbestimmungsgesetz sei vielmehr auf einen gemeinsamen
Interessenausgleich angelegt.
67
Zudem sei das Unterschriftenquorum nicht gerechtfertigt, um eine Zersplitterung der Arbeitnehmervertreter im
Aufsichtsrat zu verhindern. Über deren mehr oder minder starke Geschlossenheit werde erst bei der Wahl der
Aufsichtsratsmitglieder entschieden. Die Funktionsfähigkeit der Delegiertenversammlung sei von einer Beschränkung
der Delegierten auf wenige Richtungen nicht abhängig. Kleinere Gruppierungen übten auch in der
Delegiertenversammlung eine legitime Funktion aus, da sie sich an größeren Gruppierungen orientieren, zwischen
diesen den Ausschlag geben und durch Absprachen auf das Wahlverhalten anderer Delegierter Einfluss nehmen
könnten.
68
Schließlich sei zu berücksichtigen, dass die Delegiertenwahl typischerweise in mehreren Betrieben eines
Unternehmens stattfinde, in denen die Gewerkschaften unterschiedlich stark vertreten seien. Das Gewicht der
einzelnen Delegierten könne erst beurteilt werden, wenn man die Gesamtzahl der Delegierten innerhalb der
Delegiertenversammlung betrachte und nicht nur auf das Ergebnis der Wahl im jeweiligen Betrieb schaue.
69
Aus Art. 9 Abs. 3 GG folge das Recht der Koalitionen, auf die Wahlen von Repräsentanten der Arbeitnehmer
Einfluss zu nehmen. Wesentliches Element des Betätigungsrechts im Rahmen der Unternehmensmitbestimmung sei
die Chancengleichheit der verschiedenen Koalitionen. Das Unterschriftenquorum des § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG
beschränke dieses Recht unzulässig.
70
Die Beschwerdeführer haben zwei Rechtsgutachten vorgelegt, in denen § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG ebenfalls für
verfassungswidrig gehalten wird.
IV.
71
Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung namens der
Bundesregierung,
die
Deutsche
Angestellten-Gewerkschaft
(nunmehr
mit
anderen
Gewerkschaften
zusammengeschlossen zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft e.V.), der Deutsche Gewerkschaftsbund, die
Transnet Gewerkschaft GdED (früher: Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands GdED), Mitglieder des
Aufsichtsrats der Deutschen Bahn AG und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Stellung
genommen. Sämtliche Stellungnahmen gehen davon aus, dass § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG verfassungsmäßig ist.
72
1. Das Bundesministerium trägt vor, der Gesetzgeber habe zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des
Aufsichtsrats zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmerseite das nötige Gleichgewicht schaffen müssen. Da die Seite
der Anteilseigner durch Mehrheitswahl besetzt werde, habe er auch eine starke, in sich weitgehend geschlossene
Arbeitnehmerseite ermöglichen müssen. Ein niedrigeres Quorum würde neben der Gefahr einer Stimmenzersplitterung
auch das Risiko, dass Wähler für eine aussichtslose Liste votierten, in sich bergen. § 12 Abs. 1 MitbestG verletze
auch nicht die Rechte der Gewerkschaften aus Art. 9 Abs. 3 GG. Den Gewerkschaften sei schon durch § 16 MitbestG
eine starke Position eingeräumt worden.
73
2. Die Gewerkschaften und die von der Arbeitnehmerseite gewählten Mitglieder des Aufsichtsrats der Deutschen
Bahn AG, die nicht der Beschwerdeführerin zu 1) angehören, sind der Ansicht, bei der Wahl zum Aufsichtsrat komme
es in besonderem Maße auf die Geschlossenheit der Arbeitnehmerseite an. Der Gesetzgeber habe sich in
verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise auf eine möglichst paritätische Interessenwahrnehmung im Aufsichtsrat
konzentriert. Da jedes Abweichen eines Arbeitnehmervertreters direkt der Anteilseignerseite zugute komme, müsse
durch das Quorum des § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG eine Stimmenzersplitterung vermieden werden. Bei einer
Herabsetzung des Quorums für die Delegiertenwahl bestünde eine erhöhte Gefahr, dass viele Stimmen "weggeworfen"
würden.
74
3. Auch nach Auffassung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist das Unterschriftenquorum
verfassungsrechtlich vertretbar, weil es darauf abziele, den Wahlakt auf ernsthafte Bewerber zu beschränken und
einer Stimmenzersplitterung vorzubeugen.
B.
75
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Da die Beschwerdeführer auch in Zukunft an Wahlen nach dem
Mitbestimmungsgesetz teilnehmen wollen, ist ihr Rechtsschutzinteresse nicht mit dem Ablauf der Wahlperiode des
Aufsichtsrats entfallen, dessen Wahl Gegenstand der Wahlanfechtung in dem Ausgangsverfahren war.
C.
76
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich mittelbar gegen das in § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG
vorgeschriebene Unterschriftenquorum für Vorschläge zur Wahl der Delegierten im Rahmen des Verfahrens zur Wahl
der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer von Unternehmen richtet. Im Übrigen ist sie unbegründet.
I.
77
§ 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
78
1. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln.
79
Für den Bereich allgemeinpolitischer Wahlen hat das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen des
Gleichheitssatzes durch die Formalisierung des Gebots der Gleichheit der Wahl verschärft (vgl. BVerfGE 14, 121
<132 f.>; 34, 81 <98 f.>; 41, 1 <11 f.>; 71, 81 <94> m.w.N.).
80
Diese Grundsätze lassen sich nicht schematisch auf Wahlen in anderen Bereichen übertragen. Sie haben ihren
tragenden Grund in der absoluten Gleichheit aller Bürger bei der staatlichen Willensbildung (vgl. BVerfGE 8, 51 <69>;
11, 351 <360>; 14, 121 <132>). Bei Wahlen in anderen Bereichen kann der Grundsatz der formalen Wahlgleichheit
gewissen Einschränkungen unterliegen (vgl. BVerfGE 39, 247 <254>; 54, 363 <388 f.> für die Wahlen der
Selbstverwaltungsorgane der Hochschule; BVerfGE 41, 1 <12> für die Wahlen der Richtervertretungen). Insbesondere
hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, bei der Ausgestaltung des Wahlverfahrens auf das Gewicht bestimmter Gruppen
innerhalb der Wählerschaft Rücksicht zu nehmen, und er kann Zweckmäßigkeitsüberlegungen größeren Raum
einräumen. Bei der Regelung der Besetzung des Aufsichtsrats von Unternehmen hat der Gesetzgeber unter anderem
auf die Funktionsfähigkeit des Unternehmens Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerfGE 50, 290 <339 ff.>) und darf daher
auch Praktikabilitätsgesichtspunkte berücksichtigen.
81
Allerdings legt sich der Gesetzgeber auch bei Wahlen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich in einem gewissen
Umfang auf die Grundsätze eines Wahlverfahrens fest (vgl. BVerfGE 60, 162 <171>; 71, 81 <95 f.>). Wenn ein
Gremium durch Wahlen der Belegschaft und auf der Grundlage von Wahlvorschlägen, die an der
Gewerkschaftszugehörigkeit orientiert sein dürfen, besetzt werden soll, hat eine in sich folgerichtige Regelung die
Chancengleichheit der bei den Wahlen antretenden Gruppen zu beachten. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen,
dass bei den Wahlen im Rahmen der Unternehmensmitbestimmung die Wahlbewerber in der Praxis regelmäßig auf
Listen kandidieren, die vielfach als Listen einer bestimmten Gewerkschaft gekennzeichnet sind. Da das Recht der
Koalitionen, an vom Gesetzgeber zur Vertretung von Arbeitnehmern geschaffenen Einrichtungen mitzuwirken, unter
den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG fällt, ist mit dieser verfassungsrechtlich gesicherten Freiheit auch die
Chancengleichheit der Koalitionen bei der Wahl verbunden (vgl. BVerfGE 60, 162 <170> für
Personalvertretungswahlen; BVerfGE 71, 81 <95> für die Wahlen zu den Vollversammlungen der
Arbeitnehmerkammern). Dem Gesetzgeber ist daher, wenn er in den Bereich der Willensbildung bei Wahlen in einer
Weise eingreift, die die Chancengleichheit beeinträchtigen kann, auch hier jede ungleiche Behandlung versagt, die
sich nicht durch einen besonderen, zwingenden Grund rechtfertigen lässt (vgl. BVerfGE 60, 162 <170 f.>; 71, 81
<95>).
82
2. Das Erfordernis einer gewissen Zahl von Unterschriften für die Einreichung gültiger Wahlvorschläge führt zu einer
Beschränkung der Gleichheit des Wahlvorschlagsrechts (vgl. BVerfGE 60, 162 <167 f.>). Das Unterschriftenquorum
hat die Nichtberücksichtigung der Wahlvorschläge aller derjenigen zur Folge, die nicht die erforderliche
Unterschriftenzahl aufgebracht haben. In dieser Einschränkung der Möglichkeit der Teilnahme an Wahlen liegt eine
Ungleichbehandlung.
83
Wird das Quorum bei einer mittelbaren Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer bereits auf der
Eingangsstufe eingesetzt, kann dies zu einer Benachteiligung von Wahlvorschlägen und der sie tragenden Gruppen
führen. Dies gilt insbesondere für Gewerkschaften wie die Beschwerdeführerin zu 1), die das Quorum in einigen
Betrieben erreichen, also groß genug für eine realistische Wahlchance sind, aber in anderen Betrieben wegen der
Höhe des Quorums nicht antreten und damit ihr Wählerpotential nicht ausschöpfen können.
84
3. Diese Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
85
a) Es fehlt an einer sachlichen Rechtfertigung des Unterschriftenquorums.
86
aa) Das Erfordernis einer bestimmten Unterschriftenzahl für Wahlvorschläge ist hinreichend sachlich gerechtfertigt,
wenn und soweit es dazu dient, den Wahlakt auf ernsthafte Bewerber zu beschränken, dadurch das Stimmgewicht der
einzelnen Wählerstimmen zu sichern und so indirekt der Gefahr der Stimmenzersplitterung vorzubeugen (vgl.
BVerfGE 60, 162 <168> m.w.N.; 71, 81 <96 f.>). Unterschriftenquoren können auch das Ziel verfolgen, die Wähler
davor zu bewahren, ihre Stimmen an aussichtslose Kandidaten zu vergeben (vgl. BVerfGE 60, 162 <172>).
87
bb) Das Unterschriftenquorum des § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG lässt sich hingegen nicht damit rechtfertigen, die
Arbeitnehmerseite solle möglichst nur von einer Gewerkschaft repräsentiert werden, um ein Gegengewicht zur
geschlossenen Arbeitgeberseite zu erzeugen.
88
Der Gesetzgeber hat für die Besetzung der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat ein Verhältniswahlverfahren
vorgesehen (§ 10 Abs. 1 und § 15 Abs. 1 MitbestG), um auch Minderheiten die Möglichkeit zu einer Vertretung
einzuräumen. Entsprechende Hinweise ergeben sich aus den Gesetzgebungsmaterialien zur Wahl der
Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer durch Wahlmänner (Delegierte) gemäß § 15 Abs. 1 MitbestG. Insoweit sah
der Gesetzentwurf der Bundesregierung (BTDrucks 7/2172, S. 8) zunächst eine Mehrheitswahl vor, die dafür sorgen
sollte, dass alle Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat vom Vertrauen der Mehrheit der Belegschaft getragen werden
(siehe hierzu die Begründung zum Gesetzentwurf, BTDrucks 7/2172, S. 24 f., und die Gegenäußerung der
Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BTDrucks 7/2172, S. 32). Gegen ein Mehrheitswahlrecht
wurde im Gesetzgebungsverfahren jedoch eingewandt, der Minderheitenschutz sei unzulänglich und unausgewogen.
Durch die Wahl der unternehmensangehörigen Aufsichtsratsmitglieder durch Wahlmänner nach den Grundsätzen der
Mehrheitswahl werde die Eigenständigkeit konkurrierender Gewerkschaften und Gruppen gefährdet (vgl. z.B. die
Stellungnahme des Bundesrates, BTDrucks 7/2172, S. 31). Aufgrund dieser Kritik wurde auch für die Wahl nach § 15
Abs. 1 MitbestG das Verhältniswahlrecht eingeführt.
89
Der in der Natur des Systems der Verhältniswahl verankerte Minderheitenschutz ist darauf angelegt, ein
Vertretungsorgan zu schaffen, in dem der Sitzanteil in möglichst genauer Übereinstimmung mit dem Stimmenanteil
der verschiedenen Gruppierungen sowie der von ihnen vertretenen Auffassungen steht. Dies schließt eine Einbuße an
Geschlossenheit des Vertretungsorgans im Interesse einer Repräsentanz auch von Minderheiten ein (vgl. BVerfGE
60, 162 <171>; 71, 81 <97>).
90
Da sich der Gesetzgeber gegen eine Ausgestaltung des Wahlverfahrens entschieden hat, die eine einheitliche
Besetzung der Arbeitnehmerbank sichert, ist es ausgeschlossen, in der Behinderung konkurrierender Gewerkschaften
durch ein besonders hohes Quorum auf der Eingangsstufe einer indirekten Wahl ein zulässiges Ziel der
Ungleichbehandlung zu sehen.
91
b) Die Festschreibung eines Unterschriftenquorums für die Einreichung von Vorschlagslisten in der in § 12 Abs. 1
Satz 2 MitbestG vorgesehenen Höhe ist auch kein angemessener Weg zur Erreichung der zulässigen Ziele eines
Unterschriftenquorums.
92
Bei einem Unterschriftenquorum darf die Zahl der Unterschriften grundsätzlich nur so hoch festgesetzt werden, wie
es für die Erreichung des mit ihm verfolgten Zwecks erforderlich ist. Sie darf der Wählerentscheidung möglichst wenig
vorgreifen und nicht so hoch sein, dass Wahlbewerbern die Teilnahme an der Wahl praktisch unmöglich gemacht oder
übermäßig erschwert wird (vgl. BVerfGE 60, 162 <168 f.> m.w.N.; 71, 81 <97>).
93
aa) Das in § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG vorgesehene Quorum ist nicht erforderlich, um einer Stimmenzersplitterung
entgegenzuwirken. Die geringe Zahl der zu besetzenden Aufsichtsratssitze schließt eine zu große Zersplitterung von
vornherein aus (vgl. BVerfGE 60, 162 <172> für Personalvertretungswahlen). Eine Zersplitterung wird außerdem
dadurch verhindert, dass bei der Wahl der unternehmensangehörigen Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer durch
die Delegierten ein Quorum für die Wahlvorschläge besteht (§ 15 Abs. 4 MitbestG in der Ursprungsfassung vom
4. Mai 1976 sowie § 15 Abs. 2 MitbestG in der Fassung der Gesetze vom 23. Juli 2001 und vom 23. März 2002).
Splittergruppen haben daher in der Regel keine Chance auf einen Sitz im Aufsichtsrat. Eine Herabsetzung des in § 12
Abs. 1 Satz 2 MitbestG vorgeschriebenen Quorums dürfte daher auf ihre Repräsentanz im Aufsichtsrat kaum Einfluss
haben.
94
bb) "Mittelgroße" Gewerkschaften, die einen nicht unerheblichen Teil der Belegschaft vertreten, werden
demgegenüber durch das Unterschriftenquorum des § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG ungerechtfertigt benachteiligt. Denn
die Zahl der für eine Wahlteilnahme benötigten Unterschriften steht in keinem angemessenen Verhältnis zur Zahl der
Stimmen, die für einen Wahlerfolg erforderlich sind.
95
Dem Zweck von Quoren, aussichtslose Kandidaten fern zu halten, ohne dabei die Teilnahme an Wahlen unnötig zu
erschweren, wird grundsätzlich nur ein deutlicher Abstand zwischen Quorum und Wahlerfolg gerecht (vgl. dazu
BVerfGE 60, 162 <174 f.>; 67, 369 <378 f.>). Die Zahl derjenigen, die sich öffentlich durch Unterschrift bereit
erklären, eine Liste zu unterstützen, ist regelmäßig erheblich kleiner als die der potentiellen Wähler der Liste. Auch
das Prinzip der Geheimhaltung der Wahl schließt es aus, die Zahl der für eine Wahlteilnahme notwendigen
Unterschriften in der Nähe der für einen Wahlerfolg nötigen Stimmen festzulegen.
96
Nach § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG in der im Jahr 1995 gültigen
,
1206 <1209>) geänderten Fassung war die Zahl der benötigten Unterschriften bei einer Gruppengröße von 600 bis zu
1.829 wahlberechtigten Arbeitnehmern im Betrieb mit 60 bis 100 genauso hoch wie oder höher als die Zahl der
Stimmen, mit der auf jeden Fall ein Delegiertensitz erreicht wurde (60).
97
Daran hat sich auch nach den Änderungen des Mitbestimmungsgesetzes durch die Gesetze vom 23. Juli 2001 und
vom 23. März 2002 nichts Wesentliches geändert
.
nach wie vor bei 10 % oder 100 Unterschriften. Bei einer Gruppengröße von 900 bis zu 2.294 wahlberechtigten
Arbeitnehmern im Betrieb ist die Zahl der Unterschriften, die für eine Wahlteilnahme erforderlich sind (90 bis 100),
genauso hoch wie oder höher als die Zahl der Stimmen, mit der auf jeden Fall ein Delegiertensitz erlangt wird (90).
98
cc) Die Höhe des Quorums lässt sich auch nicht damit rechtfertigen, dass angesichts der großen Zahl der für einen
einzigen Aufsichtsratssitz notwendigen Delegiertenstimmen die Stimmenzahl, die für eine erfolgreiche Teilnahme an
der Delegiertenwahl im Betrieb nötig ist, noch keinen Aufschluss über die Ernsthaftigkeit der Listenbewerbung auf
Unternehmensebene gibt. Wenn der Gesetzgeber eine indirekte Wahl über die Wahl von Delegierten im Betrieb
vorsieht und ein betriebsbezogenes Quorum aufstellt, kann folgerichtig auch nur die Wahl im Betrieb Maßstab für die
verfassungsrechtliche Angemessenheit des Quorums sein. Ein Unterschriftenquorum, das in vielen Fällen die Zahl
der Stimmen übersteigt, die für einen Wahlerfolg im Betrieb nötig sind, ist nicht mehr angemessen.
99
Ein auf den Betrieb bezogen unverhältnismäßig hohes Quorum führt auch deshalb zu einer Verzerrung der
Chancengleichheit der konkurrierenden Listen, weil es verhindert, dass Gruppen, die unternehmensweit mit
hinreichendem Gewicht vertreten sind, aber in einzelnen Betrieben das Quorum nicht erreichen, ihr Wählerpotential
ausschöpfen können. In Großunternehmen ist eine unterschiedliche organisatorische Verankerung der
Gewerkschaften in den Betrieben nicht ausgeschlossen, so dass die Nichterreichung eines hohen Quorums in einigen
Betrieben nicht unbedingt Aufschluss über die Ernsthaftigkeit der Bewerbung auf Unternehmensebene gibt.
100
Der Gefahr, dass auf diese Weise zu viele unterschiedlich organisierte Delegierte gewählt werden und die
Stimmenbündelung für die für den Wahlerfolg erforderliche Stimmenzahl bei der endgültigen Wahl erschwert wird, ist
der Gesetzgeber durch das Quorum für die Wahlvorschläge zur Aufsichtsratswahl selbst (vgl. § 15 Abs. 4 MitbestG in
der Ursprungsfassung vom 4. Mai 1976 und § 15 Abs. 2 MitbestG in der Fassung der Gesetze vom 23. Juli 2001 und
vom 23. März 2002) begegnet. Somit ist das zulässige Quorum auf der Betriebsebene auf die hier erfolgende
Delegiertenwahl zu beziehen.
II.
101
Die Unvereinbarkeit des § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG sowohl in der Fassung des Gesetzes vom 26. Juni 1990 als
auch in der Fassung des Gesetzes vom 23. Juli 2001 mit Art. 3 Abs. 1 GG führt nicht gemäß § 95 Abs. 3 Satz 1
BVerfGG zur Nichtigkeit der Regelung.
102
Steht eine gesetzliche Vorschrift - wie hier - mit dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Einklang, hat
der Gesetzgeber im Allgemeinen mehrere Möglichkeiten, den Verstoß zu beseitigen. Dem trägt das
Bundesverfassungsgericht regelmäßig in der Weise Rechnung, dass es die gleichheitswidrige Norm nur für
unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt (vgl. BVerfGE 99, 280 <298>; 104, 74 <91>; 105, 73 <133>).
Gesichtspunkte, die im vorliegenden Fall eine andere Entscheidung gebieten könnten, sind nicht erkennbar.
103
Die angegriffene Regelung in § 12 Abs. 1 Satz 2 MitbestG kann bis zum In-Kraft-Treten einer gesetzlichen
Neuregelung, längstens bis zum 31. Dezember 2005, weiter angewendet werden. Bei einer Neuregelung darf der
Gesetzgeber auf unmittelbar bevorstehende oder bereits begonnene Aufsichtsratswahlverfahren Rücksicht nehmen
und - soweit dies für einen geordneten Ablauf dieser Verfahren erforderlich ist – Übergangsfristen für die Anwendung
des neuen Rechts vorsehen.
III.
104
Der Umstand, dass die Regelung trotz der Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG weiter anzuwenden ist, hat zugleich
zur Folge, dass Entscheidungen, die - wie die angegriffenen Beschlüsse - in der zurückliegenden Zeit auf diese
Regelung gestützt worden sind, verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden können (vgl. BVerfGE 103, 1 <20>).
Die Verfassungsbeschwerde ist deshalb, soweit sie sich gegen die angegriffenen Beschlüsse richtet,
zurückzuweisen.
IV.
105
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
D.
106
Die Entscheidung ist mit 7 : 1 Stimmen ergangen.
Papier
Jaeger
Haas
Hömig
Steiner
Hohmann-Dennhardt
Hoffmann-Riem
Bryde