Urteil des BVerfG vom 10.05.1998

gefahr im verzug, unterbringung, verfassungsbeschwerde, klinik

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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 978/97 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau K.
gegen a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main
vom 17. April 1997 - 20 W 10/97 -,
b) den Beschluß des Landgerichts Wiesbaden
vom 19. November 1996 - 4 T 699/96 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin
Präsidentin Limbach,
die Richterin Graßhof
und den Richter Kirchhof
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473) am 10. Mai 1998 einstimmig beschlossen:
Der Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 17. April 1997 - 20 W 10/97 -
und der Beschluß des Landgerichts Wiesbaden vom 19. November 1996 - 4 T 699/96 -
verletzen Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird
an das Landgericht Wiesbaden zurückverwiesen.
Das Land Hessen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Beschlüsse in einer Unterbringungssache,
die Rechtsmittel wegen prozessualer Überholung zurückweisen.
I.
Die Beschwerdeführerin wurde am 28. September 1996 von einem Polizeibeamten in ihrer
Wohnung nach § 10 des hessischen Gesetzes über die Entziehung der Freiheit
geisteskranker, geistesschwacher, rauschgift- oder alkoholsüchtiger Personen (HFEG) in
Verwahrung genommen und in das Psychiatrische Krankenhaus Eichberg verbracht. In der
dieser Maßnahme vorangegangenen polizeilichen Anordnung wird ausgeführt, die
Beschwerdeführerin stelle eine erhebliche Gefahr für ihre Mitmenschen (ihre zwei Kinder)
und sich selbst dar, so daß die öffentliche und eigene Sicherheit die Unterbringung erfordere;
es sei Gefahr im Verzug. Die Beschwerdeführerin leide unter Schizophrenie, die schubweise
verlaufe und akut aufgetreten sei.
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Am 29. September 1996 beschloß das Amtsgericht nach Anhörung der Beschwerdeführerin
und Vernehmung eines Sachverständigen, die Beschwerdeführerin sei gemäß § 70h FGG
einstweilen, längstens für die Dauer von sechs Wochen, in einer geschlossenen
Krankenabteilung unterzubringen. Zur Begründung führte das Gericht aus, das vorliegende
ärztliche Gutachten erachte eine erhebliche Eigen- und Fremdgefährdung, die auf
schizophrenen Schüben beruhe, für gegeben. Die Unterbringung sei daher anzuordnen; dabei
sei es unbeachtlich, daß die zuständige Verwaltungsbehörde einen entsprechenden Antrag
noch nicht gestellt habe. Dieser Beschluß trat durch Zeitablauf außer Kraft. Die
Beschwerdeführerin wurde spätestens Mitte November 1996 aus der Klinik entlassen.
Bereits am 8. Oktober 1996 hatte die Beschwerdeführerin gegen den Beschluß des
Amtsgerichts sofortige Beschwerde eingelegt. Nachdem sie aus der Klinik entlassen worden
war, beantragte sie, die Rechtswidrigkeit der Unterbringungsmaßnahme festzustellen. Am
19. November 1996 verwarf das Landgericht die sofortige Beschwerde als unzulässig, weil
der
angefochtene
Beschluß
außer
Kraft getreten
sei
und
eine
Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde dem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit fremd
sei.
Die dagegen eingelegte sofortige weitere Beschwerde wies das Oberlandesgericht durch
Beschluß vom 17. April 1997 zurück; es bestätigte die Rechtsauffassung des Landgerichts.
Gegen diese beiden Beschlüsse wendet sich die Beschwerdeführerin mit der
Verfassungsbeschwerde. Sie hält die einstweilige Unterbringung für rechtswidrig und
begründet dies im einzelnen.
Zu der Verfassungsbeschwerde hat sich die Hessische Staatskanzlei geäußert. Sie hält die
Verfassungsbeschwerde für begründet.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG)
und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte
angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
Die für diese Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits
entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die
Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG.
1. a) Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes verbietet es den
Rechtsmittelgerichten, ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel
ineffektiv zu machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" zu lassen. Hiervon muß sich
das Rechtsmittelgericht bei der Antwort auf die Frage leiten lassen, ob im jeweiligen Einzelfall
für ein nach der Prozeßordnung statthaftes Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht.
Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es zwar grundsätzlich
vereinbar, wenn die Gerichte ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben ansehen,
als ein gerichtliches Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer
auszuräum en, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende
Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen. Darüber hinaus
gebietet Art. 19 Abs. 4 GG die Annahme eines Rechtsschutzinteresses aber auch in Fällen
tiefgreifender Grundrechtseingriffe, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen
Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in
welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung
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gegebenen Instanz kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 96, 27 <38 ff.>; vgl. auch Beschlüsse
der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juni 1997 - 2
BvR 941/91 -, EuGRZ 1997, S. 372 ff., vom 26. Juni 1997 - 2 BvR 126/91 -, EuGRZ 1997, S.
374 ff. und vom 12. September 1997 - 2 BvR 176/96 -, RdL 1997, S. 320 f.). Tiefgreifende
Grundrechtseingriffe kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das Grundgesetz -
wie in den Fällen des Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 und 3 - vorbeugend dem Richter
vorbehalten hat.
b) Zu der genannten Fallgruppe gehört auch die Freiheitsentziehung nach den §§ 70h FGG,
10 HFEG.
aa) Auch in derartigen Fällen ist die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt
nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der
Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung gegebenen Instanz
kaum erlangen kann. Vorläufige Unterbringungsmaßnahmen durch einstweilige Anordnung
nach § 70h Abs. 1 FGG sind auf längstens sechs Wochen begrenzt (§ 70h Abs. 2 Satz 1
FGG). In den Fällen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung wird dieser Zeitraum häufig
erheblich unterschritten (vgl. Saage/Göppinger, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 3.
Aufl., 1.2 Rn. 25 mit weiteren Nachweisen, wonach die Hälfte aller öffentlich-rechtlichen
Unterbringungen innerhalb von fünf Tagen, 75% innerhalb von drei Wochen aufgehoben
wurden). Häufig fällt der akute Anlaß der Unterbringungsmaßnahme nach kurzer Zeit wieder
weg, wenn die akuten Auswirkungen der Erkrankung wieder abgeflaut oder die Symptome
der
Erkrankung durch Medikamente unter Kontrolle gebracht worden sind (vgl.
Saage/Göppinger, a.a.O., 5.3 Rn. 2). Der Kammer ist aus einer Vielzahl von Verfahren
bekannt, daß in solchen Fällen Rechtsschutz im Rechtsmittelwege bisher häufig nicht erlangt
werden konnte, weil die Unterbringung im Zeitpunkt der Entscheidung durch die
Beschwerdeinstanz bereits beendet war. Auch im Ausgangsverfahren erging die
Entscheidung
des Landgerichts im Beschwerdeverfahren erst nach Ablauf der
höchstzulässigen Dauer der Unterbringung von sechs Wochen, obwohl die sofortige
Beschwerde bereits binnen zehn Tagen nach Anordnung der Unterbringung eingelegt worden
war.
bb) Eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme stellt einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff
dar, so daß im Einzelfall ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der
beanstandeten Maßnahme bestehen kann.
2. Nach dem dargestellten Maßstab ist die Verfassungsbeschwerde begründet.
Landgericht und Oberlandesgericht haben in den angegriffenen Beschlüssen die
Beschwerde der Beschwerdeführerin ausschließlich aufgrund der Erledigung der
Maßnahme für unbegründet gehalten. Sie haben damit den Anspruch der
Beschwerdeführerin aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
3. Die Entscheidungen beruhen auf dem dargelegten Fehler. Es ist nach dem Vortrag der
Beschwerdeführerin nicht auszuschließen, daß sich die Maßnahme des Amtsgerichts bei
näherer Prüfung durch die Tatsacheninstanz als rechtswidrig erweist.
4. Die angegriffenen Beschlüsse sind daher aufzuheben, die Sache ist an das Landgericht
zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2
BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach
Graßhof
Kirchhof