Urteil des BVerfG vom 30.07.2013

bundesversammlung, rechtsschutz, ermittlungsverfahren, menschenrechte

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- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Peter Richter, LL.M.,
Birkenstraße 5, 66121 Saarbrücken -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 2/09 - Vz 2/13 -
- 2 BvE 2/10 - Vz 3/13 -
In den Verfahren
über
die Verzögerungsbeschwerden
des Herrn P …
gegen
die Dauer der Organstreitverfahren 2 BvE 2/09 und 2 BvE 2/10
hat die Beschwerdekammer des Bundesverfassungsgerichts
durch die Richter Gerhardt,
Gaier,
Eichberger
und die Richterin Hermanns
am 30. Juli 2013 beschlossen:
Die Verzögerungsbeschwerden werden als unzulässig verworfen.
I.
Die Verzögerungsbeschwerden richten sich gegen die Dauer zweier
Organstreitverfahren.
1. a) Der Beschwerdeführer war Mitglied der 13. Bundesversammlung. Mit seinen
Anträgen in dem am 26. August 2009 eingeleiteten Organstreitverfahren
2 BvE 2/09 macht er geltend, durch die 13. Bundesversammlung und deren
Präsidenten in seinen Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG analog verletzt zu sein.
b) Der Beschwerdeführer war auch Mitglied der 14. Bundesversammlung. Mit seinen
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Anträgen in dem am 1. September 2010 eingeleiteten Organstreitverfahren 2 BvE
2/10 macht er geltend, durch die 14. Bundesversammlung und deren Präsidenten in
seinen Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG analog verletzt zu sein.
c) Zur Begründung der Organstreitverfahren trägt er übereinstimmend vor, ihm sei in
den Bundesversammlungen das Wort zur Begründung von Anträgen nicht erteilt,
sondern eine Geschäftsordnung beschlossen worden, nach der sämtliche Anträge
nicht mündlich begründet werden durften; weitere von ihm eingebrachte Anträge
seien nicht zur Abstimmung gestellt oder abgelehnt worden. Ferner begehrt der
Beschwerdeführer, die Wahlen des Bundespräsidenten in der 13. und der 14.
Bundesversammlung für ungültig zu erklären und eine Wiederholungswahl
anzuordnen, weil die Bundesversammlungen aufgrund fehlerhafter Wahlen in
mehreren Länderparlamenten nicht verfassungsgemäß zusammengesetzt gewesen
seien.
Am 9. Januar 2012 legte der Beschwerdeführer in beiden Verfahren gleichlautende
Verzögerungsrügen ein, die er im Wesentlichen damit begründete, dass es in den
Verfahren um die Gültigkeit der Wahl des Staatsoberhauptes gehe, weshalb alle
Beteiligten an einer zügigen Erledigung interessiert sein sollten; auf das in
Wahlprüfungssachen geltende Beschleunigungsgebot sei hinzuweisen.
Mit seinen am 10. Mai 2010 und am 24. Juli 2012 gestellten Anträgen auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung richtet sich der Beschwerdeführer gegen
Strafverfolgungsmaßnahmen wegen der Vorwürfe der Volksverhetzung und der
Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener und beruft sich zur Begründung auf
seine Immunität als Mitglied der Bundesversammlung. Die Berichterstatterin teilte
dem Beschwerdeführer mit, es sei nicht beabsichtigt, über den Antrag zu entscheiden,
weil das mit ihm verfolgte Begehren nicht Inhalt der Entscheidung in der Hauptsache
sein könne, der Antrag mithin unzulässig sei.
2. Am 11. März 2013 hat der Beschwerdeführer Verzögerungsbeschwerden erhoben
und eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer beantragt, hilfsweise die
Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer, sowie unverzügliche
Bestimmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung. Zur Begründung wiederholt
er das Vorbringen aus seinen Verzögerungsrügen und fügt hinzu, in Anbetracht der
Bedeutung der Verfahren, der in Rede stehenden Rechtsverletzungen und der
Verfahrensdauer sei die bloße Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer
nicht ausreichend. Im Verfahren 2 BvE 2/10 sei der Beschwerdeführer gemäß § 97a
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Abs. 2 Satz 2, 3 BVerfGG mit mindestens 1.200 € zu entschädigen, da bei möglicher
Beendigung des Verfahrens innerhalb von zwei Jahren eine Verfahrensverzögerung
von rund einem Jahr vorliege. Im Verfahren
2 BvE 2/09 sei er mit mindestens 2.400 € zu entschädigen, weil die
Verfahrensverzögerung sich auf rund zwei Jahre belaufe. Auch seine Eilanträge
seien verschleppt worden, obwohl seine fortbestehende Immunität aus § 7 Satz 1 des
Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung
(BPräsWahlG) in Verbindung mit Art. 46 Abs. 2 GG gefährdet sei.
II.
Die Verzögerungsbeschwerden sind unzulässig. Die Ausführungen des
Beschwerdeführers genügen nicht den Darlegungsanforderungen aus § 97b Abs. 2
Satz 2 BVerfGG. Insbesondere ist ein Nachteil im Sinne von § 97a Abs. 1 Satz 1
BVerfGG nicht substantiiert dargelegt.
1. Gemäß § 97a Abs. 1 Satz 1 BVerfGG wird nur entschädigt, wer infolge
unangemessener Dauer eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht einen
Nachteil erleidet. Die Begründungs- und Substantiierungslast (§ 97b Abs. 2 Satz 2
BVerfGG) bezieht sich auch auf das Vorliegen eines Nachteils im Sinne des § 97a
Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
a) Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, mit dem die Verzögerungsbeschwerde für
Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eingeführt worden ist, setzt die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des
Bundesverfassungsgerichts zur überlangen Verfahrensdauer und ihren Folgen um
(vgl. EGMR, Urteil vom 2. September 2010 - 46344/06 -, NJW 2010, S. 3355 - Rumpf
./. Deutschland; BVerfGE 55, 349 <369>). Es sollte eine Rechtsschutzlücke
geschlossen werden, die sowohl den Anforderungen der Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1
in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG als auch denen der Art. 6, Art. 13 EMRK
(Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit) widerspricht (vgl. BTDrucks
17/3802, S. 1). Die mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren
und
strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren
geschaffenen
Instrumente bezwecken mithin, Gefährdungen der genannten Grund- und
Menschenrechte zu begegnen beziehungsweise deren Verletzungen zu
kompensieren. Der Entschädigungsanspruch als Ausgleich für Nachteile infolge
rechtswidrigen Verhaltens durch ein Gericht hat demgemäß individualschützenden
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Charakter. Dies findet seinen Niederschlag insbesondere in § 198 Abs. 6 Nr. 2 des
Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG), demzufolge Verfahrensbeteiligte im Sinne des
Gesetzes nicht Verfassungsorgane, Träger öffentlicher Verwaltung und sonstige
öffentliche Stellen sind, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines
Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind (vgl. auch BTDrucks
17/3802, S. 23).
b) Die Zielsetzung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bestimmt auch die
Auslegung der Regelungen über die Verzögerungsbeschwerde in §§ 97a ff.
BVerfGG. Zwar sind diese nicht nur in verfassungsgerichtlichen Verfahren
anwendbar, die wie namentlich die Verfassungsbeschwerde vorrangig auf die
Gewährung von Individualrechtsschutz hin angelegt sind. Daher können sie etwa
auch in Organstreitverfahren zum Tragen kommen. Gleichwohl liegt nach dem Sinn
und Zweck des Gesetzes ein Nachteil im Sinne von § 97a Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nur
in Fällen individueller Betroffenheit vor. Die unangemessene Dauer des Verfahrens
führt nur dann zu einem kompensationspflichtigen Nachteil, wenn sie sich auf die
individuelle Rechtsstellung eines Verfahrensbeteiligten auswirkt. Dies kann
beispielsweise beim Ausschluss eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages
von der Wahrnehmung seiner Rechte während der Legislaturperiode der Fall sein
(vgl. etwa BVerfGE 130, 318 ff.). Hingegen wird ein Nachteil bei erledigten
Sachverhalten, deren Klärung vorrangig im allgemeinen Interesse liegt, allenfalls
unter besonderen Voraussetzungen in Frage kommen.
Die Bestimmung des § 97a Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, wonach ein Nachteil, der nicht
Vermögensnachteil ist, vermutet wird, wenn ein Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht unangemessen lange gedauert hat, steht der
vorstehenden Auslegung nicht entgegen. Wie ihre Grundlage in der Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urteil vom 29. März
2006
- 36813/97 -, NJW 2007, S. 1259 <1265> - Scordino ./. Italien) zeigt (vgl. BTDrucks
17/3802, S. 19), knüpft die Vermutung an Verfahren des Individualrechtsschutzes an.
c) Die Verzögerungsbeschwerde ist gemäß § 97b Abs. 2 Satz 2 BVerfGG schriftlich
einzulegen und zu begründen, was Ausführungen zu allen Anspruchs-
voraussetzungen umfasst, an welche die Entschädigung anknüpft (vgl. BVerfG,
Beschluss der Beschwerdekammer vom 3. April 2013 - 1 BvR 2256/10 - Vz 32/12 -,
juris, Rn. 13). Mit der Begründung seiner Verzögerungsbeschwerde muss der
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Beschwerdeführer deshalb nicht nur die Unangemessenheit der Verfahrensdauer
darlegen, sondern auch, dass ein Nachteil vorliegt. In genuin dem Indivi-
dualgrundrechtsschutz dienenden Verfahren wird dafür in der Regel die Darlegung
der Unangemessenheit der Verfahrensdauer genügen, weil sich der
Beschwerdeführer für den Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, auf die
widerlegliche Vermutung des § 97a Abs. 2 Satz 1 BVerfGG berufen kann. Hingegen
obliegt es in einem Verfahren ohne offensichtliche subjektive Ausprägung - wie etwa
einem Organstreitverfahren, das grundsätzlich nicht dem Individualrechtsschutz,
sondern der gegenseitigen Kompetenzabgrenzung von Verfassungsorganen oder
ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis dient (vgl. BVerfGE 126, 55
<67 f.>) - dem Beschwerdeführer, die für das Vorliegen eines Nachteils im Sinne
einer
individuellen
Betroffenheit
maßgeblichen
Umstände
in
der
Beschwerdebegründung aufzuzeigen.
2. Der Beschwerdeführer hat einen Nachteil im Sinne des § 97a Abs. 1 Satz 1
BVerfGG nicht substantiiert dargelegt. Die Verzögerungsbeschwerden betreffen
Organstreitverfahren, weshalb der Beschwerdeführer gehalten war, seine subjektive
Betroffenheit durch die behauptete Verfahrensverzögerung darzulegen. Dieser
Obliegenheit ist er nicht nachgekommen. Ausführungen zur subjektiven Bedeutung
einer zügigen Verfahrensbeendigung fehlen. Der Beschwerdeführer verweist
lediglich auf die besondere Bedeutung der Bundespräsidentenwahl und das in
Wahlprüfungssachen geltende Beschleunigungsgebot. Daraus ergibt sich kein
Nachteil, der sich gerade in der Person des Beschwerdeführers verwirklicht und
einen Ausgleich erfordern könnte. Etwas anderes folgt auch nicht aus seinem
Hinweis auf die im Rahmen der Organstreitverfahren gestellten Eilanträge, mit denen
er offensichtlich ein verfahrensfremdes Rechtsschutzziel verfolgt.
3. Danach kann offen bleiben, ob der Beschwerdeführer ausreichend zum Vorliegen
einer unangemessen langen Verfahrensdauer vorgetragen hat (vgl. da-
zu BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 1. Oktober 2012 - 1 BvR 170/06 -
Vz 1/12 -, juris, Rn. 20 f., m.w.N.).
Gerhardt
Gaier
Eichberger
Hermanns