Urteil des BVerfG vom 21.07.2009

BVerfG: eltern, verfassungsbeschwerde, rechtliches gehör, sexueller missbrauch, schule, schulpflicht, sexualität, staat, schüler, toleranz

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1358/09 –
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. des Herrn W…,
2. der Frau W...,
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 31. März 2009 - 4 Ss OWi
719/08 -,
b)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 5. März 2009 - 4 Ss OWi 719/08
-,
c)
das Urteil des Amtsgerichts Paderborn vom 11. Juni 2008 - 23 OWi 472 Js 385/08
(323/08) -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Bryde,
Schluckebier
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 21. Juli 2009 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein bußgeldrechtliches Verfahren wegen Verstößen gegen die Schulpflicht,
denen religiöse Erwägungen zugrunde liegen.
I.
2
1. Die Beschwerdeführer sind Eltern zweier 1998 und 1999 geborener Söhne, die eine Grundschule in Ostwestfalen
besuchen. Sie gehören einer baptistischen Glaubensgemeinschaft an.
3
An der Schule fanden im Februar 2007 das zweitägige Theaterprojekt „Mein Körper gehört mir“ und die
Karnevalsveranstaltung „Lütke Fastnacht“ als teilnahmepflichtige Schulveranstaltungen statt. Zweck des
Theaterprojektes war es, die Kinder für das Thema „sexueller Missbrauch“ durch Fremde oder auch
Familienangehörige zu sensibilisieren. Bei der „Lütke Fastnacht“ handelt es sich um eine seit Jahren gepflegte
Schultradition, bei der die Kinder bis zum Unterrichtsschluss um 10.30 Uhr gemeinsam im Klassenverband feiern,
spielen und essen können. Es ist ihnen freigestellt, sich zu verkleiden und an dem anschließend stattfindenden
Umzug auf dem Schulgelände teilzunehmen. Abgesehen davon bestand im Jahr 2007 während der
Karnevalsveranstaltung in der gesamten Unterrichtszeit die Möglichkeit, stattdessen den Schwimmunterricht zu
besuchen oder eine in der Turnhalle aufgebaute Bewegungslandschaft zu nutzen.
4
Die Kinder der Beschwerdeführer nahmen nicht an den genannten Veranstaltungen teil. Eine Befreiung nach § 43
Abs. 3 SchulG NRW lag nicht vor.
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2. Das Amtsgericht setzte nach § 126 Abs. 1 Nr. 4 SchulG NRW wegen eines zweifachen vorsätzlichen Verstoßes
gegen die in § 41 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW statuierte Elternverantwortung für die Einhaltung der Schulpflicht jeweils
eine Gesamtgeldbuße von 80 Euro gegen die Beschwerdeführer fest. Deren Antrag auf Zulassung der
Rechtsbeschwerde nach den §§ 79 ff. OWiG verwarf das Oberlandesgericht unter Verweis auf das Nichtvorliegen der
Voraussetzungen des § 80 OWiG. Desgleichen verwarf es die gegen diesen Beschluss erhobene Anhörungsrüge der
Beschwerdeführer nach § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 356a StPO.
II.
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Mit der rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer
Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
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1. Die angegriffenen Entscheidungen hätten verkannt, dass Eltern nicht dazu gezwungen werden könnten, ihre
Kinder an Schulveranstaltungen teilnehmen zu lassen, die auf einem anderen Glaubensbekenntnis beruhten. Die
Glaubenserziehung der Kinder sei Sache der Eltern. Die staatliche Schule sei zur Neutralität und Toleranz verpflichtet.
Diese Pflicht sei verletzt, wenn Kinder gezwungen würden, an einer katholischen Fastnachtsveranstaltung
teilzunehmen. Fastnacht sei ein katholisches Fest. Es werde heute so gefeiert, dass Katholiken sich vor der
Fastenzeit Ess- und Trinkgelagen hingäben, sich maskierten und meist völlig enthemmt - befreit von jeglicher Moral -
wie Narren benähmen. In dieser Weise werde Fastnacht auch an der Grundschule gefeiert. Mit ihrem - der
Beschwerdeführer - Glauben sei es aber unvereinbar, sich wie Narren zu benehmen. Von dem Alternativangebot zu
der Faschingsveranstaltung sei ihnen im Übrigen nichts bekannt gewesen, da dieses nicht allen betroffenen Eltern
bekannt gemacht worden sei.
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2. Das Theaterprojekt „Mein Körper gehört mir“ basiere auf einer absolut einseitigen emanzipatorischen
Sexualerziehung. Sie vermittele den Kindern, dass sie über ihre Sexualität allein zu bestimmen hätten. Ihr einziger
Ratgeber, der sie niemals täusche, sei danach ihr Gefühl. Dieses trete an die Stelle elterlicher Erziehung. Damit
werde auch das Wohl der Kinder gefährdet, weil diese mit der vermeintlichen Freiheit überfordert seien. Ihr, der
Beschwerdeführer, Gewissen verbiete es, ihre Kinder einer solch unguten Erziehung auszusetzen, die Gottes gute
Gebote zur Sexualität aufhebe und Kinder zu sexuellen Handlungen animiere bis hin zur Pädophilie.
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3. Ihr Recht auf rechtliches Gehör sei verletzt, da die Gerichte ihren Gewissenskonflikt nicht ernst genommen und
nicht in Erwägung gezogen hätten. Zudem liege eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG auch deshalb vor, weil die
von ihnen gestellten Beweisanträge abgelehnt worden seien.
III.
10
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen nach § 93a
Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 f.>). Der Verfassungsbeschwerde kommt keine
grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die Annahme der
Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Grundrechte und
grundrechtsgleichen Rechte der Beschwerdeführer angezeigt (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die
Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.
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Die Entscheidungen der zuständigen Fachgerichte, namentlich die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes
sowie die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den Einzelfall sind grundsätzlich der
Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Nur bei einer Verletzung spezifischen
Verfassungsrechts kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen. Dabei hängen die
Grenzen
seiner
Eingriffsmöglichkeiten
namentlich
von
der
Intensität
der
geltend
gemachten
Grundrechtsbeeinträchtigung ab: Die Schwelle eines Verstoßes gegen objektives Verfassungsrecht, den das
Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist erreicht, wenn die Entscheidung etwa der Strafgerichte Fehler bei der
Tatsachenfeststellung oder der Auslegung erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der
Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer
materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind. Je nachhaltiger ferner eine Verurteilung
im Ergebnis die Grundrechtssphäre des Verurteilten betrifft, desto strengere Anforderungen sind an die Begründung
dieses Eingriffs zu stellen und desto weiter reichen die Nachprüfungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts
(vgl. BVerfGE 43, 130 <135 f.>; 67, 213 <222 f.>).
12
Auch bei Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabs auf das Ordnungswidrigkeitsverfahren haben die
Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht hinreichend dargelegt.
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1. a) Die in Art. 4 Abs. 1 GG verbürgte Glaubensfreiheit umfasst auch den Anspruch, nach eigenen
Glaubensüberzeugungen leben und handeln zu dürfen (vgl. BVerfGE 32, 98 <106>; 93, 1 <15>). In Verbindung mit
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Eltern das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder garantiert, gewährleistet
Art. 4 Abs. 1 GG das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Danach ist es Sache der
Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln (vgl. BVerfGE 41, 29
<44, 47 f.>) und nicht geteilte Ansichten von ihnen fernzuhalten (vgl. BVerfGE 93, 1 <17>).
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Auch wenn dieses Grundrecht keinem Gesetzesvorbehalt unterliegt, ist es Einschränkungen zugänglich, die sich
aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu gehört der dem Staat in Art. 7 Abs. 1 GG erteilte Erziehungsauftrag (vgl.
BVerfGE 34, 165 <181>; 93, 1 <21>). Infolgedessen erfährt das elterliche Erziehungsrecht durch die zur
Konkretisierung dieses staatlichen Auftrags erlassene allgemeine Schulpflicht in grundsätzlich zulässiger Weise eine
Beschränkung (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. April 1989
- 1 BvR 235/89 -, juris). Im Einzelfall sind Konflikte zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern und dem
Erziehungsauftrag des Staates im Wege einer Abwägung nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zu lösen
(vgl. BVerfGE 93, 1 <21>).
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Zwar darf der Staat auch unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen (vgl. BVerfGE 34, 165 <182>;
47, 46 <71>), dabei muss er aber Neutralität und Toleranz gegenüber den erzieherischen Vorstellungen der Eltern
aufbringen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. April 1989 - 1
BvR 235/89 -, juris). Der Staat darf keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen,
ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben; er darf sich auch nicht durch von ihm ausgehende oder ihm
zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten
Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in der Gesellschaft von sich aus gefährden (vgl.
BVerfGE 93, 1 <16 f.>; 108, 282 <300>). Diese Verpflichtung stellt bei strikter Beachtung sicher, dass unzumutbare
Glaubens- und Gewissenskonflikte nicht entstehen und eine Indoktrination der Schüler etwa auf dem Gebiet der
Sexualerziehung unterbleibt (vgl. BVerfGK 1, 141 <144>).
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b) Hieran gemessen lässt der Vortrag der Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung der angeführten
Grundrechte durch die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen nicht erkennen.
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aa) Hinsichtlich der Präventionsveranstaltung hat das Amtsgericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender
Weise darauf abgestellt, dass die Schule mit der Sensibilisierung der Kinder für etwaigen sexuellen Missbrauch und
dem Aufzeigen von Möglichkeiten, sich dem zu entziehen, das ihr obliegende Neutralitätsgebot nicht verletzt hat. Es
hat nachvollziehbar darauf verwiesen, dass die auf der Glaubensüberzeugung der Beschwerdeführer beruhenden
elterlichen Vorstellungen von der Sexualerziehung ihrer Kinder durch die Präventionsveranstaltung nicht in Frage
gestellt worden sind, weil diese die Kinder nicht dahin beeinflusst hat, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten
oder abzulehnen (vgl. insoweit auch BVerfGK 8, 151 <156>).
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Diese Würdigung und die Feststellung des zugrundeliegenden Sachverhalts ist mit Blick auf die als verletzt gerügten
Grundrechte auch sonst nicht zu beanstanden. Die Bewertung der Beschwerdeführer, das Theaterprojekt „Mein Körper
gehört mir“ basiere auf einer absolut einseitigen „emanzipatorischen“ Sexualerziehung, die Kindern suggeriere, sie
könnten Sex allein abhängig von ihren Gefühlen haben und hätten dabei weder Gottes Gebote noch die der Eltern zu
beachten, haben sich die Fachgerichte aus nachvollziehbaren und vertretbaren Gründen nicht zueigen gemacht. Die
Behauptung der Beschwerdeführer, das Theaterprojekt spreche Kindern eine „freie Sexualität“ zu oder stelle gar eine
„Erziehung der Kinder zur Pädophilie“ dar, findet in dem vom Amtsgericht festgestellten Sachverhalt und in dem
vorgelegten Text des sogenannten „Körpersongs“ keinerlei Stütze. Unter diesen Umständen besteht kein Anhalt dafür,
dass die Fachgerichte die Glaubensfreiheit und das Recht der Beschwerdeführer auf Erziehung ihrer Kinder in
religiöser und weltanschaulicher Hinsicht in ihrer Wirkkraft und Tragweite verkannt haben könnten. Demnach ist von
Verfassungs wegen offensichtlich auch nichts dagegen zu erinnern, dass die Fachgerichte das in Rede stehende
Theaterprojekt und seine Zielsetzung im Ergebnis im Rahmen des Erziehungsauftrags des Staates für unbedenklich
erachtet haben.
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bb) Hinsichtlich der Karnevalsveranstaltung hat das Amtsgericht festgestellt, dass diese nicht mit religiösen
Handlungen verbunden gewesen ist und die Kinder weder gezwungen waren, sich zu verkleiden noch aktiv
mitzufeiern. Dass Karneval beziehungsweise Fastnacht kein katholisches Kirchenfest ist und in der Art und Weise der
Begehung als bloßes Brauchtum heutzutage der früher etwa vorhandenen religiösen Bezüge weitgehend entkleidet ist,
kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund begegnet die Bewertung des
Amtsgerichts, dass ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot durch die Karnevalsveranstaltung nicht vorliegt,
ersichtlich keinerlei Bedenken. Gleiches gilt für seine Auffassung, die Grundrechte der Beschwerdeführer aus Art. 4
und 6 GG geböten nicht, ihren Kindern eine Konfrontation mit dem Faschingstreiben der übrigen Schüler zu ersparen.
Denn solche mit dem Schulbesuch verbundenen Spannungen zwischen der religiösen Überzeugung einer Minderheit
und einer damit in Widerspruch stehenden Tradition einer anders geprägten Mehrheit sind grundsätzlich zumutbar (vgl.
BVerfGK 8, 151 <156>). Dies gilt umso mehr, als - worauf das Amtsgericht ebenfalls zu Recht hingewiesen hat -
vorliegend die Schule einen schonenden Ausgleich zwischen den Rechten der Eltern und dem staatlichen
Erziehungsauftrag auch dadurch gesucht hat, dass sie mit einem Schwimmunterricht und der Bewegungslandschaft in
der Turnhalle zwei alternative Angebote zur Verfügung gestellt hat. Die Feststellung des Amtsgerichts, dass die
Beschwerdeführer hiervon gewusst haben müssen, haben diese nicht mit verfassungsrechtlich erheblichen
Argumenten angegriffen.
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2. Schließlich ist die behauptete Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nicht hinreichend substantiiert dargelegt.
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Hinsichtlich der vom Amtsgericht zurückgewiesenen Beweisanträge ist mangels entsprechenden Vortrags und
Vorlage der Rechtsbeschwerdeschrift schon nicht erkennbar, ob die Beschwerdeführer im Rahmen der
Rechtsbeschwerde die Versagung rechtlichen Gehörs (vgl. § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) überhaupt gerügt und insoweit
den Rechtsweg erschöpft haben.
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Angesichts der ausführlichen Erwägungen des Amtsgerichts entbehrt auch der Vorwurf jeder Grundlage, dieses habe
den Gewissenskonflikt der Beschwerdeführer nicht ernst und deren Ausführungen nicht zur Kenntnis genommen; das
Gegenteil ist richtig.
23
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG
abgesehen.
24
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Bryde
Schluckebier