Urteil des BVerfG vom 05.09.2002

rechtliches gehör, feststellung des tatbestandes, politische verfolgung, verfassungsbeschwerde

- Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Martha-Lina Bode und Koll.,
Alleestraße 24, 44793 Bochum -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 995/02 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des türkischen Staatsangehörigen A...
gegen a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen
vom 28. Mai 2002 - 2 A 350/01.A -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen vom 2. August 2001 - 2 K
1270/01.A -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung des Rechtsanwalts Eduard Abbrent
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Sommer,
Di Fabio
und die Richterin Lübbe-Wolff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom
11. August 1993 ( BGBl I S. 1473) am 5. September 2002 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt
Eduard Abbrent wird abgelehnt.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe:
Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der
Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu.
Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen
Rechten des Beschwerdeführers angezeigt, denn die Verfassungsbeschwerde besitzt keine
hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
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1. Ein entscheidungserheblicher Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen Art. 16a Abs. 1
GG liegt nicht vor. Dieses hat den ihm bei der Feststellung des Tatbestandes "politisch
Verfolgter" eingeräumten Wertungsrahmen eingehalten und auch der asylspezifischen,
verfassungsrechtlich verbürgten Ermittlungs- und Aufklärungspflicht genügt (vgl. BVerfGE
76, 143 <162>).
Zwar hat das Verwaltungsgericht nirgendwo ausdrücklich festgestellt, ob der
Beschwerdeführer vorverfolgt oder nicht vorverfolgt ausgereist ist. Es konnte diese Frage
jedoch entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers offen lassen, da es
entscheidungstragend darauf abgestellt hat, dass der Beschwerdeführer in der Westtürkei
hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung sei. Gegen diese fachgerichtliche Einschätzung
bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Es trifft insbesondere nicht zu, dass das Verwaltungsgericht seine Behauptung, der
Beschwerdeführer habe bei einer Rückkehr in die Türkei und einem Aufenthalt in der
Westtürkei keine Individualverfolgung zu befürchten, nicht belegt habe. Vielmehr hat das
Verwaltungsgericht ausführlich dargelegt, warum der Beschwerdeführer trotz einer
Registrierung in seiner Heimat und für ihn damit möglicherweise verbundener
Schwierigkeiten im Falle einer Rückkehr dorthin bei einem Aufenthalt in der Westtürkei - also
gerade nicht in seiner Heimatumgebung - hinreichend sicher vor Verfolgungsgefahren wäre.
Dabei geht das Gericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der Berufungsinstanz
davon aus, dass eine landesweite politische Verfolgung nur dann anzunehmen sei, wenn
Anhaltspunkte
dafür bestünden, dass der Beschwerdeführer von den türkischen
Sicherheitsbehörden auch im Westen der Türkei der Unterstützung der PKK oder des
Separatismus verdächtigt würde; das sei bei ihm aber mangels landesweiten Abgleichs von
Registern der zuständigen Polizei am Heimatort über frühere vorläufige Festnahmen nicht
der Fall. Von seinem rechtlichen Standpunkt aus zutreffend hat das Verwaltungsgericht daher
"in diesem Zusammenhang" offen gelassen, inwieweit den Schilderungen des
Beschwerdeführers im Einzelnen gefolgt werden könne, da im Westen der Türkei eine
hinreichende Verfolgungssicherheit anzunehmen sei.
Das Verwaltungsgericht hat auch bei der Frage der inländischen Fluchtalternative den Inhalt
und die Reichweite des Asylgrundrechts nicht verkannt. Soweit es zu dem Ergebnis gelangt
ist, dass der Beschwerdeführer wegen seiner für die PKK gehegten Sympathien in der
Westtürkei nicht verfolgt werde, hat der Beschwerdeführer dem allein die Behauptung
entgegen gestellt, die an seine politischen Überzeugung (Anhänger der PKK) anknüpfende
Verfolgung sei in der Türkei nicht regional begrenzt, weil von einer bloß regionalen Verfolgung
nur dann gesprochen werden könne, wenn diese in den übrigen Landesteilen nicht stattfinde.
Dies hat das Verwaltungsgericht jedoch hinsichtlich der vom Beschwerdeführer im Osten der
Türkei gezeigten Aktivitäten festgestellt. Warum keine Verfolgung stattfindet, z.B. wegen
fehlenden Informationsflusses unter den türkischen Sicherheitsbehörden, ist unerheblich.
Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts verletzt auch nicht deshalb Art. 16a
A b s . 1 GG, weil das Gericht den vom Beschwerdeführer geschilderten
Verfolgungsmaßnahmen
mangels
eines
konkreten Strafverfolgungsinteresses die
Asylrelevanz abgesprochen hat. Diese Einschätzung ist nicht entscheidungserheblich; das
Verwaltungsgericht hat tragend darauf abgestellt, dass der Beschwerdeführer in der
Westtürkei hinreichend sicher sei vor einer Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen, also
unabhängig davon, ob diese, so sie denn stattgefunden hätten, bereits asylerheblich gewesen
wären.
2. Das verwaltungsgerichtliche Urteil verletzt nicht das Recht des Beschwerdeführers auf
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rechtliches Gehör.
a) Soweit mit der Verfassungsbeschwerde gerügt wird, das Verwaltungsgericht habe sich
mit dem Vortrag des Beschwerdeführers, insbesondere den von ihm geschilderten
Verfolgungsmaßnahmen, nicht ernsthaft auseinander gesetzt und lapidar auf den
Bundesamtsbescheid "im Wesentlichen" Bezug genommen, greift der Beschwerdeführer im
Gewande der Gehörsrüge allein die seiner Meinung nach falsche Rechtsauffassung des
Verwaltungsgerichts an. Dasselbe gilt, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, bei der
Bewertung des fluchtauslösenden Ereignisses (Auffinden des Briefes und fünftägige
Festnahme der Eltern) lasse das Gericht seinen Vortrag zu seinen PKK-Aktivitäten außer
Acht.
b) Dass das Verwaltungsgericht dem Beschwerdeführer Widersprüche zwischen seinem
Vortrag und dem seiner Schwester in deren Asylverfahren nicht vorgehalten hat, stellt
ebenfalls keine Gehörsverletzung dar, denn insoweit handelt es sich um nicht
entscheidungstragende Erwägungen. Ausdrücklich hat das Gericht offen gelassen, ob den
Schilderungen des Beschwerdeführers zu seiner individuellen Verfolgung zu folgen sei.
c) Die Ablehnung der in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge verletzt
ebenfalls nicht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör. Die jeweiligen
Ablehnungsgründe finden im Prozessrecht eine Stütze.
aa) Die Ablehnung des Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens von
Rechtsanwalt Osman Aydin hat das Verwaltungsgericht darauf gestützt, dass ihm zu den
gestellten Beweisfragen bereits eine Vielzahl von Gutachten und anderen Erkenntnissen
vorliege und nicht ersichtlich sei, warum gleichwohl zu dem angesprochenen Fragenkomplex
e i n weiteres
Sachverständigengutachten
eingeholt
werden
solle. Dies
ist
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Tatsachengerichte können einen
Beweisantrag auf Einholung von Sachverständigengutachten im Allgemeinen nach
tatrichterlichem Ermessen gemäß § 98 VwGO in entsprechender Anwendung des § 412
ZPO oder mit dem Hinweis auf eigene Sachkunde verfahrensfehlerfrei ablehnen (vgl. die
ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, z.B. Beschluss vom 27. Februar
2001, Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 46). Vorliegend hat das Verwaltungsgericht auf
seine eigene Sachkunde, beruhend auf den vorliegenden Erkenntnismitteln, verwiesen.
Erforderlich ist in einem solchen Fall, dass das Tatsachengericht seine Entscheidung
nachvollziehbar begründet und insbesondere angibt, woher es seine Sachkunde hat. Wie
konkret der Nachweis der eigenen Sachkunde des Gerichts zu sein hat, hängt dabei von den
jeweiligen Umständen des Einzelfalls, insbesondere den jeweils in tatsächlicher Hinsicht in
dem Verfahren in Streit stehenden Einzelfragen ab; jedenfalls muss der Nachweis plausibel
und nachvollziehbar sein und der Verweis auf vorhandene Gutachten und Auskünfte dem
Einwand der Beteiligten standhalten, dass in diesen Erkenntnisquellen keine, ungenügende
o d e r widersprüchliche Aussagen zur Bewertung der aufgeworfenen Tatsachenfragen
enthalten seien (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 19. September 2001, AuAS
2001, S. 263 und Beschluss vom 27. Februar 2001, a.a.O.).
bb) Der Beschwerdeführer behauptet, das angegriffene Urteil enthalte zu den
Beweisgegenständen 1 und 2 keine Erkenntnisse. Beim ersten Beweisgegenstand war es
darum gegangen, dass schon das Auffinden von verschlüsselten Nachrichten bei einem
PKK-Sympathisanten zur Einleitung eines Strafverfahrens führe, und beim zweiten darum,
dass in einem Ermittlungsverfahren wegen PKK-Unterstützung die Ermittlungen landesweit
geführt würden, wobei es auch andere als auf einem Haftbefehl gründende Formen
landesweiter Suche gebe. Mit der Verfassungsbeschwerde wird indes nicht dargetan, dass in
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d e n vom Verwaltungsgericht verwerteten Erkenntnisquellen keine, ungenügende oder
widersprüchliche Aussagen zu den beiden Beweisgegenständen enthalten seien. Es wird
lediglich behauptet, dass das Gericht, indem es in der Beschlagnahme verschiedener
Gegenstände des Beschwerdeführers noch keinen Anlass für ein Strafverfahren sehe,
dessen Vortrag betreffend seine Verdächtigung und Verfolgung wegen PKK-Unterstützung
nicht beachtet habe. Dieser Angriff betrifft die materiellrechtliche Würdigung und nicht das
Prozessrecht.
Hinsichtlich der Beweisgegenstände 3 bis 5 hat der Beschwerdeführer ebenfalls gerügt,
dass das Gericht hierzu im Urteil weder konkret Stellung genommen noch Erkenntnisse, die
die Beweisfragen beantworten würden, eingeführt habe. Durch Einholung des begehrten
Sachverständigengutachtens wäre seiner Auffassung nach bewiesen worden, dass es bei
einer
Rückkehr
des Beschwerdeführers in die Türkei eine Reihe konkreter
Verdachtsmomente gebe, die ihn im Sinne der Anforderungen des Oberverwaltungsgerichts
Bremen verdächtig machten und Anlass zu einer Nachfrage bei den örtlichen
Sicherheitsbehörden seien. Auch dieser Einwand verfängt nicht. Hinsichtlich der
Rückkehrgefährdung wegen einer etwaigen Registrierung am Heimatort hat das
Verwaltungsgericht Bezug genommen auf die im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bremen
vom 24. September 1997 verwerteten Erkenntnisse, die in seinem eigenen Urteil vom 30.
April 1999 eingeführten Quellen sowie die aktuelle Auskunftslage. Angesichts dieser Vielzahl
von Auskünften, Gutachten etc. kann die pauschale Behauptung des Beschwerdeführers,
das Gericht habe im Urteil zu den Beweisfragen nicht konkret Stellung genommen und keine
Erkenntnisse eingeführt, die die Beweisfragen beantworteten, nicht als ausreichend zur
Widerlegung hinreichender gerichtlicher Sachkunde angesehen werden.
d) Der weitere Einwand, das Gericht missachte die in der mündlichen Verhandlung
überreichte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 19. September 2000,
ist unsubstantiiert: Es wird aus diesem Urteil lediglich die Passage herausgegriffen, in der es
angeblich heißt, dass jemand, der verdächtigt wird, der PKK-Guerilla anzugehören, als
Aktivist der PKK landesweit gesucht werde, wobei dann noch auf eine andere Entscheidung
des Oberverwaltungsgerichts vom 25. Januar 2000 hingewiesen wird, in der es heiße, dass
bei Angehörigen der Militärorganisation der PKK ohne Weiteres anzunehmen sei, dass ein
Haftbefehl existiert. Aufgrund dieser aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate lässt sich
nicht die Feststellung treffen, dass das Verwaltungsgericht die Entscheidung des
Oberverwaltungsgerichts nicht zur Kenntnis genommen und erwogen habe: Das
Verwaltungsgericht hat sich in den Urteilsgründen ausdrücklich mit dem Urteil vom 19.
September 2000 auseinander gesetzt; es ist dabei indes zu dem Ergebnis gelangt, dass nur
für Angehörige von Aktivisten militanter staatsfeindlicher Organisationen, gegen die aktuell
Strafverfolgung betrieben und nach denen landesweit gefahndet werde, eine
Verfolgungsgefahr (unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft) bestehe; einen derartigen
Sachverhalt, nämlich eine landesweite Suche nach dem Bruder des Beschwerdeführers
aufgrund eines Haftbefehls, hat es trotz eines Verdachts, dieser habe sich der PKK-Guerilla
angeschlossen, gerade ausgeschlossen. Dass das Verwaltungsgericht mit dieser - von der
des Oberverwaltungsgerichts Münster möglicherweise abweichenden - Einschätzung den
ihm offen stehenden Wertungsrahmen (vgl. BVerfGE 76, 143 <161 f.>) überschritten habe,
wird in der Verfassungsbeschwerde nicht substantiiert dargelegt.
e) Auch die Ablehnung des Antrags auf mündliche Erläuterung der Gutachten Kaya und
Rumpf
versagt dem Beschwerdeführer nicht das rechtliche Gehör. Nach der
fachgerichtlichen Rechtsprechung kann die Vernehmung der Sachverständigen in der
mündlichen Verhandlung ein taugliches Mittel zur Sachverhaltsaufklärung sein. Das
Verwaltungsgericht hat die Ablehnung des Beweisantrages aber nicht auf die Ungeeignetheit
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der beantragten Maßnahme gestützt, sondern auf die verspätete Antragstellung. Gegen diese
Begründung hat der Beschwerdeführer keine verfassungsrechtlich beachtlichen Einwände
erhoben. Die schlichte Behauptung, dass § 85 ZPO auf diesen Fall nicht anwendbar sei und
die Kenntnis eines im fachgerichtlichen Verfahren ebenfalls bevollmächtigten weiteren
Rechtsanwalts und dessen Verschulden ihm nicht zurechenbar seien, ist nicht geeignet,
einen Grundrechtsverstoß aufzuweisen.
3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Bevollmächtigten ist
mangels Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde kein Raum.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Sommer
Di Fabio
Lübbe-Wolff