Urteil des BVerfG vom 07.03.2012

faires verfahren, wahl des verteidigers, verfassungsbeschwerde, untersuchungshaft

- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Prof. Dr. Ulrich Sommer, Christof Püschel,
in Sozietät Strafverteidiger / Büro, Aduchtstraße 7, 50668 Köln -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 988/10 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau K...
gegen a) den Beschluss des Landgerichts München I vom 24. März 2010 - 15 Qs
13/10 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts München vom 5. März 2010 - ER V Gs
1493/10 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Huber
und die Richterin Kessal-Wulf
am 7. März 2012 einstimmig beschlossen:
Die Beschlüsse des Landgerichts München I vom 24. März 2010 - 15 Qs 13/10 -
und des Amtsgerichts München vom 5. März 2010 - ER V Gs 1493/10 - verletzen
die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit
Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an
das Landgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
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A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den fernmündlichen Verkehr zwischen einem
Untersuchungsgefangenen und seinem Verteidiger.
I.
1. Die Beschwerdeführerin wurde am 9. Dezember 2009 wegen Flucht- und
Verdunkelungsgefahr in der Justizvollzugsanstalt München in Untersuchungshaft
genommen. Am selben Tag traf die Ermittlungsrichterin folgende Anordnung zum
Vollzug der Untersuchungshaft mit Geltung ab 1. Januar 2010:
„I. Gemäß § 119 Abs. 1 StPO wird angeordnet: (...)
2. Telekommunikation:
a) Die Telekommunikation bedarf der Erlaubnis
b) Die Telekommunikation ist zu überwachen (...)
II. Zuständige Stelle:
Die Ausführung der Anordnungen gemäß Ziffer I
dieses Beschlusses wird gemäß § 119 Abs. 2
Satz 2 StPO widerruflich auf die Staatsanwaltschaft München I
übertragen. (...)“
In den Gründen des Beschlusses heißt es unter anderem:
„Der Verkehr des/der Beschuldigten mit dem Personenkreis gemäß
§ 119 Abs. 4 Sätze 1 und 2 StPO (insbesondere Verteidiger) bleibt
unberührt. Die Entscheidung, ob die Voraussetzungen hierzu
vorliegen, trifft die zuständige Stelle (vgl. Ziffer II).“
2. Mit zwei Fernschriften vom 16. Februar 2010 beantragte der Verteidiger der
Beschwerdeführerin bei der Justizvollzugsanstalt die Genehmigung für ein
fernmündliches Gespräch mit seiner Mandantin an einem der nachfolgenden Tage.
Die Justizvollzugsanstalt lehnte eine Genehmigung ab, weil es einer richterlichen
Genehmigung bedürfe. Der Verteidiger beantragte sodann mit Schreiben vom 3. März
2010 die richterliche Genehmigung eines fernmündlichen Gesprächs mit seiner
Mandantin. Bisher habe er dreimal die Gelegenheit zu solchen Gesprächen von je
etwa fünfminütiger Dauer gehabt, um verteidigungsrelevante Fragen zu erörtern. Das
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nunmehr beantragte Telefonat sei zur Fertigung eines Schriftsatzes erforderlich.
Wegen des besonderen Vertrauensverhältnisses und aus wirtschaftlichen Gründen
könne kein weiterer Verteidiger einbezogen werden. Brieflicher Verkehr sei
unzureichend, weil Fragen im direkten Dialog zu klären seien. Unabhängig davon,
dass die Forderung der Angabe von Gründen für die Durchführung eines
Verteidigertelefonats die anwaltliche Schweigepflicht berühre, habe er bereits
angegeben, dass er mit der Beschwerdeführerin die Reaktion auf die Ablehnung der
Außervollzugsetzung des Haftbefehls besprechen wolle.
3. Mit angegriffenem Beschluss vom 5. März 2010 lehnte die Ermittlungsrichterin
den Antrag ab. Aus Gründen der Anstaltssicherheit und der Gleichbehandlung könne
die Erlaubnis zum fernmündlichen Verkehr nur erteilt werden, wenn ein gewichtiger
Grund vorliege. Fernmündliche Gespräche seien mit einem erheblichen, die
Anstaltssicherheit gefährdenden personellen und organisatorischen Aufwand
verbunden und könnten aus Sicherheitsgründen nur aus dem Geschäftszimmer der
Dienstleitung und im Beisein eines Vollzugsbediensteten erfolgen. Die Erteilung der
Erlaubnis zöge zahlreiche gleichartige Anträge anderer Gefangener nach sich, denen
dann ebenso nachzukommen wäre. Zudem bestehe für das Strafverfahren und die
Anstaltssicherheit ein Risiko, weil sich nicht mit Sicherheit feststellen lasse, ob der
Gesprächspartner tatsächlich der Verteidiger oder eine sonstige, gegebenenfalls
verfahrensrelevante Person sei. Gewichtige Gründe, welche das fernmündliche
Gespräch notwendig erscheinen ließen, seien nicht ersichtlich. Dass bereits drei
Telefonate stattgefunden hätten, rechtfertige nicht die Erwartung einer Fortsetzung
dieser Praxis. Der Beschwerdeführerin seien die praktischen Nachteile der Wahl
eines ortsfremden Verteidigers bekannt. Ein beschleunigter Informationsaustausch
sei durch Beauftragung eines ortsansässigen Korrespondenzanwalts oder im Wege
des Schriftverkehrs möglich. Da seit der Ablehnung des Antrags auf Aussetzung des
Haftbefehls fast ein Monat vergangen sei, sei die Besprechung einer Reaktion auf
diesen Beschluss zumindest nicht dringlich.
4. Mit der gegen diesen Beschluss gerichteten Beschwerde rügte der Verteidiger
eine Verkürzung der Verteidigungsrechte. Die Beschränkung der Genehmigung
fernmündlichen
Verteidigerkontakts
auf
Ausnahmefälle widerspreche der
Gesetzeslage, die eine Beschränkung der Telekommunikation nur im Ausnahmefall
erlaube. Die organisatorischen Belange der Justizvollzugsanstalt genügten nicht, um
das Telefonat abzulehnen.
Mit angegriffenem Beschluss verwarf die Strafkammer die Beschwerde „aus den
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zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses“ und ergänzte, dass die
Ausführung der Anordnung über den Vollzug der Untersuchungshaft der
Ermittlungsrichterin oblegen habe, weshalb die etwaige Erlaubniserteilung durch die
Justizvollzugsanstalt rechtswidrig gewesen sei, zumal der Haftgrund der
Verdunkelungsgefahr eine strenge, in der Praxis kaum durchführbare
Identitätsprüfung erfordere.
5. Nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde wurde die Beschwerdeführerin
durch die Wirtschaftsstrafkammer zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der
Haftbefehl
wurde
aufgehoben
und
die
Beschwerdeführerin
aus der
Untersuchungshaft entlassen.
II.
1. Mit ihrer fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die anwaltlich
vertretene Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2
und Art. 3 Abs. 1 GG (Willkürverbot). In der Sache rügt sie zudem die Verletzung ihres
Rechts auf effektive Verteidigung.
Der Vollzug der Untersuchungshaft müsse die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG
gewährleistete persönliche Freiheit beachten. Die angegriffenen Entscheidungen
hätten willkürlich verkannt, dass die Untersagung des Telefonverkehrs mit dem
Verteidiger besonderer Begründung bedürfe. Die Wahl des Verteidigers sei frei,
weswegen
der Staat
auch
ortsfernen
Verteidigern
effektive
Verteidigungsmöglichkeiten gewährleisten müsse. Dies schließe die Ermöglichung
von Verteidigertelefonaten ein, weil die Dynamik des Ermittlungsverfahrens und die
teils verzögerte Erkenntnis des Beschuldigten von der Relevanz zuvor unterschätzter
Sachverhaltsmomente das Bedürfnis nach mehrfachem Informationsaustausch mit
dem Verteidiger erhöhten. Die Mehrkosten für die zusätzliche Mandatierung eines
ortsnahen
Korrespondenzanwalts
seien
unzumutbar.
Zudem wisse kein
Festgenommener, in welcher Vollzugsanstalt er inhaftiert und wie sich dies in Zukunft
verändern werde.
Eine Identitätsprüfung des Gesprächspartners sei technisch möglich. Dass ein
Strafverteidiger den Hörer an Dritte weiterreichen könnte, rechtfertige die
Beschränkung nicht; der Verteidiger genieße als Organ der Rechtspflege einen
Vertrauensvorschuss, solange nicht konkrete Anhaltspunkte gegen seine Integrität
sprächen.
Auf
derartige Anhaltspunkte stützten sich die angegriffenen
Entscheidungen jedoch nicht.
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Soweit die angegriffenen Entscheidungen auf eine Gefährdung der Anstaltsordnung
abstellten, sei zu erinnern, dass Untersuchungsgefangene nur den unvermeidlichen
Beschränkungen unterworfen werden dürften, weswegen Grundrechtseingriffe eine
reale Gefährdung der Haftzwecke voraussetzten. Hieran fehle es im Fall eines
Verteidigertelefonats. Der hierzu erforderliche personelle und sächliche Aufwand
entbinde den Staat nicht von seiner Pflicht, Untersuchungsgefangenen eine effektive
Verteidigung zu ermöglichen.
2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz erachtet
die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.
a) Die Beschwerdeführerin gebe nicht an, in welchem Grundrecht sie verletzt sei.
Ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sei nicht schlüssig dargetan, weil
Maßnahmen im Vollzug der Untersuchungshaft nicht an Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zu
messen seien. Für die Rüge eines Verstoßes gegen das Recht auf effektive
Verteidigung fehle, nachdem der Untersuchungshaftbefehl aufgehoben worden sei,
das Rechtsschutzbedürfnis.
b) Jedenfalls sei die Verfassungsbeschwerde unbegründet.
Das Recht auf effektive Verteidigung gewährleiste keinen Anspruch auf
uneingeschränkten
Kontakt eines Beschuldigten in der vom Verteidiger
bevorzugten Kommunikationsart. Es genüge, wenn der Beschuldigte über das eigene
Prozessverhalten nach fachlicher Beratung entscheiden und sachdienliche Anträge
stellen könne. Die von den angegriffenen Entscheidungen nicht ausgeschlossene
Möglichkeit von Verteidigertelefonaten in Dringlichkeitsfällen sei verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden. Nach der gesetzgeberischen Konzeption sei nur scheinbar mit
dem Verteidiger geführte Kommunikation zu unterbinden. Es bestehe zudem nur ein
Anspruch auf Überwachungsfreiheit der Verteidigerkommunikation.
Die Beschränkung auf dringende Verteidigertelefonate sei auch sachlich
gerechtfertigt. Sei Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr angeordnet,
müsse genau kontrolliert werden, mit wem der Beschuldigte in Kontakt trete. Die
Beschränkung sei insbesondere angesichts knapper personeller und sächlicher Mittel
erforderlich. Die für die Ermöglichung von Verteidigertelefonaten allein in Betracht
kommenden Dienstapparate stünden für die Gesprächsdauer nicht für dienstliche
Zwecke zur Verfügung. Das Vollzugspersonal müsse während des Gesprächs
sicherstellen, dass Gesprächspartner tatsächlich der Verteidiger sei und der
Gefangene keinen Zugriff auf im Dienstzimmer vorhandene Vorgänge oder
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Gegenstände nehme. Die Grundsätze des Ehegattenbesuchs ließen sich nicht auf
die Verteidigerkommunikation übertragen, da letztere keinem Selbstzweck diene und
effektive Verteidigung auch durch unmittelbaren Kontakt gewährleistet werden könne.
I m Strafverfahren,
dem
die
Abfassung
umfangreicher
Schriftsätze mit
entsprechendem Rücksprachebedarf ohnehin eher fremd sei, drohe auch keine
Präklusion. Das primär als Abwehrrecht zu verstehende Recht auf effektive
Verteidigung gebiete keine Ausweitung sächlicher Mittel zur Ermöglichung von
Verteidigerferngesprächen. Nur in Ausnahmefällen begründe es Leistungsansprüche,
welche der Staat bezogen auf den Verteidigerkontakt durch Ermöglichung von
Verteidigerbesuchen erfülle. Die Ermöglichung von Verteidigertelefonaten entspreche
auch nicht dem von diesem Recht sichergestellten Bild einer Strafverteidigung, da
das vertrauliche Gespräch unter vier Augen hier zu kurz komme. Da Entscheidungen
stets sowohl dem Beschuldigten als auch seinem Verteidiger bekanntzugeben seien,
bestehe ein geringer Bedarf nach Informationsaustausch. Dies gelte auch für
Beschuldigte, die sich eines ortsfernen Verteidigers bedienten. Für die Wahl eines
ortsfernen Verteidigers sei der Beschuldigte selbst verantwortlich. Er könne zudem
einen Korrespondenzanwalt mandatieren. Überdies bestehe kein Recht auf
unbedingte Gewährleistung der Verteidigung durch den Anwalt, den der Beschuldigte
für am besten geeignet hält.
3. Die Akten des fachgerichtlichen Verfahrens haben der Kammer vorgelegen.
B.
I.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur
Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin auf ein faires Verfahren
(Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93a
Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende
Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze sind in
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (s. unter II.2.). Nach
diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und in einem die
Zuständigkeit der Kammer begründenden Sinn offensichtlich begründet.
II.
1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht es nicht entgegen, dass der
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gegen die Beschwerdeführerin erlassene Haftbefehl inzwischen außer Kraft gesetzt
ist.
Bei
gewichtigen
Grundrechtseingriffen
ist vom Fortbestehen des
Rechtsschutzbedürfnisses
im Verfassungsbeschwerdeverfahren auch dann
auszugehen, wenn sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt auf
eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen
Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen
konnte (vgl. BVerfGE 117, 244 <268> ; BVerfGK 11, 54 <59>; BVerfG, Beschluss der
2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 2008 - 2 BvR 1661/06 -, juris).
Gewichtig im hier maßgeblichen Sinne können neben Grundrechtseingriffen, die das
Grundgesetz unter Richtervorbehalt gestellt hat (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220
<233>; 117, 244 <269> ), auch Eingriffe in andere Grundrechte sein (vgl. nur BVerfGE
110, 77 <86>; BVerfGK 11, 54 <59>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten
Senats vom 15. Juli 2010 - 2 BvR 1023/08 -, NJW 2011, S. 137 <138>; Beschlüsse
der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. März 2006 - 2 BvR 1419/05 -, juris, vom
28. September 1999 - 2 BvR 1897/95 u.a. -, NJW 2000, S. 273, und vom 14. Februar
1994 - 2 BvR 2091/93 -, juris).
Danach kann der Beschwerdeführerin ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse
nicht
abgesprochen werden. Wegen der typischerweise kurzen Dauer der
Untersuchungshaft kann ein Untersuchungsgefangener nach dem regelmäßigen
Geschäftsgang eine stattgebende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu
Maßnahmen in deren Vollzug nicht erlangen, während die Untersuchungshaft noch
andauert. Entfiele das Rechtsschutzbedürfnis für Verfassungsbeschwerden, die
Maßnahmen im Vollzug der Untersuchungshaft betreffen, jeweils mit dem Übergang
d e s Betroffenen in die Strafhaft oder mit einer aufgrund dessen erfolgenden
Verlegung, so fiele ein wirksamer verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz in
diesem Bereich weitgehend aus (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten
Senats vom 15. November 2010 - 2 BvR 1183/09 -, juris). Angesichts der
herausragenden Bedeutung des Zugangs eines Beschuldigten zu dem Verteidiger
seines Vertrauens (vgl. BVerfGE 15, 226 <234>; 34, 293 <302 f.>; BVerfG, Beschluss
der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2008 - 2 BvR 2341/08 -, juris)
und des daraus folgenden Gewichts von Grundrechtseingriffen, die die
Kommunikation mit dem Verteidiger betreffen, entfällt das Rechtsschutzinteresse
auch nicht deshalb, weil der gerügte Grundrechtseingriff nicht die erforderliche
Schwere erreichte.
2. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem
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Grundrecht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip.
a) Maßnahmen, die den freien Kontakt zwischen dem Beschuldigten und seinem
Verteidiger behindern, berühren das Recht auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 49,
24 <55> ), das seine Grundlage im Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip hat (vgl. BVerfGE 26,
66 <71>; 38, 105 <111>; 40, 95 <99>; 65, 171 <174>; 66, 313 <318>; 77, 65 <76>; 86,
288 <317> ). Das Recht auf ein faires Verfahren, dem in vieler Hinsicht auf
unterschiedliche Weisen Rechnung getragen werden kann, in einer den sachlichen
Gegebenheiten angemessenen Weise zu konkretisieren, ist in erster Linie Sache des
Gesetzgebers (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 8.
Juni 2010 - 2 BvR 432/07 u.a. -, NJW 2011, S. 591 <592 f.>). Werden die das Recht
auf ein faires Verfahren ausgestaltenden Vorschriften der Strafprozessordnung
missachtet oder berücksichtigen die Gerichte bei ihrer Auslegung und Anwendung
nicht hinreichend die Tragweite des Rechtsstaatsgebots, so ist das Recht auf ein
faires Verfahren verletzt (vgl. zu den Vorschriften über die Mitwirkung des Verteidigers
BVerfGE 65, 171 <174, 175 f.>; 66, 313 <318, 319 f.> ).
b) Ein solcher Fall liegt hier vor.
aa) Der Gesetzgeber hat das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren
mit § 148 Abs. 1 StPO dahingehend konkretisiert, dass auch dem inhaftierten
Beschuldigten schriftlicher und mündlicher Verkehr mit dem Verteidiger gestattet ist.
Eine - eng auszulegende (vgl. BGHSt 36, 205 <208 f.> m.w.N.) - Ausnahme sieht
§ 148 Abs. 2 StPO lediglich für Fälle des dringenden Verdachts einer Straftat nach
§ 129a StGB, auch in Verbindung mit § 129b StGB, vor. Unabhängig von der Frage,
inwieweit dies Beschränkungen der Häufigkeit telefonischer Kontaktaufnahme
zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger aus Gründen der
Anstaltsordnung zulässt (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. September 1994 - 1
W s 197/94 -, StV 1995, S. 260 f.; KG, Beschluss vom 2. November 2001 - 1 AR
1192/00 u.a. -, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 2. April 2003 - I Ws 118/03 -, juris;
LG Dresden, Beschluss vom 6. September 2011 - 5 Qs 110/11 -, StraFo 2011, S. 393
<394>; zur notwendigen Sicherstellung der Verteidigereigenschaft OLG Köln,
Beschluss vom 12. August 2010 - 2 Ws 498/10 -, NStZ 2011, S. 55), ist danach für die
nicht von § 148 Abs. 2 StPO erfassten Fälle jedenfalls eine Überwachung
stattfindender Telefonate zwischen einem Beschuldigten und seinem nicht selbst tat-
oder teilnahmeverdächtigen Verteidiger ausgeschlossen (vgl. BGHSt 33, 347 <350>
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m.w.N. zur Frage der Überwachung nach § 100a StPO; Meyer-Goßner, StPO, 54.
Aufl. 2011, § 148 Rn. 16; Laufhütte, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008,
§ 148 Rn. 7; Julius, in: Heidelberger Kommentar zur StPO, 4. Aufl. 2009, § 148 Rn. 9;
Lüderssen/Jahn, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 148 Rn. 14).
Die Neufassung des § 119 Abs. 1 StPO durch das Gesetz zur Änderung des
Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl I S. 2274 ), gemäß dessen Art. 8
Abs. 1 in Kraft getreten am 1. Januar 2010, hat daran nichts geändert. § 119 Abs. 1
StPO
n.F.
ermöglicht Beschränkungen
der
Telekommunikation
von
Untersuchungsgefangenen zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder
Wiederholungsgefahr. § 119 Abs. 4 Satz 1 StPO n.F. bestimmt jedoch ausdrücklich,
dass die §§ 148, 148a StPO unberührt bleiben. Damit wird klargestellt, dass
Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO n.F., soweit sie den durch § 148 Abs. 1 StPO
garantierten freien Verkehr des Gefangenen mit seinem Verteidiger einschränken
würden, nach wie vor nur in dem durch § 148 Abs. 2 StPO bestimmten Ausmaß
zulässig sind (vgl. BTDrucks 16/11644, S. 28).
Unabhängig von der durch die angegriffenen Beschlüsse nicht beantworteten Frage,
ob als Rechtsgrundlage der hier umstrittenen Beschränkung § 119 Abs. 1 StPO n.F.
oder der zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidungen im Freistaat Bayern
gemäß Art. 125a Abs. 1 GG als Rechtsgrundlage für haftvollzugsrechtliche
Maßnahmen fortgeltende § 119 Abs. 3 StPO a.F. in Betracht kam (zum
kompetenzrechtlichen
Hintergrund,
zur
Abgrenzung
zwischen
strafverfahrenssichernden und haftvollzugsrechtlichen Eingriffsgrundlagen und zu
möglichen Überschneidungen vgl. BTDrucks 16/11644, S. 23), konnte daher die
angegriffene Versagung des Telefonkontakts zwischen der Beschwerdeführerin und
ihrem Verteidiger jedenfalls nicht - ohne jede Auseinandersetzung mit den Vorgaben
des § 148 StPO - mit der Erwägung gerechtfertigt werden, Telefongespräche
zwischen Gefangenen und ihrem Verteidiger seien allgemein nur unter Überwachung
zuzulassen und daher wegen des damit verbundenen organisatorischen und
personellen Aufwandes aus einem Anlass der von der Beschwerdeführerin
angeführten Art nicht genehmigungsfähig.
bb) Soweit die angegriffenen Entscheidungen sich darauf berufen, dass nicht in der
gebotenen Weise sicherzustellen sei, ob es sich bei einem telefonischen
Gesprächspartner tatsächlich um den Verteidiger handele, ist dies jedenfalls nicht
ohne nähere Darlegung nachvollziehbar. Die gewünschte telefonische Verbindung
kann unter Nutzung der Telefonnummer, die der als solcher ausgewiesene
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Verteidiger angegeben hat, von der Justizvollzugsanstalt selbst hergestellt werden.
Die Annahme, es sei grundsätzlich nicht hinreichend gewährleistet, dass es sich bei
einer auf diesem Wege erreichten Person, die der Verteidiger zu sein behauptet,
tatsächlich um den Verteidiger handelt, bedürfte näherer Begründung, die sich auch
damit auseinanderzusetzen hätte, dass der Strafverteidiger kraft seiner Stellung als
Organ der Rechtspflege nach geltendem Recht einen Vertrauensvorschuss genießt
(vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Januar 2006 - 2
BvR 2/06 -, NJW 2006, S. 1500 <1501>; vgl. auch EGMR, Urteil vom 28. November
1991, S. ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 12629/87 u.a., Rn. 48; Urteil vom 25. März
1992, Campbell ./. Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 13590/88, Rn. 46; Urteil
vom 12. Mai 2005, Öcalan ./. Türkei, Beschwerde Nr. 46221/99, Rn. 133; Urteil vom
13. März 2007, Castravet ./. Moldawien, Beschwerde Nr. 23393/05, Rn. 49 f.; zur
Frage des Missbrauchsausschlusses BGH, Beschluss vom 17. Mai 2011 - 1 StR
208/11 -, NStZ 2011, S. 592).
cc) Die Gerichte haben sich darüber hinaus auch mit der Frage, inwieweit schon die
Darlegungslast, die Beschuldigten beziehungsweise ihren Verteidigern mit der
Beschränkung wechselseitigen Telefonkontakts auf besonders zu begründende
Dringlichkeitsfälle auferlegt wird, mit dem Anspruch auf Vertraulichkeit der
Verteidigerkommunikation in Konflikt gerät, sowie mit der Bedeutung telefonischer
Kontaktmöglichkeiten für die Effektivität des vom Recht auf ein faires Verfahren
umfassten (vgl. BVerfGE 34, 293 <302>; 38, 105 <111 f.>; 39, 156 <163>; 66, 313
<319>; 68, 237 <255>; 110, 226 <253>) und in § 137 StPO einfachgesetzlich
verankerten Rechts auf freie Wahl des Verteidigers nicht auseinandergesetzt.
c) Da die angegriffenen Entscheidungen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß
beruhen, sind sie nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das
Landgericht zurückzuverweisen.
III.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Lübbe-Wolff
Huber
Kessal-Wulf