Urteil des BVerfG vom 03.07.2012

gefahr im verzug, innerer notstand, de lege ferenda, plenum

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 PBvU 1/11 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Vorlage des Zweiten Senats
vom 19. Mai 2010 - 2 BvF 1/05 -
hat das Plenum des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 16 Abs. 1 BVerfGG unter
Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Vizepräsident Kirchhof,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Gaier,
Eichberger,
Schluckebier,
Masing,
Paulus,
Huber,
Hermanns,
Baer,
Britz,
Müller,
Kessal-Wulf
am 3. Juli 2012 beschlossen:
1. Die Gesetzgebungszuständigkeit für die §§ 13 bis 15 des
Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) in der Fassung des Artikels 1 des
Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vom 11. Januar 2005
(Bundesgesetzblatt I Seite 78) ergibt sich aus Artikel 73 Nummer 6 des
Grundgesetzes in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93,
98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143c) vom 28. August 2006
(Bundesgesetzblatt I Seite 2034) geltenden Fassung.
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2. Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 des Grundgesetzes schließen eine
Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei einem Einsatz der Streitkräfte
nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter
engen Voraussetzungen zu, die sicherstellen, dass nicht die strikten
Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der
Streitkräfte im Inneren durch Artikel 87a Absatz 4 GG gesetzt sind.
3. Der Einsatz der Streitkräfte nach Artikel 35 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes
ist, auch in Eilfällen, allein aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung
als Kollegialorgan zulässig.
Gründe:
A.
I.
1. Der Zweite Senat hat mit Beschluss vom 19. Mai 2010 (2 BvF 1/05) gemäß § 48
Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts beim Ersten Senat
angefragt, ob dieser an den Rechtsauffassungen festhält, wonach
1. die Gesetzgebungszuständigkeit für § 13, § 14 Abs. 1, 2 und 4 und
§ 15 des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) in der Fassung des
A r t i k e l s 1
des
Gesetzes
zur
Neuregelung
von
Luftsicherheitsaufgaben vom 11. Januar 2005 (BGBl I S. 78 ) sich
nicht auf Art. 73 Nr. 1 oder Art. 73 Nr. 6 GG, sondern allein auf
Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG stützen lässt (BVerfGE 115, 118
<140 f.>),
2. Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG einen Einsatz der Streitkräfte
mit spezifisch militärischen Waffen nicht zulässt (BVerfGE 115, 118
<146 ff., 150 f.> ), und
3. § 13 Abs. 3 Satz 2 und 3 LuftSiG mit Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG
unvereinbar
sind,
soweit
sie eine
Eilkompetenz
des
Bundesministers der Verteidigung auch für die Fälle des Art. 35 Abs.
3 GG vorsehen ( BVerfGE 115, 118 <149 f.> ).
2. Der Anfrage liegt zugrunde, dass der Zweite Senat in einem Verfahren der
abstrakten Normenkontrolle (2 BvF 1/05) auf Antrag der Bayerischen Staatsregierung
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und der Hessischen Landesregierung darüber zu entscheiden hat, ob § 13, § 14 Abs.
1, 2 und 4 und § 15 LuftSiG, die die Voraussetzungen und Modalitäten eines
Einsatzes der Streitkräfte zur Abwehr besonders schwerer von Luftfahrzeugen
ausgehender Unglücksfälle regeln, mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Der
Normenkontrollantrag betraf ursprünglich die §§ 13 bis 15 LuftSiG. Nachdem § 14
Abs. 3 LuftSiG, der zum Abschuss eines gegen das Leben von Menschen
eingesetzten Luftfahrzeugs ermächtigte, durch Urteil des Ersten Senats vom 15.
Februar 2006 für nichtig erklärt wurde (BVerfGE 115, 118 <119> ), haben die
Antragstellerinnen ihren Antrag insoweit für erledigt erklärt. Damit stehen in dem
Ausgangsverfahren nur noch § 13, § 14 Abs. 1, 2 und 4 und § 15 LuftSiG zur Prüfung.
Der Zweite Senat möchte in diesem Verfahren abweichend von den genannten
Rechtsauffassungen entscheiden (§ 16 BVerfGG, § 48 Abs. 2 GOBVerfG).
3. Der Erste Senat hat mit Beschluss vom 12. Oktober 2010 erklärt, dass er an
seinen Rechtsauffassungen festhält.
4. Mit Beschluss vom 3. Mai 2011 hat der Zweite Senat das Plenum angerufen.
5. Die Antragstellerinnen des Ausgangsverfahrens, der Bundestag, der
Bundesrat, die Bundesregierung, das Bundesministerium des Innern und die
(weiteren) Landesregierungen erhielten Kenntnis von der Vorlage. Stellungnahmen
sind nicht eingegangen.
II.
Das Plenum ist zur Entscheidung über die Vorlage berufen.
1. Die Anrufung des Plenums (§ 16 BVerfGG) ist geboten, wenn ein Senat von
einer Rechtsauffassung des anderen Senats abweichen möchte, die für die
Entscheidung des anderen Senats tragend war (vgl. BVerfGE 4, 27 <28>; 77, 84
<104>; 96, 375 <404>; 112, 1 <23>; 112, 50 <63> ). Die Rechtsauffassungen, auf die
sich die vorliegende Anfrage bezieht, waren in dem Urteil des Ersten Senats, mit dem
über die Gültigkeit der gesetzlichen Ermächtigung des § 14 Abs. 3 LuftSiG
entschieden wurde, tragend im für die Anwendung des § 16 BVerfGG maßgebenden
Sinne.
2. An der tragenden Qualität fehlt es diesen Rechtsauffassungen nicht deshalb, weil
§ 14 Abs. 3 LuftSiG in dem Urteil nicht allein auf ihrer Grundlage, sondern auch
wegen Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG für nichtig erklärt wurde. Tragend sind
jedenfalls diejenigen Rechtsauffassungen, die nicht hinweggedacht werden können,
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ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum
Ausdruck gekommenen Gedankengang entfiele (vgl. BVerfGE 96, 375 <404> ). Der
Urteilsausspruch des Ersten Senats zu § 14 Abs. 3 LuftSiG lautete, dass die
Bestimmung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 87a Abs. 2 und Art. 35
Abs. 2 und 3 sowie in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig sei
(BVerfGE
115,
118
<119> ).
Dieses
im
Urteilstenor ausgesprochene
Entscheidungsergebnis hätte nicht dieselbe Gestalt, wenn der Erste Senat sich nicht
über seine Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG hinaus auch auf Auslegungen des Art. 35
GG gestützt hätte, auf die sich die vorliegende Anfrage bezieht.
Allerdings wäre der Urteilsausspruch unverändert geblieben, wenn der Erste Senat
sei ne Entscheidung allein auf die unter 1. und 2. der Anfrage aufgeführten
Rechtsauffassungen gestützt hätte, nicht dagegen auch auf die Annahme, § 13 Abs. 3
Satz 2 und 3 LuftSiG seien mit Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG unvereinbar, soweit sie eine
Eilkompetenz des Bundesministers der Verteidigung auch für die Fälle des Art. 35
Abs. 3 GG vorsehen (Ziff. 3. der Anfrage). Diese letztere Annahme, die allein die
Auslegung des Art. 35 Abs. 3 GG betrifft, kann hinweggedacht werden, ohne dass
sich daraus Konsequenzen für den Urteilstenor ergäben. Denn dieser wird, soweit er
Art. 35 Abs. 3 GG betrifft, zugleich durch die Rechtsauffassung gestützt, dass Art. 35
Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG einen Einsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen
Waffen nicht zulasse (Ziff. 2. der Anfrage).
Dennoch ist auch die drittgenannte Rechtsauffassung für das Urteil des Ersten
Senats vom 15. Februar 2006 tragend im hier maßgebenden Sinne. Wird das
Kriterium, dem zufolge tragend diejenigen Rechtsauffassungen sind, die nicht
hinweggedacht werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis
nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfiele,
als nicht nur notwendiges, sondern hinreichendes, abschließend definierendes
verstanden, so ist allerdings in Fällen, in denen das konkrete Entscheidungsergebnis
auf
mehrere voneinander unabhängige und jeweils selbständig tragfähige
Rechtsauffassungen gestützt ist, keine dieser Rechtsauffassungen, für sich
betrachtet, tragend. Ob und inwieweit ein solches Verständnis dem mit § 16 BVerfGG
verfolgten Anliegen der Rechtsklarheit und den besonderen Erfordernissen der
Kooperation zwischen den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts im
Allgemeinen gerecht wird, bedarf hier keiner abschließenden Klärung. Jedenfalls
wenn ein konkretes Ergebnis der Entscheidung eines Senats - wie im vorliegenden
Fall der Tenor des Urteils des Ersten Senats vom 15. Februar 2006, soweit er Art. 35
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Abs. 3 GG betrifft - sich auf mehrere selbständig tragfähige Rechtsauffassungen stützt
und der andere Senat nicht nur von einer dieser Rechtsauffassungen, sondern von
allen abweichen möchte, kann deren tragende Qualität nicht auf der Grundlage einer
isolierten Betrachtung jeder einzelnen dieser Rechtsauffassungen nach dem
genannten
Kriterium
verneint werden (vgl. zur Divergenzvorlage im
einfachgesetzlichen Prozessrecht BFH, Beschluss vom 22. Juli 1977 - III B 34/74 -,
BFHE 123, 112, Leitsatz 4). Eine Betrachtung, die jeder einzelnen der fraglichen
Rechtsauffassungen für sich genommen die tragende Qualität mit Blick auf die
Tragfähigkeit der jeweils verbleibenden anderen abspricht und so darauf hinausläuft,
dass dem gefundenen Entscheidungsergebnis eine tragende Begründung im Ganzen
abgesprochen wird, würde es in dieser Konstellation dem abweichungswilligen Senat
ermöglichen, von Rechtsauffassungen des anderen Senats, die jedenfalls in der
Gesamtbetrachtung tragend sind, insgesamt ohne Anrufung des Plenums
abzuweichen. Dies kann schon deshalb nicht richtig sein, weil damit Divergenzen,
die nicht einzelne Rechtsauffassungen, sondern Komplexe von selbständig
tragfähigen Rechtsauffassungen betreffen, trotz Entscheidungserheblichkeit der
Bereinigung durch das Plenum entzogen wären.
B.
I.
Zur ersten Vorlagefrage:
Die Gesetzgebungszuständigkeit für § 13, § 14 Abs. 1, 2 und 4 und § 15 LuftSiG
ergibt sich nicht aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG, sondern als
Annexkompetenz aus Art. 73 Nr. 6 GG in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl I S. 2034 ) geltenden
Fassung (Art. 73 Nr. 6 GG a.F.; heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG), der dem Bund die
ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für den Luftverkehr zuweist. Ob und
inwieweit daneben Art. 73 Nr. 1 GG a.F. (heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG) als
Kompetenzgrundlage in Betracht kommt, bleibt offen.
1. Art. 35 Abs. 2 und 3 GG bieten für Bundesrecht, das den Einsatz der Streitkräfte
i m Katastrophennotstand regelt, keine ausdrückliche Kompetenzgrundlage. Ihrem
Wortlaut nach regeln diese Bestimmungen, soweit sie den Einsatz der Streitkräfte
betreffen, materielle und prozedurale Voraussetzungen für einen solchen Einsatz.
Ungeschriebene Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes in Sachnormen außerhalb
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des VII. Abschnitts des Grundgesetzes (Art. 70 ff.) aufzusuchen, liegt auch in
systematischer
Hinsicht
und
nach
dem
Schutzzweck
der föderalen
Zuständigkeitsordnung, die grundsätzlich nicht durch die Normen des materiellen
Verfassungsrechts, sondern durch gesonderte, strikt auszulegende (vgl. BVerfGE 12,
205 <228>; 15, 1 <17>) und in ihrer Reichweite von materiellrechtlichen Vorgaben
unabhängige Kompetenzvorschriften bestimmt ist, nicht nahe. Gegen eine solche
Kompetenzzuschreibung spricht zudem, dass sich aus ihr nur schwer Klarheit über
die Rechtsnatur der zugeschriebenen Kompetenz - ausschließlich oder konkurrierend
- gewinnen lässt.
2. a) Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die §§ 13 ff. LuftSiG folgt aus
Art. 73 Nr. 6 GG a.F. (heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG), der dem Bund die
Gesetzgebungskompetenz für den Luftverkehr zuweist. Nach tradierter und im
Grundsatz unbestrittener Auffassung steht dem Bund, soweit er für ein bestimmtes
Sachgebiet die Gesetzgebungszuständigkeit hat, als Annexkompetenz auch die
Gesetzgebungsbefugnis für die damit in einem notwendigen Zusammenhang
stehenden Regelungen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in diesem
Bereich zu (vgl. BVerfGE 3, 407 <433>; 8, 143, <150>; 78, 374 <386 f.>; 109, 190
<215>).
b) Dies gilt auch für das Sachgebiet „Luftverkehr“. Die Gesetzgebungszuständigkeit
für den Luftverkehr umfasst daher als Annex jedenfalls die Befugnis, Regelungen zur
Abwehr solcher Gefahren zu treffen, die gerade aus dem Luftverkehr herrühren (vgl.,
mit im Einzelnen unterschiedlichen Abgrenzungen, jeweils aber mindestens die eben
genannte Regelungskompetenz einschließend, BVerwGE 95, 188 <191>; BVerwG,
Urteil vom 10. Dezember 1996 - 1 C 33/94 -, NVwZ-RR 1997, S. 350 <351>;
Laschewski, Der Einsatz der deutschen Streitkräfte im Inland, 2005, S. 130; Paulke,
Die Abwehr von Terrorgefahren im Luftraum, 2005, S. 24; Burkiczak, NZWehrr 2006,
S. 89 <95>; Schenke, NJW 2006, S. 736 <737>; Odendahl, Die Verwaltung 38
<2005>, S. 425 <438>; Baldus, NVwZ 2004, S. 1278 <1279 f.>; Gramm, NZWehrr
2003, S. 89 <96>).
Allerdings bedarf die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen einer dem
Bund zugewiesenen Regelungskompetenz für ein bestimmtes Sachgebiet und
einschlägigen Regelungen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung
strenger Prüfung. Dies gilt erst recht, wenn die sachgebietliche Kompetenz zu den
ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, insbesondere also zu
d e n in Art. 73 GG aufgeführten, gehört. Jedenfalls für die Abwehr derjenigen
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spezifisch aus dem Luftverkehr herrührenden Gefahren, auf die die Regelungen des
Luftsicherheitsgesetzes zielen, ist der erforderliche notwendige Zusammenhang
gegeben. Denn bei dezentraler Regelungskompetenz hätten unzureichend
abwehrwirksame Regelungen eines einzelnen Landes erhebliche negative Folgen
für die Sicherheit, die mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht im Wesentlichen auf das
betreffende Land beschränkt wären.
aa) Art. 73 Nr. 6 GG a.F. scheidet als Kompetenzgrundlage für die §§ 13 ff. LuftSiG
nicht deshalb aus, weil es sich bei diesen Bestimmungen nicht um eigenständiges
Gefahrenabwehrrecht des Bundes, sondern allein um Verfahrens- und
Mittelbereitstellungsregelungen
für
den Fall
der
Unterstützung
von
Gefahrenabwehrmaßnahmen der Länder handelte (vgl. BVerfGE 115, 118 <141>).
Ungeachtet der Frage, ob dies eine Zuordnung zum Gefahrenabwehrrecht
ausschlösse, beschränken sich die Vorschriften nicht auf das Vorfeld
außenwirksamer Eingriffe. § 13 LuftSiG regelt nicht nur die Voraussetzungen für die
unterstützende
Bereitstellung
von Streitkräften, sondern unmittelbar die
tatbestandlichen Voraussetzungen dafür, dass Streitkräfte, wenn auch in einer
unterstützenden Funktion, „eingesetzt werden“ können (Abs. 1), sowie die
Zuständigkeiten zur Entscheidung über „einen Einsatz“ (Abs. 2 und 3) und die
normativen Rahmenbedingungen hierfür (Abs. 4: „Das Nähere wird zwischen Bund
und Ländern geregelt. Die Unterstützung durch die Streitkräfte richtet sich nach den
Vorschriften dieses Gesetzes.“). Auch § 14 und § 15 LuftSiG sind als materielle
Eingriffsnormen gefasst. Sie regeln, dass die Streitkräfte Luftfahrzeuge abdrängen,
zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse
abgeben „dürfen“ (§ 14 Abs. 1 LuftSiG), dass sie auf Ersuchen der zuständigen
Flugsicherungsstelle im Luftraum Luftfahrzeuge „überprüfen, umleiten oder warnen“
können (§ 15 Abs. 1 Satz 2 LuftSiG), welche „Maßnahmen“ sie „auszuwählen“ haben
(§ 14 Abs. 2 Satz 1 LuftSiG), welche sonstigen Maßgaben im Hinblick auf
Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne einzuhalten sind (§ 14
Abs. 2 Satz 2, § 15 Abs. 1 Satz 1 LuftSiG), und dass der Bundesminister der
Verteidigung den Inspekteur der Luftwaffe ermächtigen kann, die fraglichen
„Maßnahmen … anzuordnen“ (§ 15 Abs. 2 Satz 1 LuftSiG). Der zwischenzeitlich für
nichtig erklärte § 14 Abs. 3 LuftSiG bestimmte, unter welchen Voraussetzungen die
unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt „zulässig“ sein sollte. Auch § 21 LuftSiG,
der mit Blick auf das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich festhält,
dass - unter anderem - das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
„nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt“ wird, spricht für eine unmittelbar
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eingriffsermächtigende Bedeutung der Regelungen zum Streitkräfteeinsatz.
bb) Die Gesetzgebungsgeschichte ergibt keine Anhaltspunkte, die diesen Befund in
Frage stellen, sondern bestätigt, dass nicht etwa nur die Bereitstellung von
Ressourcen für allein auf landesrechtlicher Grundlage wahrzunehmende Aufgaben
der Gefahrenabwehr geregelt, sondern unmittelbares Eingriffsrecht geschaffen
werden sollte. So heißt es in der Begründung des Regierungsentwurfs, jenseits des
von den Gefahrenabwehrbehörden der Länder Bewältigbaren sollten die Streitkräfte
„ihre Maßnahmen“ treffen (vgl. BTDrucks 15/2361, S. 20). § 14 LuftSiG regele „die
Zwangsmittel der Streitkräfte, die ihnen zur Unterstützung der Polizei zur Verfügung
stehen“, und Absatz 3 verleihe „die Befugnis, unmittelbar mit Waffengewalt auf
Luftfahrzeuge einzuwirken“ (a.a.O., S. 21). In Bundesrat und Bundestag wurden die
im
Gesetzentwurf
vorgesehenen
Regelungen
zum Streitkräfteeinsatz
dementsprechend als „Befugnisnormen“ verstanden, die zu Maßnahmen der
Gefahrenabwehr „aus eigenem Recht“ ermächtigen sollten (vgl. aus dem Bundesrat
die Niederschrift der 812. Sitzung des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des
Bundesrates, vom 4. Dezember 2003 - In 0141 (812) - Nr. 52/03 -, S. 37 f.; aus dem
Bundestag
s. die hinsichtlich der Auslegung als eingriffsermächtigende
Befugnisnormen unwidersprochenen Redebeiträge der Abgeordneten Bosbach,
BTPlProt 15/89, S. 7884, und Binninger, a.a.O., S. 7891). Nach den Worten des
damaligen Bundesinnenministers Schily sollte das Gesetz „Luftsicherheit aus einer
Hand“ und damit „Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, zumal für die Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr“, gewährleisten (BTPlProt 15/89, S. 7881 f.). Auch damit
war vorausgesetzt, dass die §§ 13 ff. LuftSiG nicht bloß innerföderale
Berei tstel l ungsvorgänge regeln,
sondern
zugleich
außenwirksame
Eingriffsermächtigungen enthalten.
3. Da der Bund demnach gemäß Art. 73 Nr. 6 GG a.F. regelungszuständig war,
bedarf keiner Entscheidung, ob darüber hinaus Art. 73 Nr. 1 GG a.F., der im
Regierungsentwurf des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben als
Kompetenzgrundlage für die §§ 13 ff. LuftSiG in Anspruch genommen wurde
(BTDrucks 15/2361, S. 14), eine Gesetzgebungszuständigkeit für diese
Bestimmungen kraft Sachzusammenhangs ihres Regelungsgegenstandes mit dem
Verteidigungswesen begründete.
II.
Zur zweiten Vorlagefrage:
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Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG schließen eine Verwendung spezifisch
militärischer Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nach diesen Bestimmungen
nicht grundsätzlich aus, lassen Einsätze aber nur unter engen Voraussetzungen zu,
die insbesondere sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen
werden, die nach Art. 87a Abs. 4 GG einem Einsatz der Streitkräfte zum Kampf in
inneren Auseinandersetzungen gesetzt sind.
1. Außer zur Verteidigung dürfen nach Art. 87a Abs. 2 GG die Streitkräfte nur
eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Die
begrenzende Funktion dieser Regelung ist durch strikte Texttreue bei der Auslegung
der grundgesetzlichen Bestimmungen über den Einsatz der Streitkräfte im Innern zu
wahren (vgl. BVerfGE 90, 286 <356 f.>; 115, 118 <142> ; BVerwGE 127, 1 <12 f.>).
Die Verfassung begrenzt einen Streitkräfteeinsatz im Inneren in bewusster
Entscheidung auf äußerste Ausnahmefälle. Soweit es um den Schutz vor Straftätern
und Gegnern der freiheitlichen Ordnung geht, stellt deshalb Art. 87a Abs. 4 GG für
einen Einsatz der Streitkräfte strenge Anforderungen, die selbst im Fall des inneren
Notstands gemäß Art. 91 GG noch nicht automatisch erreicht sind. Im Unterschied
dazu erlauben Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG einen Streitkräfteeinsatz zur
Unterstützung der Polizeikräfte bei einer Naturkatastrophe oder einem besonders
schweren Unglücksfall. Auch damit bindet die Verfassung den Einsatz der Streitkräfte
an Anforderungen, die nicht immer schon dann erfüllt sind, wenn die Polizei durch
das allgemeine Ziel der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung überfordert ist; dies zeigt sich bereits darin, dass in Fällen
von besonderer Bedeutung gemäß Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich nur
Unterstützung durch Kräfte und Einrichtungen des Bundesgrenzschutzes angefordert
werden kann.
Nicht zuletzt um diesen differenzierten und restriktiven Regelungen der Verfassung
Rechnung zu tragen, sah der Erste Senat den Streitkräfteeinsatz im Rahmen des
Art. 35 GG auf Mittel begrenzt, die nach dem Gefahrenabwehrrecht des Einsatzlandes
der Polizei zur Verfügung stehen oder verfügbar gemacht werden dürfen. Hieran hält
das Plenum nicht fest (2.). Die von der Verfassung gewollten engen Grenzen für
einen Streitkräfteeinsatz im Inneren ergeben sich aus anderen Kriterien (3.).
2. Eine Beschränkung des Streitkräfteeinsatzes auf diejenigen Mittel, die nach dem
Gefahrenabwehrrecht des Einsatzlandes der Polizei zur Verfügung stehen oder
verfügbar gemacht werden dürften, ist durch den Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 Satz 2
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und Abs. 3 GG und die Systematik des Grundgesetzes nicht zwingend vorgegeben;
der Regelungszweck spricht eher gegen eine solche Beschränkung (a). Auch eine
Gesamtbetrachtung der Gesetzesmaterialien zwingt nicht zu der Annahme, dass der
verfassungsändernde Gesetzgeber eine derartige Beschränkung beabsichtigt hat (b).
a) Nach Art. 35 GG kann unter den jeweils näher bezeichneten Voraussetzungen im
regionalen Katastrophennotstand ein Land „Kräfte und Einrichtungen ... der
Streitkräfte“ anfordern (Abs. 2 Satz 2) und im überregionalen Katastrophennotstand
die Bundesregierung „Einheiten ... der Streitkräfte“ einsetzen (Abs. 3 Satz 1). Eine
Beschränkung der damit zugelassenen Einsätze auf die Verwendung polizeilicher
Einsatzmittel muss dem Wortlaut der Bestimmungen nicht entnommen werden. Sie
ergibt sich insbesondere nicht zwingend daraus, dass Art. 35 GG den Einsatz der
Streitkräfte nur zur „Unterstützung der Polizeikräfte“ (Abs. 3 Satz 1) beziehungsweise
zur polizeiunterstützenden „Hilfe“ (Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Satz 1) vorsieht. Mit welchen
Mitteln die Hilfe oder Unterstützung geleistet werden darf, ist damit noch nicht
festgelegt.
Systematische Erwägungen sprechen dafür, dass aus der von Art. 35 Abs. 2 und 3
GG vorgegebenen unterstützenden Funktion der Streitkräfte keine Beschränkung auf
die aktuell oder potentiell polizeirechtlich zulässigen Einsatzmittel folgt. Denn auch
Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG lässt für den dort umschriebenen Fall des inneren
Notstandes einen Einsatz der Streitkräfte nur „zur Unterstützung“ der Landes- und der
Bundespolizei zu, beschränkt damit aber anerkanntermaßen den dort geregelten
Einsatz, jedenfalls soweit es um die Bekämpfung organisierter und militärisch
bewaffneter Aufständischer geht, nicht von vornherein auf die Mittel, die den
unterstützten Polizeien zur Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 115, 118 <148> ;
BTDrucks V/2873, S. 2, 14; Hase, in: AK-GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2001, Art. 87a Abs. 4 Rn.
5; Depenheuer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87a Rn. 169, 177 (Stand 10/2008); Baldus,
in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 87a Abs. 4 Rn. 165; Kokott,
in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 87a Rn. 68; Keidel, Polizei und Polizeigewalt im
Notstandsfall, 1971, S. 195 f., 197; Karpinski, Öffentlich-rechtliche Grundsätze für den
Einsatz der Streitkräfte im Staatsnotstand, 1974, S. 76; Baldus, NVwZ 2004, S. 1278
<1280>; Linke, AöR 129 <2004>, S. 489>). Die Identität der Formulierungen deutet
trotz der unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen sie verwendet werden, darauf
hi n, dass ihnen keine unterschiedliche Bedeutung zukommen sollte, zumal die
Bestimmungen im Gesetzgebungsverfahren durch Aufspaltung einer ursprünglich
einheitlichen Regelung entstanden sind und daher nicht davon auszugehen ist, dass
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dem Gesetzgeber die Übereinstimmung des Wortlauts nicht vor Augen stand.
Zu berücksichtigen ist zudem, dass die Zulassung des Streitkräfteeinsatzes in den
erfassten Katastrophenfällen eine wirksame Gefahrenabwehr ermöglichen soll.
Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG unterstreicht dies mit der Bezugnahme auf das zur
„wirksamen Bekämpfung“ Erforderliche. Daher sprechen nach Auffassung des
Plenums die besseren Gründe für eine Auslegung, die unter den engen
Voraussetzungen, unter denen ein Einsatz der Streitkräfte nach Art. 35 GG überhaupt
in Betracht kommt (s.u. 3.), die Verwendung ihrer spezifischen Mittel nicht generell
ausschließt.
b)
Die
Entstehungsgeschichte
steht
dem
nicht entgegen.
Dem
verfassungsändernden Gesetzgeber stand allerdings als typischer Anwendungsfall
der Verfassungsbestimmungen zum Katastrophennotstand nicht ein Einsatzfall wie
der in § 13 Abs. 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 LuftSiG geregelte, sondern vor allem
die Erfahrung der norddeutschen Flutkatastrophe des Jahres 1962 vor Augen (vgl.
BVerfGE 115, 118 <148, m.w.N.>). Auch wenn dieses Ereignis die Vorstellung der am
Gesetzgebungsprozess Beteiligten
von
den
Erfordernissen
eines
Streitkräfteeinsatzes in einer begrenzenden Weise geprägt haben mag, schließt das
nicht aus, Art. 35 Abs. 2 und 3 GG auch auf andersartige von Wortlaut und Systematik
d e r Vorschrift erfasste Bedrohungslagen anzuwenden, und zwingt nicht zu einer
angesichts heutiger Bedrohungslagen nicht mehr zweckgerechten Auslegung des
Art. 35 Abs. 2 und 3 GG.
Die Gesetzesmaterialien geben zur Frage der zulässigen Einsatzmittel keine
eindeutigen Aufschlüsse. Zwar ist der Gesetzgebungsgeschichte zu entnehmen, dass
der verfassungsändernde Gesetzgeber die Regelung des Katastrophennotstandes
bewusst aus der Regelung des inneren Notstandes herausgelöst hat, um die
Bekämpfung des Katastrophennotstandes von der des inneren Notstands deutlicher
abzuheben. Auch finden sich Anhaltspunkte dafür, dass einzelnen am
Gesetzgebungsverfahren Beteiligten für den Einsatz der Streitkräfte nach Art. 35 GG,
sei es generell oder für den Fall des regionalen Katastrophennotstandes nach Absatz
2, eine Beschränkung der zulässigen Einsatzmittel durch das Polizeirecht des
Einsatzlandes vorschwebte. Insgesamt ergibt sich jedoch kein klares Bild, das die
Annahme eines insoweit bestimmten Willens des verfassungsändernden
Gesetzgebers stützen könnte.
aa) Nach dem Bericht des Rechtsausschusses, auf den die Gesetz gewordene
35
Fassung der hier zu betrachtenden Grundgesetzbestimmungen zurückgeht, sollte mit
dessen Vorschlägen zur Regelung des inneren Notstandes „die Schwelle für den
Einsatz der Streitkräfte als bewaffnete Macht angehoben“ und der bewaffnete Einsatz
der Bundeswehr nur zugelassen werden, „wenn dies zur Bekämpfung militärisch
bewaffneter Aufständischer erforderlich“ sei (BTDrucks V/2873, S. 2
Abschnitt B., „Innerer Notstand“>, 14 ; vgl.
auch Kurzprotokoll der 71. Sitzung des Rechtsausschusses vom 15. Februar 1968,
S. 10; Lenz, Notstandsverfassung des Grundgesetzes, 1971, Art. 35 Rn. 2). Diese
Äußerung muss nicht dahin verstanden werden, dass sie über die Konstellation des
inneren Notstandes hinaus auch auf die des Katastrophennotstandes zielt, und
zwingt daher nicht zu der Annahme, dass für den Fall des Katastrophennotstandes
ein bewaffneter Einsatz der Streitkräfte prinzipiell ausgeschlossen werden sollte.
Die Erläuterungen zum vorgeschlagenen Art. 35 GG behandeln die Frage der
einsetzbaren Mittel nicht. Zu Art. 35 Abs. 2 GG wird zwar unter anderem ausgeführt,
dass die zur Verfügung gestellten Kräfte anderer Länder und des Bundes den
Normen des im Einsatzland geltenden Landespolizeirechts unterstehen sollen (vgl.
BTDrucks V/2873, S. 10); zu Art. 35 Abs. 3 GG findet sich dagegen keine
entsprechende Erläuterung. Aus der Berichtsbegründung zu Art. 87a Abs. 4 GG geht
hervor, dass der Ausschuss nach dem Ergebnis der durchgeführten Anhörungen die
i m Regierungsentwurf vorgesehene Formulierung, wonach die Streitkräfte „als
Polizeikräfte“ einsetzbar sein sollten, für zu eng befunden hatte, da eine
Beschränkung etwa auf den Einsatz nichtmilitärischer Waffen nicht sachgerecht sei.
D e r Ausschuss schlug daher stattdessen vor, dass die Streitkräfte nur „zur
Unterstützung der Polizei“ eingesetzt werden dürften (a.a.O., S. 14). Dem folgte der
verfassungsändernde Gesetzgeber. Die gleiche Abkehr von der ursprünglich
vorgesehenen Formulierung ist aber auch in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG erfolgt. Dieser
gesetzgeberischen Entscheidung muss eine Bedeutung für die Auslegung des Art. 35
G G nicht deshalb abgesprochen werden, weil erst der Rechtsausschuss des
Bundestages (vgl. BTDrucks V/2873) vorgeschlagen hat, die nach dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung (BTDrucks V/1879) in Art. 91 GG angesiedelte
Regelung des Streitkräfteeinsatzes bei Naturkatastrophen und besonders schweren
Unglücksfällen aus dem Zusammenhang der Bestimmungen zum inneren Notstand
z u lösen und in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG zu regeln. Umgekehrt lässt sich auch
argumentieren, dass gerade diese Herauslösung aus dem ursprünglich
vorgesehenen einheitlichen Regelungszusammenhang es nahegelegt hätte, für den
Fall des nunmehr gesondert in Art. 35 GG geregelten Katastrophennotstandes einem
36
37
38
etwaigen Willen, die Art und Weise des zulässigen Einsatzes enger zu bestimmen als
für den Fall des inneren Notstandes, durch entsprechend unterschiedliche
Formulierung der jeweiligen Regelungen Ausdruck zu geben.
Das Protokoll der Anhörung zum Thema „Der innere Notstand und der
Katastrophennotstand“, auf die ausweislich des Berichts des Rechtsausschusses
(vgl. BTDrucks V/2873, S. 14) dessen Vorschlag zurückgeht, die Worte „als
Polizeikräfte“ durch die Gesetz gewordenen Formulierungen zu ersetzen, zeigt
zudem, dass sowohl bei den angehörten Sachverständigen als auch auf Seiten der
Abgeordneten, die sich an der Aussprache beteiligten, in der Frage der Zulässigkeit
des Einsatzes militärischer Waffen unterschiedliche und häufig - unter anderem
hinsichtlich des Zusammenhangs mit der Frage der maßgebenden einfachrechtlichen
Eingriffsgrundlagen - auch unklare Auffassungen bestanden (vgl. Protokoll der 3.
öffentlichen Informationssitzung des Rechtsausschusses und des Innenausschusses
am 30. November 1967, Nr. 59, Nr. 75).
So wiesen etwa der schleswig-holsteinische Innenminister Dr. Schlegelberger und
der hamburgische Innensenator Ruhnau unwidersprochen auf die Funktion des
Streitkräfteeinsatzes hin, Einsatzmittel bereitzustellen, über die die Polizei nicht
verfüge (a.a.O., S. 3, 6, 12), vertraten aber - im Zusammenhang mit Einsätzen im Fall
d e s inneren Notstandes - zugleich die Auffassung, dass Einsätze sich auf der
Grundlage „des Polizeirechts mit polizeilichen Mitteln“ beziehungsweise „nach den
Einsatzprinzipien und mit den Einsatzmitteln der Polizei“ vollziehen müssten (a.a.O.,
S. 4, 6, 12). Dabei wurde zudem nicht deutlich, ob allein an das Landespolizeirecht
(vgl. Ruhnau, a.a.O., S. 14) als Rechtsgrundlage gedacht war oder auch an
Bundesrecht,
das
in verschiedenen Diskussionsbeiträgen als anwendbar
vorausgesetzt wurde (vgl. zum UZwG des Bundes Ruhnau u.a., a.a.O., S. 7, 58; für
den Fall überregionaler Einsätze auch S. 14). Verschiedene Äußerungen deuten
darauf hin, dass man sich einen Einsatz der Streitkräfte im Katastrophennotstand vor
allem in der Form des Objektschutzes und der Abwehr von Plünderungen vorstellte
(a.a.O., S. 5, 27, 28, 57 f., 71). Zur Sprache kam anderseits aber auch der Fall der
Sprengung eines Hauses oder einer Brücke (a.a.O., S. 63).
In der Zweiten Beratung des Gesetzentwurfs, der neben dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung der Bericht des Rechtsausschusses (BTDrucks V/2873) zugrunde
lag, fielen nur vereinzelt Äußerungen, die einen Bezug zum Inhalt der beschlossenen
Regelungen in der Frage des bei Einsätzen der Streitkräfte anwendbaren Rechts
oder unmittelbar in der Frage der bei solchen Einsätzen anwendbaren Mittel
39
40
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42
aufweisen. Auch diese Äußerungen sind nicht eindeutig und weisen, sofern sie
überhaupt bestimmte Vorstellungen vom Inhalt der beschlossenen Regelungen zum
Ausdruck bringen sollten, in unterschiedliche Richtungen (BTPlProt 5/174, S. 9313 f.;
5/175, S. 9437, 9452).
bb) Aus der Gesetzgebungsgeschichte wird danach weder ein eindeutiger Wille des
verfassungsändernden Gesetzgebers hinsichtlich der in den Fällen des Art. 35 Abs. 2
und 3 GG einsetzbaren Mittel noch eine klare Konzeption in der Frage des
anwendbaren Rechts erkennbar. Angesichts dieses Befundes ist es nicht zwingend,
im Rahmen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG einen nach textlicher, systematischer und
teleologischer Auslegung nicht ausgeschlossenen Einsatz der Streitkräfte mit
spezifisch militärischen Mitteln - der, soweit es um die Abwehr von Gefahren durch
ein als Angriffsmittel genutztes Luftfahrzeug geht, nur auf bundesrechtlicher
Eingriffsgrundlage in Betracht kommt - allein deshalb für unzulässig zu halten, weil
die konkreten Gefahrenfälle, die ihn erforderlich machen könnten, dem historischen
verfassungsändernden Gesetzgeber noch nicht gegenwärtig waren.
3. Der Einsatz der Streitkräfte als solcher wie auch der Einsatz spezifisch
militärischer Kampfmittel kommt allerdings nur unter engen Voraussetzungen in
Betracht.
Bei der Auslegung und Anwendung der Voraussetzungen, unter denen Art. 35 Abs.
2 und 3 GG einen Einsatz der Streitkräfte erlaubt, sind der Zweck des Art. 87a Abs. 2
GG und das Verhältnis der den Katastrophennotstand betreffenden Bestimmungen zu
d e n verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Einsatz der Streitkräfte im inneren
Notstand (Art. 87a Abs. 4 GG) zu berücksichtigen. Art. 87a Abs. 2 GG zielt darauf, die
Möglichkeiten für einen Einsatz der Streitkräfte im Innern zu begrenzen (vgl. BVerfGE
115, 118 <142>). Art. 87a Abs. 4 GG unterwirft auf dem Hintergrund historischer
Erfahrungen (vgl. Wieland, in: Fleck, Rechtsfragen der Terrorismusbekämpfung durch
Streitkräfte, 2004, S. 167 <169 ff.>, m.w.N.) den Einsatz der Streitkräfte zur
Bewältigung innerer Auseinandersetzungen besonders strengen Beschränkungen.
Diese Beschränkungen dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass der Einsatz
statt auf der Grundlage des Art. 87a Abs. 4 GG auf der des Art. 35 Abs. 2 oder 3 GG
erfolgt. Das gilt erst recht für die Verwendung spezifisch militärischer Kampfmittel im
Rahmen eines solchen Einsatzes.
a) Enge Grenzen sind dem Einsatz der Streitkräfte im Katastrophennotstand auf
diesem Hintergrund durch das in Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG ausdrücklich genannte und
43
44
45
von Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG in Bezug genommene Tatbestandsmerkmal des
besonders schweren Unglücksfalls gesetzt.
aa) Die genannten Bestimmungen unterscheiden Naturkatastrophen und besonders
schwere
Unglücksfälle.
Beide Ereignisarten
wurden
bereits
im
Gesetzgebungsverfahren unter dem Begriff der Katastrophe zusammengefasst (vgl.
d i e Anhörung des Rechts- und des Innenausschusses zum Thema „Der innere
Notstand und der Katastrophennotstand“, Protokoll der 3. öffentlichen
Informationssitzung des Rechtsausschusses und des Innenausschusses am 30.
November 1967, Nr. 59, Nr. 75). Hieraus wie auch aus der normativen
Parallelisierung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen in
Art. 35 Abs. 2 und 3 GG wird deutlich, dass der hier verwendete Begriff des
besonders
schweren
Unglücksfalls
nur Ereignisse von katastrophischen
Dimensionen erfasst (vgl. BVerfGE 115, 118 <143> ). Insbesondere stellt nicht jede
Gefahrensituation, die ein Land mittels seiner Polizei nicht zu beherrschen imstande
ist, allein schon aus diesem Grund einen besonders schweren Unglücksfall im Sinne
des Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG dar, der den Streitkräfteeinsatz erlaubte
(vgl. Krings/Burkiczak, NWVBl 2004, S. 249 <252>). Besonders schwere
Unglücksfälle sind vielmehr ungewöhnliche Ausnahmesituationen. Eine Betrauung
der Streitkräfte mit Aufgaben der Gefahrenabwehr, die über die Bewältigung solcher
Sondersituationen hinausgehen, kann daher nicht auf Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs.
3 Satz 1 GG gestützt werden.
bb) Die Voraussetzungen des besonders schweren Unglücksfalls gemäß Art. 35
Abs. 2 und 3 GG bestimmen sich zugleich in Abgrenzung zu den
verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Einsatz der Streitkräfte im inneren Notstand
(Art. 87a Abs. 4 GG i.V.m. Art. 91 Abs. 2 Satz 1 GG).
(1) Art. 87a Abs. 4 in Verbindung mit Art. 91 Abs. 2 Satz 1 GG regelt den Einsatz der
Streitkräfte zur Abwehr von Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche
demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, die das Land, in dem
die Gefahr droht, zu bekämpfen selbst nicht in der Lage oder nicht bereit ist. Dabei
erlaubt Art. 87a Abs. 4 GG den Einsatz der Streitkräfte insbesondere zur
Unterstützung der Polizei bei der Bekämpfung organisierter und militärisch
bewaffneter Aufständischer. Die Regelung der Abwehr innerer Unruhen, die von
nichtstaatlichen Angreifern ausgehen, hat damit ihren Platz in Art. 87a Abs. 4 in
Verbindung mit Art. 91 GG gefunden (vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 35 Rn. 15;
Wolff, ThürVBl 2003, S. 176 <177>). Insoweit entfaltet daher diese Vorschrift
46
47
grundsätzlich eine Sperrwirkung für den Einsatz der Streitkräfte nach anderen
Bestimmungen (vgl. auch Fiebig, Der Einsatz der Bundeswehr im Innern, 2004, S.
326; Fischer, JZ 2004, S. 376 <381>; Sattler, NVwZ 2004, S. 1286 <1290>).
(2) Der Annahme eines besonders schweren Unglücksfalls steht bei einem Ereignis
von katastrophischem Ausmaß nicht entgegen, dass es absichtlich herbeigeführt ist
(vgl. BVerfGE 115, 118 <143 f.>). Angesichts der in Art. 87a Abs. 4 in Verbindung mit
Art. 91 GG getroffenen Regelung der militärischen Bekämpfung nichtstaatlicher
Gegner können die Streitkräfte auf der Grundlage von Art. 35 Abs. 2 und 3 GG jedoch
zur Bekämpfung eines Angreifers nur in Ausnahmesituationen eingesetzt werden, die
nicht von der in Art. 87a Abs. 4 GG geregelten Art sind. So stellen namentlich
Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden
Menschenmenge drohen, keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des
Art. 35 GG dar, der es rechtfertigen könnte, Streitkräfte auf der Grundlage dieser
Bestimmung einzusetzen. Denn nach Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG dürfen selbst zur
Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer Streitkräfte auch
dann, wenn das betreffende Land zur Bekämpfung der Gefahr nicht bereit oder in der
Lage ist (Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG i.V.m. Art. 91 Abs. 2 Satz 1 GG), nur unter der
Voraussetzung eingesetzt werden, dass Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche
demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes besteht (vgl. Arndt,
DVBl 1968, S. 729 <731 f.>).
cc) Der Unglücksfall muss, wie im Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz
1 deutlich zum Ausdruck kommt, bereits vorliegen, damit zu seiner Bekämpfung oder
zur Bekämpfung seiner Schadensfolgen Streitkräfte eingesetzt werden dürfen. Das
bedeutet nicht, dass auch Schäden notwendigerweise bereits eingetreten sein
müssen (vgl. BVerfGE 115, 118 <144 f.>). Von einem Unglücksfall kann auch dann
gesprochen werden, wenn zwar die zu erwartenden Schäden noch nicht eingetreten
sind, der Unglücksverlauf aber bereits begonnen hat und der Eintritt katastrophaler
Schäden unmittelbar droht. Ist die Katastrophe bereits in Gang gesetzt und kann sie
nur noch durch den Einsatz der Streitkräfte unterbrochen werden, muss nicht
abgewartet werden, bis der Schaden sich realisiert hat. Der Schadenseintritt muss
jedoch unmittelbar bevorstehen. Dies ist der Fall, wenn der katastrophale Schaden,
sofern ihm nicht rechtzeitig entgegengewirkt wird, mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit in Kürze eintreten wird (vgl. BVerfGE 115, 118 <145> ). Ein ins
Vorfeld
des Katastrophengeschehens verlagerter Einsatz der Streitkräfte ist
unzulässig.
48
49
50
b) Der Einsatz der Streitkräfte wie der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel
ist zudem auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig. Art. 35
Abs. 3 Satz 1 GG sieht für den Fall des überregionalen Katastrophennotstandes
ausdrücklich vor, dass die Streitkräfte nur eingesetzt werden dürfen, soweit es zur
wirksamen Bekämpfung der durch eine Naturkatastrophe oder einen besonders
schweren
Unglücksfall
veranlassten
Gefahr erforderlich
ist.
Die
Erforderlichkeitsklausel des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG zielt auf die Subsidiarität der
Bundesintervention im Verhältnis zu den Ländern (vgl. Magen, in: Umbach/Clemens,
GG, Bd. I, 1. Aufl. 2002, Art. 35 Rn. 37; Bauer, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006,
Art. 35 Rn. 32; v. Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Bd. 2,
Art. 35 Rn. 79; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011,
Art. 35 Rn. 53; Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 35 Rn. 29). Im
Übrigen entspricht die strenge Beschränkung auf das Erforderliche - sowohl was das
Ob als auch was das Wie, einschließlich der konkreten Einsatzmittel, angeht - für
Einsätze nach Absatz 2 Satz 2 wie für Einsätze nach Absatz 3 Satz 1 des Art. 35 GG
dem in Art. 87a Abs. 2 GG zum Ausdruck gebrachten Willen des Verfassungsgebers
zur engen Begrenzung des zulässigen Streitkräfteeinsatzes im Innern (vgl. Knödler,
BayVBl 2002, S. 107 <108>).
c) Im Ergebnis sieht Art. 35 GG differenzierte Möglichkeiten einer Verwendung der
Streitkräfte zur Gewährleistung der Luftsicherheit vor.
aa) Aus Art. 87a Abs. 2 GG ergeben sich Grenzen hinsichtlich der Abwehr von
Gefahren, die von einem als Angriffsmittel genutzten Flugzeug ausgehen, nur, soweit
es sich um einen Einsatz handelt. Deshalb sind Maßnahmen der Streitkräfte in einer
den Verursachern gegenüber rein unterstützenden und solche Unterstützung
vorbereitenden Funktion - etwa zur Hilfe bei technisch oder durch gesundheitliche
Probleme eines Piloten bedingten Orientierungsschwierigkeiten und zur Aufklärung,
ob solche Hilfe benötigt wird - nicht ausgeschlossen. Art. 87a Abs. 2 GG bindet nicht
jede Nutzung personeller und sächlicher Ressourcen der Streitkräfte an eine
ausdrückliche grundgesetzliche Zulassung, sondern nur ihre Verwendung als Mittel
der vollziehenden Gewalt in einem Eingriffszusammenhang (vgl. BTDrucks V/2873,
S. 13; BVerwGE 132, 110 <119>; Brenneisen, in: ders./Staack/Kischewski, 60 Jahre
Grundgesetz, 2010, S. 485 <488>; Wolff, in: Weingärtner, Die Bundeswehr als Armee
im Einsatz, 2010, S. 171 <177>). Dementsprechend kann auf Luftzwischenfälle in rein
technisch-unterstützender Funktion reagiert werden. Dies verbleibt im Rahmen des
Art. 35 Abs. 1 GG und ist daher von den Beschränkungen, die für einen Einsatz der
51
52
53
54
Streitkräfte nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG gelten, nicht betroffen. Allerdings liegt eine
Verwendung in einem Eingriffszusammenhang nicht erst bei einem konkreten
Vorgehen mit Zwang, sondern bereits dann vor, wenn personelle oder sachliche
Mittel der Streitkräfte in ihrem Droh- oder Einschüchterungspotential genutzt werden
(vgl. BVerwGE 132, 110 <119 f.>; Fehn/Brauns, Bundeswehr und innere Sicherheit,
2003, S. 38 f.; Senger, Streitkräfte und materielles Polizeirecht, 2011, S. 79 ff. <80>).
bb) Eine umfassende Gefahrenabwehr für den Luftraum mittels der Streitkräfte kann
auf Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht gestützt werden. Insbesondere berechtigt nicht jeder
Luftzwischenfall, zu dessen Bewältigung eine technische Unterstützung nicht
ausreicht, automatisch zum Einsatz der Streitkräfte. De constitutione lata ist der
Einsatz der Streitkräfte nur bei besonders gravierenden Luftzwischenfällen zulässig,
die den qualifizierten Anforderungen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG genügen.
III.
Zur dritten Vorlagefrage:
Der Einsatz der Streitkräfte nach Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG ist, auch in Eilfällen,
allein aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung als Kollegialorgan
zulässig.
1. Das Grundgesetz unterscheidet systematisch zwischen Befugnissen und
Zuständigkeiten der Bundesregierung und solchen einzelner Bundesminister (s. etwa
einerseits Art. 84 Abs. 2, Art. 87a Abs. 4 Satz 1, Art. 91 Abs. 2 Satz 3, Art. 108 Abs. 7
GG, andererseits Art. 65 Satz 2, Art. 65a, Art. 95 Abs. 2, Art. 112 Satz 1 GG). Art. 35
Abs. 3 Satz 1 GG weist die Befugnis, im Fall des überregionalen
Katastrophennotstandes Einheiten der Streitkräfte einzusetzen, der Bundesregierung
zu. Die Bundesregierung besteht nach Art. 62 GG aus dem Bundeskanzler und den
Bundesministern.
Der
Einsatz
der
Streitkräfte
im überregionalen
Katastrophennotstand setzt danach einen Beschluss der Bundesregierung als
Kollegium (vgl. BVerfGE 26, 338 <396>; 91, 148 <166>; 115, 118 <149> ) voraus. Es
gilt nichts anderes als für den Einsatz der Streitkräfte im Fall des inneren Notstandes,
für den Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG ebenfalls die Entscheidungszuständigkeit der
Bundesregi erung vorsieht
und
der
unstreitig
nur
aufgrund
eines
Kabinettsbeschlusses zulässig ist (s. statt vieler Heun, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl.
2008, Art. 87a Rn. 33; Baldus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010,
Art. 87a Rn. 160; Ruge, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011,
Art. 87a Rn. 8; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 87a Rn.
55
56
57
37; Denninger, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdVerfR, 2. Aufl. 1994, § 16 Rn. 60).
Zu einer Delegation der zugewiesenen Beschlusszuständigkeit auf ein einzelnes
Mitglied (vgl. Robbers, in: Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des
Deutschen Bundestages vom 26. April 2004, Protokoll Nr. 15/35, S. 54) ist die
Bundesregierung nicht befugt. Staatsorganisationsrechtliche Kompetenzen stehen im
Grundsatz nicht zur freien Disposition ihrer Träger (vgl. zum Verhältnis von Bundes-
und Länderkompetenzen BVerfGE 1, 14 <35>; 39, 96 <109>; 41, 291 <311>; 63, 1
<39>). Sie sind daher grundsätzlich weder verzichtbar noch beliebig delegierbar.
Darin unterscheiden sie sich von subjektiven Rechten, über die der Inhaber im
Prinzip verfügen kann.
2. Eine Eilkompetenz für ein anderes als das regulär vorgesehene Organ, wie sie in
verschiedenen Grundgesetzbestimmungen für den Fall der Gefahr im Verzug
vorgesehen ist (Art. 13 Abs. 2, Abs. 3 Satz 4, Abs. 4 Satz 2, Abs. 5 Satz 2, 2. Halbsatz
GG; vgl. auch Art. 119 Satz 3 GG: Auswechselung des Weisungsadressaten bei
Gefahr im Verzug), sieht Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG nicht vor; ermächtigt wird allein die
Bundesregierung. Danach besteht eine Delegationsbefugnis der Bundesregierung
oder eine Befugnis des Gesetzgebers zu abweichender Zuständigkeitsbestimmung
auch für Eilfälle nicht (vgl. Bauer, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 35 Rn. 32; v.
Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Bd. 2, Art. 35 Rn. 79; Hömig,
in: ders., GG, 9. Aufl. 2010, Art. 35 Rn. 10; Erbguth, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011,
Art. 35 Rn. 41; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 35 Rn. 8; Sannwald,
in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 35 Rn. 49; Gubelt, in:
v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 35 Rn. 29; Martínez Soria, DVBl 2004,
S. 597 <603>; v. Danwitz, Rechtsfragen terroristischer Angriffe auf Kernkraftwerke,
2002, S. 56; Arndt, DVBl 1968, S. 729 <732>; Sattler, NVwZ 2004, S. 1286 <1289>;
Lepsius, in: Festgabe für Dr. Burkhard Hirsch, 2006, S. 47 <57>).
Die Ressortzuständigkeit der Bundesminister (Art. 65 Satz 2 GG) und die Zuweisung
der Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte an den Bundesminister der
Verteidigung (Art. 65a GG) können eine abweichende Auslegung (vgl. Epping,
Schriftliche Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Sachverständigenanhörung
d e s Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 26. April 2004, ADrs
15(4)102B, S. 8) nicht begründen, weil Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG für die Befugnis, über
den Einsatz der Streitkräfte im überregionalen Katastrophennotstand zu entscheiden,
eine demgegenüber speziellere Regelung trifft.
58
59
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass das Bundesverfassungsgericht in
einzelnen Bereichen Eilzuständigkeiten in Abweichung von einer grundsätzlich
gegebenen Parlamentszuständigkeit anerkannt hat (vgl. BVerfGE 90, 286 <388> und
BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Februar 2012 - 2 BvE 8/11 -, juris,
Rn. 109 ff., 113, 150). Dies betraf Bereiche, für die die Entscheidungszuständigkeit im
Grundgesetz gerade nicht ausdrücklich geregelt ist. Die Frage, ob und inwieweit
Sonderkompetenzen für Eilfälle auch entgegen ausdrücklich - und ohne Ausnahme
für den Eilfall - im Grundgesetz getroffenen Zuständigkeitsregelungen
anerkennungsfähig sein könnten, ist damit nicht beantwortet.
Angesichts der nach Wortlaut und Systematik eindeutigen ausschließlichen
Kompetenzzuweisung
an
die Bundesregierung kann eine abweichende
Zuständigkeit nicht aus einem auf wirksame Gefahrenabwehr gerichteten Zweck des
Art. 35 Abs. 3 GG (vgl. Franz, Der Staat 45 <2006>, S. 501 <530>; Franz/Günther,
VBlBW 2006, S. 340 <343>; Schenke, NJW 2006, S. 736 <737 f.>; Palm, AöR 132
<2007>, S. 95 <104>; Ladiges, Die Bekämpfung nicht-staatlicher Angreifer im
Luftraum, 2007, S. 252) oder aus staatlichen Schutzpflichten (Epping, a.a.O., S. 8)
abgeleitet werden. Der Verfassungsgesetzgeber hat Einsätze der Streitkräfte bewusst
nur unter engen Voraussetzungen zugelassen. Für die Auslegung der betreffenden
Vorschriften, die in einer politisch hochumstrittenen Materie als Ergebnis
ausführlicher, kontroverser Diskussionen zustandegekommen sind, gilt das Gebot
strikter Texttreue (s.o. unter II.). Jedenfalls deshalb verbietet sich eine auf die
Vermeidung von Schutzlücken gerichtete teleologische Verfassungsinterpretation, die
vom bewusst und in Übereinstimmung mit der Systematik gewählten ausdrücklichen
Wortlaut abweicht. Aus demselben Grund kann - unabhängig von der allgemeineren
Frage des möglichen Stellenwerts von Notstandsgesichtspunkten, die in positiven
Verfassungsbestimmungen gerade nicht aufgegriffen sind - auch auf ungeschriebene
Sonderkompetenzen für Eil- und Notfälle (vgl. Wieland, in: Fleck, Rechtsfragen der
Terrorismusbekämpfung durch Streitkräfte, 2004, S. 167 <179>; Epping, Schriftliche
Stellungnahme, a.a.O., S. 8) jedenfalls bei Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG nicht
zurückgegriffen werden.
Voßkuhle
Kirchhof
Lübbe-Wolff
Gerhardt
Gaier
Eichberger
Schluckebier
Masing
Paulus
60
61
62
Huber
Hermanns
Baer
Britz
Müller
Kessal-Wulf
Abweichende Meinung des Richters Gaier
zum Plenumsbeschluss vom 3. Juli 2012
- 2 PBvU 1/11 -
Die Entscheidung des Plenums trage ich zur ersten und dritten Vorlagefrage mit, der
Beantwortung der zweiten Vorlagefrage stimme ich hingegen nicht zu.
Das Bundesverfassungsgericht wird gerne als Ersatzgesetzgeber bezeichnet; mit
der nun getroffenen Entscheidung des Plenums läuft das Gericht Gefahr, künftig mit
der Rollenzuschreibung als verfassungsändernder Ersatzgesetzgeber konfrontiert zu
werden. Denn mit seiner Antwort auf die zweite Vorlagefrage schenkt das Plenum
d e n Vorgaben des eigenen Gerichts zur Verfassungsinterpretation keine
ausreichende Beachtung. Es wird weder der Wortlaut der einschlägigen
Verfassungsnormen unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte hinreichend
gewürdigt (dazu BVerfGE 88, 40 <56> ), noch erfolgt eine systematische Auslegung
mit Blick auf die Einheit der Verfassung (dazu BVerfGE 55, 274 <300>) als
„vornehmstes Interpretationsprinzip“ (so aber BVerfGE 19, 206 <220> ). Im Ergebnis
hat die Auslegung der Regelungen zum Katastrophennotstand, die der
Plenarbeschluss bei seiner Antwort auf die zweite Vorlagefrage zugrunde legt, die
Wirkungen einer Verfassungsänderung. Deshalb folge ich dem Plenarbeschluss
insoweit nicht.
I.
Das Grundgesetz ist auch eine Absage an den deutschen Militarismus, der Ursache
für die unvorstellbaren Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei
Weltkriegen war. 1949 ist die Bundesrepublik Deutschland als Staat ohne Armee
entstanden; schon die Einfügung der Wehrverfassung in das Grundgesetz im Jahr
1956 wird zu Recht „eine Wende in der Entwicklung der Bundesrepublik“ genannt
(Hofmann, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., 2003, Bd. I, § 9
Rn. 51). Dabei wurde durch Art. 143 GG in der Fassung von 1956 klargestellt, dass im
Zuge der „Wiederbewaffnung“ eine Befugnis zum Einsatz der Streitkräfte im Inneren
selbst in Fällen des Notstandes nicht gegeben war (vgl. Meixner, in:
Dolzer/Kahl/Waldhoff/Graßhof, BK, Art. 143 Rn. 4 ). Nach diesem
63
64
ersten folgte 1968 ein zweiter Schritt im Zuge der Implementierung der
Notstandsverfassung in das Grundgesetz. Nun wurde der Einsatz der Streitkräfte
auch im Inland zugelassen, allerdings nur in wenigen eng begrenzten Fällen, die
zudem in der Verfassung ausdrücklich geregelt sein müssen (Art. 87a Abs. 2 GG).
Dies sind der regionale und der überregionale Katastrophennotstand (Art. 35 Abs. 2
und 3 GG), der äußere Notstand (Art. 87a Abs. 3 GG) und der Staatsnotstand als
qualifizierter Fall des inneren Notstandes (Art. 87a Abs. 4 GG). Dabei ist mit der
Zulässigkeit des Einsatzes der Streitkräfte im Inneren noch keine Aussage über die
Mittel getroffen, die hierbei zum Einsatz gelangen können. Vielmehr bleibt - wie vom
Ersten Senat im Urteil vom 15. Februar 2006 ( BVerfGE 115, 118 <146 ff., 150 f.>)
erkannt
-
ein Einsatz spezifisch militärischer Waffen in Fällen des
Katastrophennotstandes auch dann ausgeschlossen, wenn gemäß Art. 35 Abs. 2
Satz 2 oder Abs. 3 Satz 1 GG die Streitkräfte herangezogen werden dürfen. Bei
beiden Verfassungsänderungen hat der Gesetzgeber also nicht aus dem Blick
verloren, dass der Einsatz von Streitkräften im Inneren mit besonderen Gefahren für
Demokratie und Freiheit verbunden ist und daher ebenso strikter wie klarer
Begrenzung bedarf.
Auch und gerade seitdem nach der Notstandsgesetzgebung der Einsatz des Militärs
im Inneren nicht mehr schlechthin unzulässig ist, bleibt strenge Restriktion geboten.
Es ist sicherzustellen, dass die Streitkräfte niemals als innenpolitisches
Machtinstrument eingesetzt werden. Abgesehen von dem extremen Ausnahmefall
des Staatsnotstandes, in dem nur zur Bekämpfung organisierter und militärisch
bewaffneter Aufständischer als letztes Mittel auch Kampfeinsätze der Streitkräfte im
Inland zulässig sind (Art. 87a Abs. 4 GG), ist die Aufrechterhaltung der inneren
Sicherheit Aufgabe allein der Polizei. Ihre Funktion ist die der Gefahrenabwehr und
nur über hierfür geeignete und erforderliche Waffen darf die Polizei verfügen;
hingegen sind Kampfeinsätze der Streitkräfte auf die Vernichtung des Gegners
gerichtet, was spezifisch militärische Bewaffnung notwendig macht. Beide Aufgaben
sind strikt zu trennen. Hiermit zieht unsere Verfassung aus historischen Erfahrungen
die gebotenen Konsequenzen und macht den grundsätzlichen Ausschluss der
Streitkräfte von bewaffneten Einsätzen im Inland zu einem fundamentalen Prinzip des
Staatswesens. Mit anderen Worten: Die Trennung von Militär und Polizei gehört zum
genetischen Code dieses Landes (so Heinrich Wefing, in: Zeit-Online vom 14. Januar
2009, http://www.zeit.de/2008/42/Bundeswehr).
Wer hieran etwas ändern will, muss sich nicht nur der öffentlichen politischen
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67
Debatte stellen, sondern auch die zu einer Verfassungsänderung erforderlichen
parlamentarischen Mehrheiten (Art. 79 Abs. 2 GG) für sich gewinnen. Im Anschluss
an das Urteil des Ersten Senats war demgemäß eine Änderung des Grundgesetzes
beabsichtigt, um den am 11. September 2001 deutlich gewordenen Gefahren des
internationalen Terrorismus effektiv begegnen zu können. Das Vorhaben scheiterte,
weil sich - trotz der damaligen „großen“ Regierungskoalition - für die von der
Bundesregierung beabsichtigte Zulassung „militärischer Mittel“ generell in „besonders
schweren Unglücksfällen“ im Bundestag nicht die erforderliche Mehrheit fand und
allenfalls eine Begrenzung militärischer Kampfeinsätze zur Abwehr von Angriffen aus
der Luft oder von See aus hätte erreicht werden können (vgl. Zeit-Online vom 14.
Januar 2009,
). Der Plenarbeschluss gibt nun das, was für die Bundesregierung vor drei Jahren gegen einen der Koalitionspartner - und auch
gegen die Stimmverhältnisse im Bundesrat - nicht durchsetzbar war. Selbst wenn man es unerträglich empfindet, dass die
Streitkräfte hiernach bei terroristischen Angriffen untätig in der Rolle des Zuschauers verharren müssen, ist es nicht Aufgabe
und nicht Befugnis des Bundesverfassungsgerichts korrigierend einzuschreiten.
II.
Nach meiner Ansicht schließt das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung
den Kampfeinsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen sowohl in Fällen
des regionalen (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG) wie in Fällen des überregionalen (Art. 35
Abs. 3 Satz 1 GG) Katastrophennotstandes aus; insoweit ist also an der Auffassung
des Ersten Senats im Urteil vom 15. Februar 2006 ( BVerfGE 115, 118 <146 ff.,
150 f.>) festzuhalten. Hierbei kann dahinstehen, ob die Wortlautargumente, die im
Urteil des Ersten Senats in den Vordergrund gestellt wurden, den Argumenten des
Plenarbeschlusses Stand halten und die ihnen beigelegte tragende Bedeutung
weiterhin beanspruchen können. Denn es lässt sich auch mit einer historischen
Verfassungsinterpretation, vor allem aber mit einer systematischen Auslegung des
Grundgesetzes begründen, dass ein Einsatz der Streitkräfte mit militärischer
Bewaffnung in beiden Fällen des Katastrophennotstandes nicht erlaubt und damit
aufgrund des Art. 87a Abs. 2 GG von Verfassungs wegen untersagt ist.
1. Der Plenarbeschluss will zwar davon ausgehen, dass sich aus den
Gesetzgebungsmaterialien „insgesamt kein klares Bild“ für einen bestimmten Willen
des verfassungsändernden Gesetzgebers ergebe. Bei vollständiger Ausschöpfung
der verfügbaren Quellen und bei Würdigung der dort dokumentierten Erklärungen im
Zusammenhang vermag ich diese Einschätzung allerdings nicht zu teilen.
a) Unklarheiten können, anders als der Plenarbeschluss ausführt, nicht aus dem
Protokoll über die gemeinsame Informationssitzung des Rechtsausschusses und des
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70
Innenausschusses des Bundestages am 30. November 1967 (BTDrucks V/1879 und
V/2130) hergeleitet werden. Zwar trifft es zu, dass die dort festgehaltenen
Äußerungen der verschiedenen angehörten Sachverständigen unterschiedliche
Meinungen zur Zulässigkeit des Einsatzes militärischer Waffen wiedergeben; ferner
ist auch zutreffend, dass diese Anhörung Grundlage für den Bericht des
Rechtsausschusses wurde, der wiederum Grundlage für den Gesetzesbeschluss des
Bundestages zur Verfassungsänderung geworden ist. Es gibt jedoch keinen
Anhaltspunkt dafür, sondern ist schon im Ansatz fernliegend, dass das uneinheitliche
Meinungsbild
einer
Anhörung unverändert in die Beschlussfassung des
Rechtsausschusses eingeflossen ist. Das Gegenteil ist richtig. Der Rechtsausschuss
musste - jedenfalls mit der Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder - eine klare
Entscheidung treffen und hat dies auch getan.
Die Auffassung des Rechtsausschusses steht allerdings der Einschätzung des
Plenums entgegen und findet in dessen Argumentation keine hinreichende
Beachtung: Nachdem die Sachverständigen Kluncker und Kuhlmann in der
gemeinsamen Informationssitzung des Innen- und des Rechtsausschusses angeregt
hatten, den waffenlosen Einsatz der Bundeswehreinheiten im Katastrophen- und
Unglücksfall
zum Ausdruck zu bringen (vgl. Protokoll der 3. öffentlichen
Informationssitzung des Rechtsausschusses und des Innenausschusses vom
30. November 1967, a.a.O., S. 42, 50), nimmt der schriftliche Bericht des
Rechtsausschusses diese Hinweise auf, zieht daher den Einsatz militärisch
bewaffneter Streitkräfte überhaupt nur für den Fall des Art. 87a Abs. 4 GG in Betracht
und beschränkt ihn zugleich auf den Staatsnotstand als eine besonders gefährdende
Situation des inneren Notstandes. Im Bericht des Rechtsausschusses heißt es
unmissverständlich (BTDrucks V/2873, S. 2):
„Der Hauptunterschied zur Regierungsvorlage liegt darin, dass die
Schwelle für den Einsatz der Streitkräfte als bewaffnete Macht
angehoben worden ist. Der Rechtsausschuss schlägt vor, den
bewaffneten Einsatz der Bundeswehr nur dann zuzulassen, wenn
dies zur Bekämpfung von Gruppen militärisch bewaffneter
Aufständischer erforderlich ist (Artikel 87a Abs. 4).“
Entgegen der Ansicht des Plenums, das die Bedeutung dieser Äußerung ins
Ungewisse stellt („… muss nicht dahin verstanden werden …“), wird damit ein
bew affneter Einsatz auch in den Fällen des Katastrophennotstandes
ausgeschlossen; denn diese Passage findet sich unter der Überschrift „Innerer
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72
73
Notstand“ in dem Abschnitt des Berichts, der sich eingehend dazu verhält, dass die
zuvor in der Regierungsvorlage zusammenfassend geregelten „Fälle des Inneren
Notstandes“ nunmehr nach ihrem „sachlichen Inhalt“ getrennt in eigenen Vorschriften
normiert werden sollen. Da angesichts der Zusammenfassung im Regierungsentwurf
seinerzeit in den Begriff des „Inneren Notstandes“ auch die Fälle des
Katastrophennotstandes einbezogen wurden (vgl. Lenz, Notstandsverfassung des
Grundgesetzes - Kommentar, 1971, Art. 35 Rn. 2), war der Ausschluss spezifisch
militärischer Waffen ersichtlich auch und gerade für die nun in Art. 35 Abs. 2 und 3
GG gesondert zu regelnden Einsätze bei Naturkatastrophen und Unglücksfällen
gewollt.
b) Dies wird - entgegen der Ansicht des Plenums - durch weitere Quellen bestätigt.
Ein anderes Verständnis trifft nicht die historischen Gegebenheiten im Umfeld der
Verfassungsänderung des Jahres 1968. Das Plenum lässt völlig außer Acht, dass zur
Zeit der Notstandsgesetzgebung eine weitergehende Zulassung des Einsatzes
militärisch bewaffneter Einheiten der Streitkräfte im Inneren politisch nicht
durchsetzbar gewesen wäre. Seit dem Bundestag im Jahre 1960 ein erster Entwurf
vorgelegt worden war, kam es über Jahre hinweg zu grundlegenden politischen
Diskussionen in der - angesichts der Erfahrungen mit der deutschen Geschichte -
sensibilisierten Öffentlichkeit, die sich im Zuge der abschließenden Beratungen noch
erheblich verschärften (vgl. etwa Scheuner, in: Lenz, a.a.O., Einleitung, S. 13). So
richtete sich der vor allem von den Gewerkschaften getragene Widerstand gegen die
Notstandsverfassung in Sonderheit gegen die zutreffend erkannte Gefahr eines
Einsatzes der Streitkräfte als innenpolitisches Machtinstrument gegen die
Bevölkerung namentlich bei Arbeitskämpfen (vgl. Hoffmann, in: Sterzel, Kritik der
Notstandsgesetze, 1968, S. 87 f.). Als Beispiel für die mit der Notstandsgesetzgebung
verknüpften Befürchtungen mag das von Ekkehart Stein und Helmut Ridder schon
1963 verfasste Memorandum der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler „Der
permanente Notstand“ (abgedruckt in Ridder, Gesammelte Schriften, 2010, S. 563
<566>) dienen, in dem es heißt:
„Das Friedensrecht darf nicht vom Kriegsrecht material unterwandert
werden, d.h. im Frieden dürfen keine Maßnahmen zugelassen
werden, die in einem Krieg zur Bewältigung dieser extremen
Gefahrenlage entwickelt wurden und nur im Kriegsfall zu
rechtfertigen sind.“
Vor diesem Hintergrund stellte der Abgeordnete Dr. Lenz (CDU/CSU) als
74
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77
Berichterstatter des Rechtsausschusses bei den abschließenden Beratungen im
Bundestag die restriktiven Ziele beim Einsatz bewaffneter Streitkräfte klar (PlProt
5/174, S. 9311 <9313>):
„Es ist nicht wahr, dass durch diese Vorlage der Bürgerkrieg
vorbereitet
wird.
Sowohl
bei
der
Formulierung des
staatsbürgerlichen Widerstandsrechts als auch bei der Möglichkeit
der Bundesregierung, im äußersten Notfall Truppen gegen
militärisch bewaffnete Aufständische einzusetzen, hat der
Rechtsausschuss sich bemüht, klarzustellen, dass dies nur die
Ultima ratio, das letzte Mittel sein dürfte, wenn alle anderen Mittel
versagt haben.“
2. Diese historisch fundierte Ausgangsprämisse des verfassungsändernden
Gesetzgebers findet deutlichen Niederschlag in der Systematik, die das Grundgesetz
mit der Implementierung der „Notstandsverfassung“ durch das 17. Gesetz zur
Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBl I S. 709 ) erfahren hat. Der
Plenarbeschluss geht hierauf nicht ein.
Gerade wegen der starken öffentlichen Kritik, die sich an dem Streitkräfteeinsatz im
Fall des inneren Notstandes entzündet hatte, wandte sich der Rechtsausschuss
gegen eine zusammenfassende Regelung, wie sie in dem vorangegangenen
Regierungsentwurf vorgeschlagen worden war. Die Trennung der - als
unproblematisch angesehenen - Regelung des Katastrophennotstandes einerseits
von der des inneren Notstandes andererseits erfolgte, um die entstandene Debatte zu
entpolitisieren und den Verdacht auszuräumen, dass mit dem Katastrophennotstand
auch der innere Notstand bekämpft werden solle (vgl. Kurzprotokoll der 71. Sitzung
des Rechtsausschusses vom 15. Februar 1968, dort S. 10). Dies belegt einmal mehr,
dass diese beiden Fälle des Streitkräfteeinsatzes im Inneren völlig unterschiedliche,
sich nicht überschneidende Anwendungsbereiche haben und deshalb nicht durch die
Zulassung
spezifisch
militärischer Bewaffnung
auch
in
Fällen
des
Katastrophennotstandes
vermengt werden dürfen. Demgemäß führt der
Berichterstatter des Rechtsausschusses, der Abgeordnete Dr. Lenz, in dem von ihm
1971 verfassten Kommentar zur Notstandsverfassung bei Art. 35 Abs. 2 GG (a.a.O.,
Art. 35 Rn. 9) aus:
„Die Anforderung geschieht ‚zur Hilfe’. Damit ist ein unbewaffneter -
dies ist vor allem im Hinblick auf die Streitkräfte von Bedeutung -
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79
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technischer Hilfseinsatz gemeint.“
In Einklang damit steht der Hinweis in dem abschließenden Bericht des
Rechtsausschusses, dass die im Fall des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG zur Verfügung
gestellten Kräfte anderer Länder und des Bundes „den Rechtsnormen des im
Einsatzland geltenden Landespolizeirechts“ unterstehen (BTDrucks V/2873, S. 10).
Z u Art. 35 Abs. 3 GG verweist der Bericht ausdrücklich auf die Ausführungen zu
Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG (BTDrucks V/2873, S. 10). Für beide Fälle des
Katastrophennotstandes wurden also mit der Maßgeblichkeit des Landespolizeirechts
die Voraussetzungen für die Einbindung der Streitkräfte in den zivilen
Katastrophenschutz geschaffen und damit nur polizeiliche Maßnahmen, nicht aber
militärische Kampfmaßeinsätze ermöglicht (vgl. auch Cl. Arndt, DVBl 1968, S. 729 f.).
Auch die im Bericht des Rechtsausschusses im Einzelnen angeführten Beispiele für
den Einsatz der Streitkräfte in den Fällen von Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG, nämlich
„Absperrungen von gefährdeten Grundstücken und Verkehrsregelungen“ (BTDrucks
V/2873, S. 10), sprechen deutlich für einen Einsatz der Streitkräfte, der hinsichtlich
der einsetzbaren Mittel nicht über die im jeweiligen Landespolizeirecht der Länder
vorgesehenen hinausgehen darf. In der Begründung des Rechtsausschusses zu
Art. 87a Abs. 4 GG findet sich demgegenüber die Aussage, dass für den dort
geregelten Einsatzfall militärische Mittel nicht von vornherein ausgeschlossen werden
sollten, wobei konsequenterweise nicht auf die Anwendbarkeit des jeweiligen
Landespolizeirechts verwiesen wird (BTDrucks V/2873, S. 14).
3. Weiteres kommt hinzu. Im Rahmen der systematischen Auslegung ist auch zu
beachten, dass im Fall des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG allein der Bundesregierung eine
Initiativbefugnis zusteht, sie demnach - wie auch der Plenarbeschluss in Bestätigung
der Rechtsauffassung des Ersten Senats (BVerfGE 115, 118 <149 f.>) zur dritten
Vorlagefrage zutreffend erkennt - nur als Kollegialorgan über den Einsatz der
Streitkräfte in überregionalen Katastrophen- oder Unglücksfällen zu befinden vermag.
Diese Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers für das Initiativrecht
nur der Bundesregierung als Kollegialorgan ist auch für die Zulässigkeit eines
bewaffneten Einsatzes der Streitkräfte im Inneren von Belang; denn sie gibt auch
Aufschluss über den als zulässig angesehenen und der Regelung daher zugrunde
gelegten Mitteleinsatz.
Entscheidungen eines Gremiums erfordern naturgemäß einen größeren zeitlichen
Vorlauf;
das
Verfahren ist schwerfälliger als das einer ministeriellen
Einzelentscheidung und bringt daher schwerwiegende Effektivitätsnachteile mit sich.
81
Diese können bis zur Erfolglosigkeit einer Maßnahme infolge Zeitablaufs reichen,
wenn es sich um eine Gefahrenlage handelt, die ein sofortiges Eingreifen zwingend
erfordert. Hingegen zeichnen sich die Naturkatastrophen und Unglücksfälle, für die in
Art. 35 Abs. 2 und 3 GG ein Einsatz der Streitkräfte vorgesehen wurde,
typischerweise dadurch aus, dass sie einen gewissen, wenn auch eng begrenzten
zeitlichen Spielraum lassen. Unglücksfälle treten generell, Naturkatastrophen
bisweilen so plötzlich ein, dass nur noch eine Bekämpfung hinsichtlich der Folgen
möglich ist, was aufgrund der Notwendigkeit, Einsatzkräfte und Material
heranzuführen, ohnehin geraume Zeit in Anspruch nehmen muss. Ansonsten weisen
Naturkatastrophen in ihrer Entstehung oder Folgeentwicklung eine zeitliche
Streckung zumindest über Stundenzeiträume auf. All diese Umstände erlauben die
Befassung eines Kollegialorgans wie der Bundesregierung, ohne hierdurch die
Wirksamkeit des Streitkräfteeinsatzes ernsthaft zu gefährden.
Hingegen ist ein unausweichlicher Druck zur Entscheidung innerhalb kürzester Frist
gerade für solche Gefahren typisch, denen effektiv nur mit dem Einsatz solcher
Waffen begegnet werden kann, die in ihrer zerstörenden Wirkung über die
polizeirechtlich zulässige Bewaffnung hinausgehen. Spezifische Militärwaffen sind
mit ihrer zerstörerischen Kraft auf die Vernichtung des Gegners angelegt. Ist
außerhalb einer kriegerischen Auseinandersetzung zur Gefahrenabwehr der Einsatz
solcher Vernichtungskraft im Sinne der Verhältnismäßigkeitsmaxime angemessen
und insbesondere auch erforderlich, so wird typischerweise - wie eben bei der
Entführung von Flugzeugen zum Einsatz als Anschlagswaffe („Renegade“-Fälle) - ein
Verlauf bereits eingeleitet sein, der bei ungehindertem Fortgang in kürzester Zeit den
Verlust zahlreicher Menschenleben oder ungeheuere Schäden erwarten lässt und
daher nur durch den Einsatz massivster Mittel endgültig gestoppt werden kann.
Solche Gefährdungslagen sind also dadurch gekennzeichnet, dass ihrer Beseitigung
jede zeitliche Verzögerung abträglich ist. Dann wäre aber die Betrauung eines in der
Entscheidungsfindung
vergleichsweise schwerfälligen Kollegialorgans mit der
Initiativbefugnis
zum Einschreiten
geradezu
dysfunktional
und
als
Zuständigkeitsentscheidung mit Blick auf die vom verfassungsändernden
Gesetzgeber angestrebte „wirksame Bekämpfung“ fernliegend. Wenn daher - wie in
Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG geschehen - der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der
Bundesregierung einem Kollegialorgan die Zuständigkeit für die Einsatzentscheidung
zuweist, kann hieraus nur der Schluss gezogen werden, dass er von vornherein den
Einsatz spezifisch militärischer Waffen nicht für erforderlich hielt und damit auch nicht
legitimieren wollte.
82
83
84
III.
Dem geschilderten Ergebnis einer historischen und systematischen Auslegung des
Grundgesetzes entspricht die Rechtsauffassung des Ersten Senats im Urteil vom 15.
Februar 2006, wonach „auch im Fall des überregionalen Katastrophennotstands ein
Einsatz der Streitkräfte mit typisch militärischen Waffen von Verfassungs wegen nicht
erlaubt ist“ (BVerfGE 115, 118 <150>). Ihm ließe sich aber auch noch dadurch
Rechnung tragen, dass die im Plenarbeschluss dargestellte „Sperrwirkung“ des
Art. 87a Abs. 4 GG als unüberwindliche Schranke des Einsatzes militärischer Waffen
im Inland strikt eingehalten wird. Damit wäre der Einsatz militärspezifischer Waffen in
Katastrophenfällen namentlich gegen Sachen - wie etwa bei dem gängigen Beispiel
des Bombardierens von Deichen zur Herbeiführung einer kontrollierten Überflutung -
z u rechtfertigen. Das Plenum will diesen Weg zwar beschreiten und bringt dies
scheinbar auch im Beschlusstenor mit der Antwort auf die zweite Vorlagefrage zum
Ausdruck. Allerdings erfährt der Tenor durch die anschließenden Gründe des
Beschlusses eine entscheidende Ausdehnung, die als tragende Begründung letztlich
für das Verständnis und die Wirkungen der Entscheidung des Plenums maßgeblich
ist (vgl. BVerfGE 3, 261 <264>; 36, 342 <359 f.> jeweils zu Art. 100 Abs. 3 GG). Damit
macht das Plenum den Ansatz einer „strikten Begrenzung“ durch Art. 87a Abs. 4 GG
selbst zur Makulatur; denn der „Sperrwirkung“ wird nur „grundsätzlich“ Geltung
beigelegt, was es ermöglicht, Inlandseinsätze der Streitkräfte mit militärischer
Bewaffnung auch dann zuzulassen, wenn es gilt, einem „mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze“ eintretenden „katastrophalen Schaden“
entgegenzuwirken, der auch durch absichtliches Handeln verursacht sein kann.
1. Vieles spricht dafür, dass die Vorstellungen des verfassungsändernden
Gesetzgebers bei Regelung des Katastrophennotstandes in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG
neben Naturkatastrophen - wie der Hamburger Sturmflut 1962 - nur auf besonders
schwere Unglücksfälle im Sinne schicksalhafter, zufälliger Verläufe gerichtet waren
(vgl. etwa die Beispiele bei Lenz, a.a.O., Art. 35 Rn. 6 „Explosionsunglück“ oder
„Kollision von Öltankern in Küstennähe“). Der Erste Senat hat den Begriff des
Unglücksfalls jedoch auch für solche Schadensereignisse geöffnet, die „von Dritten
absichtlich herbeigeführt werden“ (BVerfGE 115, 118 <144> ). Erst damit konnte es zu
Überschneidungen mit der Regelung des (inneren) Staatsnotstandes in Art. 87a Abs.
4 GG kommen, der unter engen Voraussetzungen einen Waffeneinsatz der
Streitkräfte nur gegen organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische erlaubt.
Will man daher mit dem Ersten Senat den Einsatz militärischer Waffen in den Fällen
85
des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht schon generell untersagen, so ist zur Wahrung der
in der Verfassung angelegten strikten Trennung zwischen Katastrophennotstand
einerseits und innerem Notstand andererseits ein geeignetes Kriterium zu finden, das
Umgehungen der streng restriktiven Regelung für Kampfeinsätze in Art. 87a Abs. 4
GG zwingend und effektiv vermeidet. Dazu ist es notwendig, den Zweck der
verfassungsrechtlichen Trennung beider Einsätze ernst zu nehmen. Es ging darum,
d e n Katastrophenschutz durch Unterstützung der Streitkräfte zu verbessern,
gleichzeitig aber die damit faktisch auch eröffnete Möglichkeit zu verschließen, das
Militär als innenpolitisches Machtinstrument zu nutzen (vgl. Kurzprotokoll der 71.
Sitzung des Rechtsausschusses vom 15. Februar 1968, dort S. 10). Selbst wenn
Gewalttätigkeiten oder Unruhen drohen sollten, die in ihren Folgen das Ausmaß
besonders schwerer Unglücksfälle erreichen, dürfen bewaffnete Streitkräfte im
Inneren nicht etwa dazu eingesetzt werden, um allein schon durch ihre Präsenz die
Bevölkerung etwa bei Demonstrationen einzuschüchtern. Um dieses Ziel zu
erreichen, muss Art. 87a Abs. 4 GG eine Sperrwirkung beigelegt werden, die es
verhindert, dass bewaffnete Streitkräfte gegen Menschen zum Einsatz kommen, die
vorsätzlich die öffentliche Sicherheit gefährden, selbst wenn sie sich absichtlich und
in aggressiver Weise gegen den Staat wenden und sich hierbei strafbar machen
sollten. Die Bekämpfung solcher Gefährdungen ist selbstverständlich zulässig und
geboten, aber sie ist nach dem geltenden Verfassungsrecht in Deutschland eine
ausschließlich polizeiliche, nicht jedoch eine militärische Aufgabe. Dies bestätigt die
Verfassung selbst durch Art. 91 GG. Denn sogar wenn es zu einer Gefahr für den
Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines
Landes kommt, sieht Art. 91 GG für diesen Fall des inneren Notstandes nur den
Einsatz von Polizeikräften anderer Länder oder der Bundespolizei vor, nicht aber den
Einsatz der Streitkräfte. Deren Heranziehung macht Art. 87a Abs. 4 GG schon für den
bloßen Objektschutz vielmehr von weiteren Voraussetzungen abhängig, wobei der
Einsatz von Waffen in jedem Fall nur gegen organisierte und militärisch bewaffnete
Aufständische zulässig ist (vgl. Lenz, a.a.O., Art. 87a Rn. 18). Mit den Waffen des
Militärs dürfen also nur Personengruppen bekämpft werden, die selbst militärisch
bewaffnet sind, sich gegen den Staat erhoben haben und über ein System der
Einsatzleitung verfügen (vgl. Lenz, a.a.O., Art. 87a Rn. 19).
2. Der Plenarbeschluss geht darüber hinaus. Er ist zwar von der redlichen und
anerkennenswerten Absicht getragen, den bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im
Inneren restriktiv zu halten, setzt sich aber über die selbst erkannte Sperrwirkung
hinweg und kann daher mit den von ihm entwickelten Kriterien eine Umgehung der
86
87
engen Voraussetzungen des inneren Notstandes nach Art. 87a Abs. 4 GG durch die
weniger strengen Voraussetzungen des Katastrophennotstandes nicht verhindern.
Durch den Versuch der weiteren Einhegung des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG durch das
Erfordernis eines zwar nicht das „Vorfeld“ eines Unglücksfalls erfassenden,
gleichwohl
aber
„unmittelbar bevorstehenden“
Schadenseintritts
„von
katastrophischen Dimensionen“ wird die Rechtsanwendung zwar um neue
Begrifflichkeiten bereichert, nicht aber um die nötige Klarheit und Berechenbarkeit. Es
handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare
Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis viel Spielraum für subjektive
Einschätzungen, persönliche Bewertungspräferenzen und unsichere, wenn nicht gar
voreilige Prognosen lassen. Jedenfalls bei Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter
Streitkräfte ist das nicht hinnehmbar. Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen
kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen. Wie ist beispielsweise zu
verhindern, dass im Zusammenhang mit regierungskritischen Großdemonstrationen -
wie etwa im Juni 2007 aus Anlass des „G8-Gipfels“ in Heiligendamm - schon wegen
befürchteter Aggressivität einzelner teilnehmender Gruppen „mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze“ eintretende massive Gewalttätigkeiten mit
„katastrophalen Schadensfolgen“ angenommen werden und deswegen bewaffnete
Einheiten der Bundeswehr aufziehen? Der bloße Hinweis des Plenums, dass
Gefahren, die „aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen“, nicht
genügen sollen, kann in diesen Fällen die selbst definierten Einsatzvoraussetzungen
kaum wirksam suspendieren.
3. Dass die vom Plenarbeschluss entwickelte Lösung einer überzeugenden
dogmatischen Grundlage entbehrt, kommt hinzu. Wie es angesichts der auch im
Plenarbeschluss anerkannten Sperrwirkung zulässig sein kann, diese gleichwohl -
und sei es auch nur in besonders qualifizierten Unglücksfällen - bei Seite zu schieben
und den Einsatz bewaffneter Streitkräfte auch dann zuzulassen, wenn die
Voraussetzungen des Art. 87a Abs. 4 GG nicht vorliegen, erschließt sich nicht und
wird in der Entscheidung nicht begründet. Eine Begründung lässt sich auch
schwerlich finden; denn wenn - bildlich gesprochen - das Öffnen einer Tür verboten
ist, dann kann es nicht erlaubt sein, sie auch nur einen Spalt weit zu öffnen.
IV.
Letztlich wirft der Plenarbeschluss auch die Frage auf, was durch den nun
erweiterten Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Inneren an Vorteilen für den Schutz der
Bevölkerung namentlich vor terroristischen Angriffen erreicht werden kann. Die
88
Antwort lautet: wenig bis nichts.
1. Angesichts des beim Zweiten Senat anhängigen Normenkontrollverfahrens wird
darüber zu befinden sein, welche Vorschriften des Luftsicherheitsgesetzes zur
Abwehr besonders schwerer Unglücksfälle durch den Einsatz bewaffneter Einheiten
der Streitkräfte verfassungsrechtlichen Bestand haben können. Auf der Grundlage
des Plenarbeschlusses mag es de lege lata zulässig sein, dass Kampfflugzeuge
unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 LuftSiG „Luftfahrzeuge abdrängen, zur
Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse
abgeben“. Die erfolgreiche Gefahrenabwehr durch solche Maßnahmen wird
allerdings insbesondere in „Renegade“-Fällen deshalb wenig wahrscheinlich sein,
weil Konsequenzen in Form eines Abschusses unzulässig sind, nachdem die - eine
„unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt“ gestattende - Vorschrift des § 14 Abs. 3
LuftSiG durch das Urteil des Ersten Senats für verfassungswidrig und nichtig erklärt
worden ist ( BVerfGE 115, 118 ). De lege ferenda mag ohne Verfassungsänderung
eine gesetzliche Neuregelung möglich sein, diese könnte jedoch eine unmittelbare
Einwirkung mit militärischer Waffengewalt nur gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug
erlauben oder ausschließlich gegen die Personen gerichtet sein, die das Luftfahrzeug
als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen einsetzen wollen (vgl. BVerfGE 115,
118 <160> ). Hingegen kann der deutsche Gesetzgeber den Abschuss solcher
Flugzeuge nicht erlauben, in denen sich - wie bei den terroristischen Angriffen am 11.
September 2001 - Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden, die selbst Opfer
der Luftpiraten geworden sind. Insoweit hat auch der Plenarbeschluss nichts daran
geändert, dass die den Umständen nach wahrscheinliche Tötung dieser Menschen
mit dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der
Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar ist. Es kommt hinzu,
dass - auch nach der Auffassung des Plenums - ohne Verfassungsänderung allein
die Bundesregierung nach Maßgabe des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG über den Einsatz
militärischer Waffen gegen Luftfahrzeuge befinden kann, was angesichts des
vergleichsweise kleinen deutschen Luftraums kaum jemals rechtzeitig zu einer
Maßnahme nach § 14 Abs. 1 LuftSiG oder - nach gesetzlicher Neuregelung - zu
einem eingeschränkt zulässigen Abschuss eines Luftfahrzeugs führen wird. Soll
danach der Rahmen, den das materielle Verfassungsrecht für eine effektive Abwehr
von Gefahren aus dem Luftraum lässt, genutzt werden, so ist trotz der erweiterten
Zulässigkeit von Kampfeinsätzen nach der Entscheidung des Plenums eine
Verfassungsänderung gleichwohl unvermeidlich.
89
2. Es lässt sich nicht leugnen und ist positiv zu bewerten, dass die Antwort des
Plenums deutlich hinter dem aus der Vorlagefrage ersichtlichen Anliegen des
Zweiten Senats zurückbleibt, das auf eine Umgestaltung der Regelungen des
Katastrophennotstandes hin zu einer subsidiären allgemeinen Gefahrenabwehr mit
militärischen Waffen zielte. Gleichwohl hat das Plenum aber zugunsten eines
geringen, praktisch kaum realisierbaren Gewinns an Sicherheit die Zulässigkeit des
Einsatzes der Streitkräfte im Inneren mit Hilfe derart unbestimmter Rechtsbegriffe
erweitert,
dass militärische Einsätze zu innenpolitischen Zwecken nicht
ausgeschlossen werden können. Für einen kaum messbaren Nutzen wurden
fundamentale Grundsätze aufgegeben. Daher wäre es ein fataler Fehler, sich
angesichts der Entscheidung des Plenums damit zu trösten, dass der Berg gekreißt,
aber nur eine Maus geboren hat.