Urteil des BVerfG vom 18.02.1999
BVerfG: verfassungsbeschwerde, daten, datum, beschwerdefrist, einstellungsverfügung, grundrecht, ermittlungsverfahren, wiedergabe, beschwerdeschrift, strafantrag
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1201/98 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn T...
gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Juni 1998 - 1 Ws 94/98 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin
Präsidentin Limbach,
die Richter Kirchhof
und Jentsch
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93b Satz 1, 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 18. Februar 1999 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluß des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Juni 1998 - 1 Ws 94/98 - verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die
Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Naumburg zurückverwiesen.
2. Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfahren der
Verfassungsbeschwerde zu erstatten.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Fall einer gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden Anwendung des § 172 Abs.
3 StPO.
I.
2
1. Der Beschwerdeführer betreibt ein Klageerzwingungsverfahren wegen Nötigung. Er war als verantwortlicher
Bauleiter für seinen Arbeitgeber bei einer Baumaßnahme tätig. Der Arbeitgeber nutzte auf dem Baustellengelände ein
Baubüro. Der Beschwerdeführer behauptet, durch Drohungen seitens des Bauherrn dazu veranlaßt worden zu sein,
das Büro innerhalb kürzester Zeit zu räumen.
3
Der Beschwerdeführer stellte Strafantrag, das Verfahren wurde jedoch mit Verfügung vom 30. Juni 1997 gemäß
§ 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Die dagegen eingelegte Beschwerde hatte keinen Erfolg. Der Prozeßbevollmächtigte
des Beschwerdeführers stellte einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung, in dem er das Datum des
Einstellungsbescheides (30. Juni 1997) angab und ausführte, daß der Beschwerdeführer gegen die
Einstellungsverfügung "mit Schreiben vom 06.07.1997 fristgemäß Beschwerde" eingelegt habe.
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2. Das Oberlandesgericht verwarf den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig.
Der Beschwerdeführer habe insbesondere den Bescheid der Staatsanwaltschaft und die ihm zugrundeliegenden
Erwägungen nicht ausreichend mitgeteilt. Außerdem fehle es an der Darlegung der Daten, aus denen sich die
Einhaltung der Beschwerdefrist des § 172 Abs. 1 StPO ergebe.
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Auf die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers hin änderte das Oberlandesgericht mit Beschluß vom 22. Juni
1998 die Begründung für die Ablehnung des Antrags ab. Der Senat habe zwar übersehen, daß der Antrag die
geforderte Wiedergabe des Inhalts des Bescheides der Staatsanwaltschaft tatsächlich enthalten habe. Gleichwohl sei
im Ergebnis an der Entscheidung festzuhalten, daß der Antrag unzulässig sei. Aus der Antragsschrift könne nämlich
nicht entnommen werden, daß die Fristen des § 172 StPO eingehalten seien. Es fehle an Angaben darüber, wann der
Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft beim Antragsteller und wann dessen Beschwerde beim
Generalstaatsanwalt eingegangen sei. Der Antrag enthalte nur das Datum des Einstellungsbescheides und das der
Beschwerde.
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3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 103
Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. Er hält die Handhabung der Darlegungspflichten durch das Oberlandesgericht für nicht
mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar. Aus der Angabe der Daten seiner Schreiben
ergebe sich, daß die Fristen "offensichtlich" gewahrt seien.
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4. Das Bundesverfassungsgericht hat den Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
II.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90
Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§§ 93a Abs. 2 Buchst. b, 93b Satz 1 BVerfGG). Die Kammer gibt
der Verfassungsbeschwerde statt, weil sie zulässig und offensichtlich begründet i.S. des § 93c Abs. 1 Satz 1
BVerfGG ist. Der Beschluß des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3
Abs. 1 GG.
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a) Nach der Gegenvorstellung stützt sich die Unzulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts nur noch darauf,
daß der Beschwerdeführer die Einhaltung der Fristen nicht in seinem Antragsschreiben deutlich gemacht habe. Es ist
verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn das Oberlandesgericht die Vorschrift des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so
auslegt, daß der Antragsteller im Klageerzwingungverfahren als eine Zulässigkeitsvoraussetzung für den Antrag auf
gerichtliche Entscheidung auch die Einhaltung der Beschwerdefrist des § 172 Abs. 1 StPO darzulegen hat (s. etwa
BVerfG, Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. April 1992 - 2 BvR 877/89 -, NJW 1993, S. 382). Es
ist allerdings mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar, wenn das Oberlandesgericht im konkreten Fall davon ausgeht, daß
mit der Angabe der Daten die Einhaltung der Frist nicht hinreichend deutlich dargelegt sei.
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b) Bei lebensnaher Auslegung genügt es, wenn nach Abfassung der Beschwerdeschrift bis zum Ablauf der
Zweiwochenfrist noch eine hinreichend lange Zeit verbleibt, bei der unter Berücksichtigung normaler Postlaufzeiten
davon auszugehen ist, daß die Beschwerde fristgerecht eingegangen war (vgl. BVerfG, a.a.O.; BVerfG, Beschluß der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Oktober 1996 - 2 BvR 502/96 -, Umdruck S. 6).
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c) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung enthielt die Angabe, daß das Ermittlungsverfahren "mit Verfügung vom
30. Juni 1997... eingestellt" wurde. Weiter wurde mitgeteilt, daß der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 6. Juli 1997
Beschwerde gegen die Einstellung eingelegt habe. Die mit dem Datum vom 30. Juni 1997 versehene
Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft kann dem Beschwerdeführer frühestens am 1. Juli 1997 zugegangen
sein. Berechnet man die Frist des § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO unter Zugrundelegung der Angaben im Antrag auf
gerichtliche Entscheidung, so lief sie frühestens am 15. Juli 1997 ab. Das am 6. Juli 1997 verfaßte
Beschwerdeschreiben hatte mithin mindestens neun Tage Postlaufzeit, um beim Generalstaatsanwalt einzugehen.
Unter Berücksichtigung der bereits zitierten Kammerentscheidungen erweist es sich als nicht mehr verständlich, weil
unter keinem denkbaren Aspekt vertretbar und deshalb mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar (vgl. zu diesem Maßstab
BVerfGE 87, 273 <278 f.>), wenn das Oberlandesgericht in einem solchen Fall annimmt, daß die Einhaltung der
Beschwerdefrist nicht aus der Antragsschrift ersichtlich sei.
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2. Da das Oberlandesgericht nach der Gegenvorstellung seine Unzulässigkeitsentscheidung nur noch auf die
mangelnde Mitteilung der Daten stützt, ist die Entscheidung aufzuheben und zurückzuverweisen (vgl. §§ 93c Abs. 2,
95 Abs. 2 BVerfGG).
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3. Dem Beschwerdeführer sind seine notwendigen Auslagen im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gemäß § 34a
BVerfGG zu erstatten.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach
Kirchhof
Jentsch