Urteil des BVerfG vom 21.03.2005

faires verfahren, verfassungsbeschwerde, zustellung, form

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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 975/03 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Dr. F...
gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 2. Mai 2003 - 1 Vollz
(Ws) 9/03 -
und Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Verfahren vor dem
Oberlandesgericht Rostock
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Broß,
Di Fabio
und die Richterin Lübbe-Wolff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473 ) am 21. März 2005 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Verfahren vor dem
Oberlandesgericht Rostock wird zurückgewiesen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die rechtlichen Folgen der Aufnahme einer
Rechtsbeschwerde durch eine gemäß § 24 Abs. 1 RPflG hierzu nicht befugte
Justizbedienstete.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist Strafgefangener. In einem Verfahren, das er gegen die
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Justizvollzugsanstalt wegen Nichtaushändigung eines Buches aus seiner Post
angestrengt hatte, lehnte das Landgericht R. mit Beschluss vom 24. Februar 2003
seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet ab. Gegen diesen
Beschluss erhob der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer am 19. März 2003
zu Protokoll der Geschäftsstelle des Landgerichts Rechtsbeschwerde. Die
Rechtsbeschwerde wurde von einer Justizangestellten als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle aufgenommen. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 2. Mai 2003
verwarf das Oberlandesgericht die Rechtsbeschwerde als unzulässig, weil sie nicht
in der Form des § 118 Abs. 3 StVollzG erhoben worden sei. Für die Aufnahme der
Erklärung über die Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde bei Gericht sei
nach § 24 Abs. 1 Nr. 1 lit. a RPflG ausschließlich der Rechtspfleger zuständig. Die
von einem unzuständigen Beamten aufgenommene Erklärung sei unwirksam. Das
Rechtsmittel des Beschwerdeführers sei jedoch ausweislich der Niederschrift vom
19. März 2003 durch eine Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
erfolgt. Diese sei senatsbekannt keine Rechtspflegerin und auch nicht als solche tätig
geworden. Auf die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wies das
Oberlandesgericht den Beschwerdeführer nicht hin.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung
seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG. Es könne nicht von ihm
erwartet werden, dass er die Unzuständigkeit einer Mitarbeiterin, zu der er in den
Räumen der Geschäftsstelle geführt worden sei und die ihm erklärt habe, dass er bei
ihr die beabsichtigte Rechtsbeschwerde form- und fristgerecht einlegen könne,
erkenne. Das Landgericht habe seine Fürsorgepflicht verletzt. Da die Entscheidung
des Oberlandesgerichts abschließend sei, bleibe ihm nur die Möglichkeit, das
Bundesverfassungsgericht anzurufen. Neben der Aufhebung des angegriffenen
B eschl usses beantragt der Beschwerdeführer, ihm von Amts wegen
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Verfahren vor dem Oberlandesgericht zu
gewähren.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur
Entscheidung angenommen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90,
22 <25 f.> ). Sie ist unzulässig; es fehlt an der Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90
Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
a) Kann ein Beschwerdeführer mit einem Rechtsmittel, für das ihm
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, erreichen, dass seine
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Rechte im Wege des fachgerichtlichen Rechtsschutzes gewahrt werden, so ist
regelmäßig von ihm zu verlangen, dass er diesen Weg beschreitet, bevor er
Verfassungsbeschwerde einlegt (vgl. BVerfGE 10, 274 <281>; 42, 252 <256 f.>; 77,
275 <282> ). Diese Möglichkeit besteht im vorliegenden Fall.
Der Beschwerdeführer geht mit Recht davon aus, dass es ihn in seinen
Grundrechten verletzen würde, wenn ihm aus dem Tätigwerden einer für die
Aufnahme
von Rechtsbeschwerden nicht zuständigen Mitarbeiterin der
Geschäftsstelle ein mit Rechtsbehelfen nicht mehr abwendbarer Rechtsverlust
entstünde. Aus dem grundrechtlichen Anspruch auf ein faires Verfahren folgt, dass
die
Gerichte
aus Fehlern, die ihnen selbst zuzurechnen sind, keine
Verfahrensnachteile für den Rechtsschutzsuchenden ableiten dürfen (BVerfGE 75,
1 8 3 <190
f.>; 78,
123
<126> ; Beschluss des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2004 - 1 BvR 1892/03 - JURIS; Beschluss der
3.
Kammer
des
Zweiten
Senats
des Bundesverfassungsgerichts vom
21. Dezember 1995 - 2 BvR 2033/95 -, NStZ-RR 1996, S. 138 <138>, m.w.N.). Das
bedeutet nicht, dass es von Verfassungs wegen ausgeschlossen wäre, einen
Rechtsbehelf aufgrund von Fehlern als unzulässig zu behandeln, die nicht dem
Rechtsbehelfsführer, sondern bei Gericht unterlaufen sind. Der Grundsatz, dass die
Gerichte aus eigenen oder ihnen zuzurechnenden Fehlern und Versäumnissen keine
Verfahrensnachteile für die Beteiligten ableiten dürfen, erspart es dem
Rechtsschutzsuchenden nicht, nachteilige Folgen gerichtlicher Fehler durch
Inanspruchnahme verfügbarer Rechtsbehelfe abzuwehren. Mindestens dies muss
ihm aber in zumutbarer Weise ermöglicht werden.
b) Da eine durch Unzuständigkeit der aufnehmenden Justizbediensteten bedingte
Unzulässigkeit
der Rechtsbeschwerde nicht auf einem Verschulden des
Beschwerdeführers, sondern auf einem Fehler der Justiz beruht, besteht in derartigen
Fällen die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. BGH NJW
1952, S. 1386); bei rechtzeitiger Nachholung der nicht rechtzeitig wirksam
eingelegten Rechtsbeschwerde ist die Wiedereinsetzung von Amts wegen zu
gewähren (vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, Entscheidung vom 8. November 1982
- 1 Ws 484/82 und 1 Ws 519/82 - JURIS).
c) Eine Wiedereinsetzung scheidet im vorliegenden Fall nicht wegen Fristablaufs
aus.
Der Zugang zum Gericht darf nicht in unzumutbarer, sachlich nicht gerechtfertigter
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Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 <385>; 93, 99 <108> ). Damit sind
den Anforderungen, die an das Verhalten und die Rechtskenntnisse der
Rechtsschutzsuchenden gestellt werden dürfen, insbesondere für Verfahren, in
denen kein Anwaltszwang besteht, Grenzen gesetzt (vgl. BVerfGE 93, 99 <108>).
Zwar schützen die Verfahrensgrundrechte nicht denjenigen, der der Wahrnehmung
seiner Rechte mit vermeidbarer Gleichgültigkeit gegenübersteht. Von einem
Betroffenen kann daher verlangt werden, dass er auch zur Erlangung einer
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die ihm zumutbaren Anstrengungen
unternimmt, wenn er dazu Anlass hat und in der Lage ist (vgl. BVerfGE 42, 120
<126
f.> ;
Beschluss
der
3.
Kammer
des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 6. Oktober 1992 - 2 BvR 805/91 -, NJW 1993, S.
847). Andererseits treffen aber auch die Gerichte Fürsorgepflichten gegenüber dem
Bürger. Ihre Verletzung ist bei der Frage, ob die prozessuale Sanktionierung einer
Verspätung verfassungsrechtlich vertretbar ist, zu berücksichtigen. Führen dem Staat
zuzurechnende Fehler des Gerichts zu einer Behinderung des ersten Zugangs zu
Gericht, ist die Wiedereinsetzung durch verfassungskonforme Gesetzesauslegung zu
erleichtern
(vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 21. November 1989 - 2 BvR 1089/89 -, JURIS;
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom
13. April 1994 - 2 BvR 2107/93 -, NJW 1994, S. 1856; Goerlich, NJW 1976, S. 1526
<1527>).
Bei einer diesen Grundsätzen entsprechenden Anwendung des § 45 Abs. 1 StPO
kann der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand erlangen.
Jedenfalls in den Fällen, in denen der Wiedereinsetzungsgrund, wie hier, in einem
den
Gerichten zuzurechnenden Fehler liegt, fordert der Grundsatz fairer
Verhandlungsführung eine Belehrung des Betroffenen über die Möglichkeit der
Wiedereinsetzung (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 2001 - 2 BvR 1471/01 - JURIS; Maul,
in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 45 Rn. 18; Löwe-Rosenberg-
Wendisch, StPO, 25. Aufl. 1999, § 44 Rn. 63; Geppert, Die "qualifizierte" Belehrung,
in: FS Karlheinz Meyer, Berlin 1990, S. 105; Schünemann, MDR 1969, S. 101 <103>).
Es ist Sache der Fachgerichte, zu entscheiden, ob wegen der unterbliebenen
Belehrung des Beschwerdeführers bereits die Frist zur Wiedereinsetzung in die
versäumte Frist zur Einlegung einer zulässigen Rechtsbeschwerde nicht zu laufen
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begonnen hat oder ob davon auszugehen ist, dass diese Frist in dem Zeitpunkt zu
laufen begann, in dem der Beschwerdeführer Kenntnis von der Unzulässigkeit seiner
Rechtsbeschwerde und den Gründen dieser Unzulässigkeit erhielt. Im letzteren Fall
wäre
auch
die Wiedereinsetzungsfrist inzwischen abgelaufen. Da der
Beschwerdeführer jedoch über die Möglichkeit, Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zu erlangen, erst durch den vorliegenden Beschluss in der notwendigen Weise
informiert wird, beginnt jedenfalls die Frist zur Wiedereinsetzung in die
Wiedereinsetzungsfrist erst mit der Zustellung dieses Beschlusses zu laufen (vgl.
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom
11. November 2001 - 2 BvR 1471/01 - JURIS). Der Beschwerdeführer kann daher
innerhalb einer Woche seit Zustellung dieses Beschlusses durch eine von einem
Rechtsanwalt unterzeichnete Schrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle beim
Landgericht Rostock eine zulässige Rechtsbeschwerde einlegen, indem er
gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt (§ 118 Abs. 1 Satz 1
und Abs. 2, § 120 Abs. 1 StVollzG, § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO) und zwar sowohl
hinsichtlich der versäumten Rechtsbeschwerdefrist als auch vorsorglich im Hinblick
auf die Wiedereinsetzungsfrist. Hierzu ist ihm rechtzeitig Gelegenheit zu geben.
2. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, der sich auf das
fachgerichtliche Verfahren bezieht, ist nicht statthaft. Das Bundesverfassungsgericht
kann nach § 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Wiedereinsetzung nur hinsichtlich der Frist
zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) gewähren.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Broß
Di Fabio
Lübbe-Wolff