Urteil des BVerfG vom 16.03.2018
Anordnung im Unterbringungsverfahren zur Untersuchung der Betroffenen in deren Wohnung verletzt mangels einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 253/18 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau Rechtsanwältin N... für Frau L...,
gegen
den Beschluss des Amtsgerichts Soltau vom 8. Februar 2018 - 6 XVII L
405 -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 16. März 2018 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Amtsgerichts Soltau vom 8. Februar 2018 - 6 XVII L 405 -
verletzt die Betroffene in ihrem Grundrecht aus Artikel 13 Absatz 1 des
Grundgesetzes.
Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen
Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren und für das Verfahren
über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
G r ü n d e :
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die im fachgerichtlichen Verfahren
bestellte Verfahrenspflegerin gegen die betreuungsgerichtliche Anordnung, die
Betroffene - wenn nötig unter Gewaltanwendung - zur Vorbereitung der Erstellung
eines Sachverständigengutachtens zur Unterbringungsbedürftigkeit in ihrem
Wohnhaus untersuchen zu lassen.
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I.
1. Die Beschwerdeführerin ist die gerichtlich bestellte Verfahrenspflegerin der unter
Betreuung stehenden Betroffenen.
2. Mit angegriffenem Beschluss vom 8. Februar 2018 ordnete das Amtsgericht
Soltau im Betreuungsverfahren an, dass nach persönlicher Untersuchung oder
Befragung der Betroffenen ein Sachverständigengutachten zu Fragen der
Unterbringungsbedürftigkeit zu erstellen sei, und bestellte für die Erstattung des
Gutachtens eine Sachverständige. Als Termin für die Untersuchung der Betroffenen
zur Vorbereitung der Gutachtenerstellung wurde der 21. Februar 2018, 09:30 Uhr,
bestimmt. Weiter ordnete das Gericht an, dass die Untersuchung im Haus der
Betroffenen stattfinden solle und die Betroffene gegebenenfalls durch die zuständige
Betreuungsstelle dorthin vorzuführen sei, um die Untersuchung zu ermöglichen. Bei
Widerstand der Betroffenen werde die Betreuungsbehörde ermächtigt, die Wohnung
der Betroffenen ohne deren Einwilligung zu betreten und sich gewaltsamen Zugang
zu verschaffen.
II.
Auf den mit der Verfassungsbeschwerde verbundenen Antrag der
Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 2. Kammer
des Zweiten Senats mit Beschluss vom 15. Februar 2018 den angegriffenen
Beschluss bis zur Entscheidung über die Hauptsache einstweilen ausgesetzt.
III.
1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, die das
Verfahren als Verfahrenspflegerin der Betroffenen in eigenem Namen führt, eine
Verletzung des Grundrechts der Betroffenen aus Art. 13 Abs. 1 GG. Die Anordnung
verstoße gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung. Eine Untersuchung der
Betroffenen bei ihr zu Hause sei nicht angezeigt. Eine erhebliche Gefahr, die ein
gewaltsames Betreten der Wohnung rechtfertige, bestehe nicht.
2. Dem Justizministerium des Landes Niedersachsen ist Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben worden. Das Ministerium hat mitgeteilt, von einer
Stellungnahme abzusehen.
3. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht
vorgelegen.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr
statt. Dies ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Betroffenen aus Art. 13 Abs. 1
GG angezeigt (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch
das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden worden. Demnach ist die
zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz
1 BVerfGG).
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1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
a) Die Beschwerdeführerin ist bereits aufgrund ihrer einfachrechtlichen Bestellung
als Verfahrenspflegerin befugt, Verfassungsbeschwerde einzulegen und mit dieser -
ausnahmsweise - Rechte der Betroffenen in eigenem Namen wahrzunehmen.
aa) Zwar sind mit der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich eigene Rechte in
eigenem Namen geltend zu machen (vgl. BVerfGE 2, 292 <294>; 10, 134 <136>;
56, 296 <297>). Es ist jedoch anerkannt, dass in Ausnahmefällen auch im
Verfassungsbeschwerdeverfahren die Verletzung fremder Rechte in eigenem
Namen gerügt werden kann (vgl. BVerfGE 10, 229 <230>; 21, 139 <143>; 27, 326
<333>; 51, 405 <409>; 65, 182 <190>). Dies gilt insbesondere, wenn ansonsten die
Gefahr bestünde, dass gerichtliche Entscheidungen überhaupt nicht mit der
Verfassungsbeschwerde angegriffen werden könnten (vgl. BVerfGE 77, 263
<269>).
bb) Eine solche Gefahr besteht aufgrund der psychischen Erkrankung der
Betroffenen auch im vorliegenden Fall. Die einfachrechtlichen Vorschriften über die
Verfahrenspflegschaft sind daher dahingehend auszulegen, dass sie das Recht der
Beschwerdeführerin
umfassen,
die
Rechte
der
Betroffenen
im
Verfassungsbeschwerdeverfahren geltend zu machen (vgl. dazu BVerfGK 20, 304
<305 ff.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar
2017 - 1 BvR 2569/16 -, juris, Rn. 35).
(1) Im Unterbringungsverfahren wird dem Betroffenen gemäß § 317 FamFG ein
Verfahrenspfleger bestellt, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen
erforderlich ist. Der Verfahrenspfleger hat die Pflicht, die verfahrensmäßigen Rechte
des Betroffenen, insbesondere dessen Anspruch auf rechtliches Gehör, zu wahren,
hierfür den tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu erkunden
und in dessen Interesse einzubringen (BVerfGK 20, 304 <305>; siehe auch Meier,
in: Jurgeleit, Betreuungsrecht, 3. Aufl. 2013, § 317 FamFG Rn. 2 ff.; Budde, in:
Keidel, FamFG, 19. Aufl. 2017, § 317 Rn. 1). Anders als der Betreuer ist der
Verfahrenspfleger nicht der Vertreter des Betroffenen; er handelt vielmehr als
eigenständiger Verfahrensbeteiligter stets in eigenem Namen (vgl. BVerfGK 20, 304
<306>; Budde, in: Keidel, FamFG, 19. Aufl. 2017, § 276 Rn. 26). Als solcher kann er
allerdings die gleichen Rechte geltend machen, die auch dem Betroffenen zustehen.
So ist er insbesondere auch befugt, eigenständig Rechtsmittel einzulegen (vgl.
Budde, in: Keidel, FamFG, 19. Aufl. 2017, § 276 Rn. 23, 27; Günter, in:
Hahne/Schlögel/Schlünder, Beck’scher Online Kommentar FamFG, 25. Edition, §
276 Rn. 5 ). Beendet ist die Verfahrenspflegschaft nach dem
Wortlaut des § 317 Abs. 5 FamFG, „sofern sie nicht vorher aufgehoben wird, mit der
Rechtskraft der Endentscheidung oder mit dem sonstigen Abschluss des
Verfahrens“.
(2) Jedenfalls in Fällen, in denen im Unterbringungsverfahren unmittelbar
bevorstehende Zwangsmaßnahmen Verfahrensgegenstand sind, sind die
Vorschriften über die Verfahrenspflegschaft dahingehend auszulegen, dass sie auch
das Recht zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde einschließen, also dem für
das einfachrechtliche Verfahren bestellten Verfahrenspfleger die Befugnis
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einräumen, im Interesse des Betroffenen über die einfachrechtlichen Rechtsmittel
hinaus Verfassungsbeschwerde zu erheben (vgl. BVerfGK 20, 304 <306> zur
Beschwerdebefugnis des Verfahrenspflegers in betreuungsrechtlichen Verfahren).
Andernfalls bestünde in derartigen Konstellationen entgegen dem Grundgedanken
des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG die Gefahr, dass Grundrechte des Betroffenen von
vornherein
nicht
zeitgerecht
und
wirkungsvoll
im
Wege
einer
Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden könnten, weil der Betroffene
selbst aufgrund seiner Erkrankung hierzu nicht in der Lage ist (vgl. BVerfGK 20, 304
<306>).
b) Der Rechtsweg ist erschöpft. Die gerichtliche Anordnung, die Betroffene - wenn
nötig - gegen ihren Willen in ihrer Wohnung durch die Sachverständige untersuchen
zu lassen, ist eine nicht instanzabschließende Zwischenentscheidung und als
solche gemäß § 58 Abs. 1 FamFG nicht selbstständig anfechtbar (vgl. Budde, in:
Keidel, FamFG, 19. Aufl. 2017, § 283 Rn. 7).
2. Der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts vom 8. Februar 2018 verletzt die
Betroffene in ihrem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG.
a) Die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen und die von
ihnen im Einzelnen vorgenommene Abwägung hat das Bundesverfassungsgericht
nicht nachzuprüfen (BVerfGK 16, 142 <145>). Ebenso ist es grundsätzlich den
Fachgerichten überlassen, welchen verfahrensrechtlichen Weg sie wählen, um zu
den für ihre Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. BVerfGE
79, 51 <62>). Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob
fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung
von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85
<92 f.>).
b) Die Unverletzlichkeit der Wohnung hat einen engen Bezug zur Menschenwürde
und steht zugleich im nahen Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen
Gebot unbedingter Achtung einer Sphäre des Bürgers für eine ausschließlich private
- eine „höchstpersönliche“ - Entfaltung. Dem Einzelnen soll das Recht, in Ruhe
gelassen zu werden, gerade in seinen Wohnräumen gesichert sein (vgl. BVerfGE
75, 318 <328>; 109, 279 <313>; siehe auch BVerfGE 51, 97 <110>). Art. 13 Abs. 1
GG schützt die räumliche Privatsphäre insbesondere in Gestalt eines Abwehrrechts
(vgl. BVerfGE 7, 230 <238>; 65, 1 <40>). Die Norm enthält das an Träger der
öffentlichen Gewalt gerichtete grundsätzliche Verbot, gegen den Willen des
Wohnungsinhabers in die Wohnung einzudringen und darin zu verweilen (vgl.
BVerfGE 76, 83 <89 f.>). Schon im Zeitpunkt der Schaffung des Grundgesetzes
diente das Grundrecht des Art. 13 Abs. 1 GG dem Schutz des Wohnungsinhabers
vor unerwünschter physischer Anwesenheit eines Vertreters der Staatsgewalt (vgl.
BVerfGE 109, 279 <309>).
Der Begriff der Wohnung im Sinne des Art. 13 GG ist dabei weit zu verstehen
(vgl. BVerfGE 32, 54 <68 ff.>). Das Grundrecht normiert für die öffentliche Gewalt
ein grundsätzliches Verbot des Eindringens in die Wohnung oder des Verweilens
darin gegen den Willen des Wohnungsinhabers (vgl. BVerfGE 65, 1 <40>). Mit der
durch Art. 13 Abs. 1 GG garantierten Unverletzlichkeit der Wohnung wird dem
Einzelnen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum
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gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu
werden (BVerfGK 16, 142 <145>).
Die Unverletzlichkeit der Wohnung wird in Art. 13 Abs. 7 GG weiter dadurch
gesichert, dass „Eingriffe und Beschränkungen“, die nicht „Durchsuchungen“ sind,
nur unter ganz bestimmten, genau umschriebenen Voraussetzungen vorgenommen
werden dürfen. Bei Wohnräumen im engeren Sinn entspricht diese strenge
Begrenzung der zulässigen Eingriffe dem grundsätzlichen Gebot unbedingter
Achtung der Privatsphäre des Bürgers (vgl. BVerfGE 32, 54 <73>).
c) Unter Berücksichtigung der vorgenannten Maßstäbe hält der angegriffene
Beschluss des Amtsgerichts einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Art.
13 Abs. 7 GG fordert für Eingriffe und Beschränkungen, die nicht von Art. 13 Abs. 2
bis 5 GG erfasst sind, eine spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, es sei
denn, sie dienen der Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für
einzelne Personen, welche vorliegend nicht ersichtlich ist und von der auch das
Amtsgericht in dem angegriffenen Beschluss nicht ausgegangen ist.
Eine Ermächtigungsgrundlage für die Begutachtung der Betroffenen in ihrer
Wohnung gegen ihren Willen kann insbesondere nicht in § 322 FamFG in
Verbindung mit § 283 FamFG gesehen werden: Wirkt der Betroffene an einer
Begutachtung nicht mit, so kann das Gericht gemäß § 283 Abs. 1 und 3 FamFG
zwar seine Vorführung anordnen und gegebenenfalls die Befugnis aussprechen, die
Wohnung des Betroffenen zu betreten. Letztere Maßnahme dient jedoch allein dem
Ziel, die Person des Betroffenen aufzufinden, um ihn der Untersuchung zuzuführen
(vgl. BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2012 - XII ZB 181/12 -, juris, Rn. 18 m.w.N.;
Kretz, in: Jürgens, Betreuungsrecht, 5. Aufl. 2014, § 283 FamFG Rn. 4; ebenso
BTDrucks 16/6308, S. 420). Die Vorschrift bietet weder eine Rechtsgrundlage dafür,
den Betroffenen gegen seinen Willen in seiner Wohnung anzuhören, noch ihn dort
durch den Sachverständigen untersuchen zu lassen (vgl. BGH, a.a.O.).
3. Im Hinblick auf die Erledigung des Beschlusses durch Zeitablauf bleibt für die
Aufhebung der amtsgerichtlichen Anordnung kein Raum. Die Entscheidung
beschränkt sich deshalb auf die Feststellung einer Verletzung des Grundgesetzes
(vgl. BVerfGE 42, 212 <222>).
V.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerde-
führerin beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Huber
Kessal-Wulf
König